Die Farbe meiner Lüge

Die Selbstlüge. Jeder kennt sie. Wir alle blicken ihr Tag für Tag ins Gesicht. Sie zeigt sich uns meist komplett unverkleidet, nackt; wie ein guter Freund lächelt sie uns offen ins Gesicht.
Wie ein Geliebter, der uns von Zeit zu Zeit den nötigen Raum für unsere Fehler und Macken gewährt, um uns vor uns selbst zu schützen. Dennoch sprechen wir nicht gerne offen über die innersten Kämpfe zwischen Kopf und Herz. Die Bildserie „Die Farbe meiner Lüge“ versucht das Gefühl der Selbstlüge, das wir alle teilen, zu fassen. Wo die Sprache an ihre Grenze stößt, ermöglicht das visuelle Medium des Polaroid - als Momentaufnahme ohne Bearbeitungsmöglichkeit - den Porträtierten ganz nah zu kommen. Denn wenn wir diese kleine Lüge, welche sich gerade wieder in unser Leben schleichen will, bei der Hand fassen, dann treibt sie uns instinktiv hundert Farben ins Gesicht.

"Sobald ich mir etwas vornehme, wird es sofort erledigt"

Savannah, 20, Berlin Neukölln
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Ich verschiebe wichtige Angelegenheiten so weit nach hinten, bis ich unter so viel Zeitdruck stehe, dass sie erledigt werden müssen. Hierbei handelt es sich nicht nur um den längst überfälligen Besuch beim Bürgeramt, sondern auch um die vorzeitige Beendigung meiner Semesterarbeit.

Dabei starte ich meist total motiviert in eine neue Aufgabe hinein. Voller Enthusiasmus plane ich jedes Detail, schreibe mir Notizen... Doch dann passiert das Leben und ungefähr 1000 unentbehrlichere Dinge drängeln sich in der gedanklichen Liste mit dem Arbeitstitel „zu erledigen“ vor meine eigentliche Arbeit.

Mir wird immer sehr schnell bewusst, wenn ich "es" gerade wieder getan habe. Diese Prokrastination. Ich ärgere mich dann und verspreche mir im selben Atemzug, beim nächsten Mal alles in einem Schritt fertigzustellen. Immer wieder verspreche ich es mir aufs Neue. Aber die Wahrheit ist: ich arbeite unter diesem ganz bestimmten, nervenzerreibenden, zeitlichen Druck am effektivsten. Und so belüge ich mich immer wieder selbst, wenn ich mir vornehme, im Angesicht der nächsten Deadline alles anders zu machen.

Ich verbinde damit die Farbe Gelb...

"Das ist meine letzte Zigarette"

Konstantin, 24, Berlin Moabit
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Ich nehme mir oft vor, am Wochenende nicht zu rauchen und da ich auch in der Woche nicht rauche, heißt das quasi, dass ich mit dem Rauchen komplett aufhöre. Dies gestaltet die Sache dann doch um einiges schwerer, vor allem wenn man sich abends mit Freunden trifft und dabei die ersten Tropfen Alkohol fließen. Insbesondere, wenn man umgeben ist von Freunden, die ab Freitag Abend zu Kettenrauchern mutieren. Wenn man dann eine angeboten bekommt, steht diese eine ja in keiner Relation zu den 5, die die anderen in den letzten 30 Minuten verpafft haben. Da wird das schlechte Gewissen schnell mal von der Lust erdrückt.

Es wären bei mir zwei Farben. Einmal am Abend selbst, diese ist eher unbeschwerter, heimtückisch warm. So als täte man etwas Verbotenes, was aber im Kontext der aufgeheizten Stimmung bezüglich eventueller Ausgehpläne schnell in Vergessenheit gerät. Da beschleicht mich ein dunkles Lila. Das könnte eine Warnung sein, wird dann aber eher als wohliger Schleier wahrgenommen.

Aber am nächsten Morgen, wenn das eigene Zimmer durch die verrauchten Klamotten mal wieder nach abgestandener Asche riecht, trifft es mich wie ein dunkelblauer,richtig fieser, heftiger Schlag in die untere Bauchregion.

