zweifelhaft glauben

Vom Pastor zum Folkmusiker

D ie Musik klingt wie Folkmusik klingen muss: ein rhythmisches Banjo, Glockenspiel, Akustikgitarre, ein wenig Percussion. Alles melodisch arrangiert. Sanft und melancholisch formt der mehrstimmige Gesang die Worte. Worte, die dann aber nicht so richtig zu Folk passen, sondern eher zu erhabener Orgelmusik und einem gotischem Kirchenschiff: "Lobet den Herrn und preiset ihn, alle Völker! Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns."

Bens Glaube und seine Musik sind nicht zu trennen. Der Glaube präge seine Identität und damit auch seine Musik, die genauso von Liebe und Herzschmerz erzählt, wie von der Auferstehung Jesu. Für Ben passt das ohne Probleme zusammen, weil er mit der Musik das ausdrücke, was ihn persönlich betrifft. Und beides gehöre eben dazu, auch wenn er oft am Glauben zweifle.

Ich habe die Welt wie durch eine Brille gesehen. Dann habe ich gemerkt, dass ich eine neue brauche. Ben Seidl

Aufgewachsen in einer christlich konservativen Familie in den USA stand es für ihn lange Zeit außer Frage, dass die Bibel wahr ist und zwar Wort für Wort. Erst durch sein Studium, das ihn später nach Berlin führte, kamen die Zweifel. Die Fragen, die in dieser Zeit aufgeworfen wurden, haben seinen Kinderglauben, wie er ihn selbst bezeichnet, stark ins Wanken gebracht.


Dennoch entschied er sich nach dem Studium zunächst dazu, Pastor einer kleinen Berliner Freikirche zu werden. Aber seine Leidenschaft bleibt die Musik. Selbst als Pastor schreibt er viele Lieder und tritt immer öfter in den Cafés und Bars Berlins auf. Immer mehr realisiert er, dass die Musik das ist, was er eigentlich machen will, und er wagt den Schritt ins reine Musikerleben.

Probe von roemer

Zweifel und Whisky

Seinen Job als Pastor gab er auf, den Glauben jedoch nicht. Die zweifelnden Fragen aus dem Studium haben aber nie eine endgültige Antwort erhalten. Vor drei Jahren wollte er das ändern: “Ich dachte mir: Ich bin dreißig Jahre alt. Ich war Pastor, habe Theologie studiert und bin mit dem Christentum aufgewachsen. Ich wollte eine Entscheidung treffen, ist das alles wahr oder nicht?”


Ich wollte die Grenzen meines Glaubens finden und brechen. Und das habe ich gemacht. Ben Seidl

Das Ziel war, alles zu hinterfragen und auf den Prüfstand zu stellen: Ist die Bibel wahr? Kann es sein, dass Jesus’ Geschichte sich tatsächlich wie in der Bibel abgespielt hat? Keine leichten Fragen, wenn der Glaube so eng mit der eigenen Identität verknüpft ist. Im Nachhinein sei es ein schmerzhafter, aber befreiender und hilfreicher Prozess gewesen.

In diesem Prozess haben ihm zwei Dinge geholfen: zum einen Freunde, mit denen er sich regelmäßig auf ein Glas Whisky und zum Philosophieren und Diskutieren traf, mit denen er ehrlich und offen seine Fragen und Zweifel besprechen konnte. Zum anderen die Musik, mit der er seine Gedanken und Gefühle ordnen und auf andere Weise ausdrücken konnte.

Obwohl nicht alle Fragen geklärt wurden, entschied er sich am Ende des Prozesses dafür, die Geschichte von Jesus zu glauben. Er hat zwar immer noch Zweifel, aber er hält an der Entscheidung fest. Auch weil ihm ohne den Glauben die Hoffnung fehlen würde, sagt er. Zweifel gehören für Ben seit dem zu einer gesunden Lebenseinstellung dazu. Das krampfhafte Festhalten an festgefahrenen Wahrheiten hingegen nicht.

Zweifel sind herzlich willkommen. Ben Seidl


Unabhängig davon, was man vom christlichen Glauben oder von Religion generell halten mag, kann man aus Bens Prozess eine Lektion mitnehmen. Es ist nicht nur das Zweifeln am Glauben - es ist die Lebensphilosophie des kritischen Hinterfragens.


Nur wenn man hinterfragt, wächst man. Ben Seidl

Welche Meinung ist wahr, welcher Glaube ist wahr? Darauf hat Ben keine Antwort. Aber allein die Einschränkungen der Sprache sorge dafür, das jeder seine eigene Wahrheit habe. “Meine Wahrheit ist nicht deine Wahrheit” ist eine große Erkenntnis, die er durch das Hinterfragen erlangt hat.

Auch Dinge, die an der Oberfläche augenscheinlich nicht wahr sind, enthalten wahre Elemente. Stempelt man jetzt alles als nicht wahr ab, tut man den wahren Elementen unrecht. Die letzte Lektion des gesamten Prozesses: “Wahrheit ist nicht immer greifbar. Ebenso wenig kann ein Einzelner die absolute oder endgültige Wahrheit alleine erkennen.”


Impressum:

Autoren
Texte, Bilder und Video:
John Falkirk, Kateryna Gamolina, Michael Tran Xuan, Christian Wilker

Ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin in Zusammenarbeit mit dem Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ).


Potsdam, Berlin ­ November, 2015

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