"Jeder Smalltalk ein Verkaufsgespräch"

Katharina, 22, Berlin Mitte
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Nennen wir es Schutzschild - positiv ausgedrückt. Nennen wir es verzeihlich - positiv ausgedrückt. Wenn ich mich wieder in dieser Position befinde, am Abend auf einer Party, am Mittag in einem wichtigen Meeting, und mich dabei ertappe, wie ich den anderen von mir verhasste Eigenschaften verzeihe. Mich ihren Ideologien zugunsten - wirtschaftlich-praktisch oder einfach sozial-kompatibel gedacht - anpasse und mich selbst dabei vergesse. Dann ist es wieder so weit: Ich belüge mich selbst. Lasse Prinzipien stehen, die mich zu dem machen, was ich bin. Warum ich das mache? Für die Liebe der Anderen? Das große Netzwerk aus wichtigen Leuten? Die Fragen die mich dann zweifeln lassen:

Und wenn die anderen mich dennoch nicht lieben? Weil sie merken, dass das was ich vorgebe zu sein, gar nicht ich bin, dann kann ich mich nicht mal mehr selbst lieben, wenn gar nichts mehr von mir übrig ist. Oder wie Beyonce sagt: „If I loose myself I loose it all“.

Das Gefühl, wenn ich meine innere Stimme unterdrücke...

"Morgen fange ich an"

Florian, 26, Berlin Kreuzberg
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Ich belüge mich meistens dann selbst, wenn ich mich zu etwas nicht aufraffen kann. Dabei ist mein Problem nicht unbedingt der innere Schweinehund, sondern die Option, etwas auf einen anderen Zeitpunkt verschieben zu können. Ich bin in diesen Momenten fest davon überzeugt, dass ich es morgen angehen werde, obwohl ich ganz genau weiß, dass es am nächsten Tag wieder genau so ablaufen wird. Selbst dann, wenn ich mir etwas fest vorgenommen habe, schaffe ich es noch, die Sache weiter hinauszuschieben. Das geht dann so lange, bis ich wirklich unter Zeitdruck gerate und es keine andere Möglichkeit mehr gibt, als die Sache anzugehen. Dabei geht es nicht einmal um wichtige Dinge - die erledige ich in der Regel rechtzeitig. Meistens mache ich mir selbst etwas vor, wenn es um Dinge geht, die eigentlich schnell erledigt wären, wie z.B. Aufräumen, Einkaufen oder jemanden anrufen.

Natürlich weiß ich, dass ich mich selbst belüge

"Es ist nicht meine Schuld. Ich gab mein Bestes"

Meri, 21, Berlin Charlottenburg
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Ich belüge mich andauernd selbst. Wenn etwas schief läuft, sage ich mir, dass ich alles gemacht habe, was ich hätte machen können. Ich beschuldige immer die falsche Zeit, den falschen Ort oder die falsche Person und sehr selten mich selbst. Das ist der einfachste Weg für mich, weil mir die Idee, dass ich etwas machen könnte und nicht gemacht habe - aus Angst oder Scham - peinlich ist. Diese Erkenntnis kommt meist, wenn ich Zeit habe, über mein Verhalten nachzudenken. Es trifft mich wie eine Welle und fühlt sich an, als würde ich ertrinken. Danach stelle ich mir immer die Frage: Warum habe ich das gemacht?

Weil es einfacher ist, die Verantwortung für meine Fehler den anderen zu übergeben.

Ein kleiner Teil von mir weiß schon am Anfang, dass ich mich selbst belüge...

Farben können viel über unsere Persönlichkeit aussagen. Was sagen die Farben, die wir mit unserer Selbstlüge assoziieren, über uns aus? Gibt es einen Unterschied zwischen einer blauen und einer grünen Lüge? Wiegt eine rote Lüge schwerer als eine gelbe und kann eine Lüge überhaupt eine Farbe haben, und ist das nur ein anderer Weg, unsere Gefühle in Worte zu fassen?

Der Schweizer Psychologe Carl Joseph Jung versucht, Menschen anhand von vier Farbkategorien zu unterscheiden. Im Spannungsfeld zwischen introvertiert und extrovertiert, zwischen aufgaben- und gefühlsorientiert, zwischen Blau, Rot, Grün und Gelb. Doch ob wir uns selbst und unsere Lügen in diesem Schema wiederfinden bleibt am Ende wohl Interpretationssache.

Die Lügen der Anderen begegnen uns selbst immer wieder. Im Kern sind sie sich alle sehr ähnlich, doch die Art wie wir mit ihnen umgehen und die Farbe, die wir assoziieren, könnten unterschiedlicher nicht sein. Vielleicht ist die Farbe unserer Lüge auch der Schlüssel zur Bewältigung, vielleicht ist das Wichtigste, dass wir uns überhaupt mit unseren Lügen auseinandersetzen.


Impressum:

Autoren
Texte, Bilder und Audio:
Florian Brell
Meri Khazaradze
Katharina Korbjuhn
Savannah Thümler

Ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin in Zusammenarbeit mit dem Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ).



Potsdam, Berlin ­ November, 2015

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