Einleitung


"Winterkoller", "Frühjahrsmüdigkeit", "Wonnemonat Mai": die Abhängigkeit unseres körperlichen Wohlbefindens von den Jahreszeiten scheint bis heute ungebrochen. Schaut man sich in der neueren medizinisch-biologisch-demographischen Literatur um, erhält man sogar den Eindruck, dass die saisonalen Einflüsse unterschwellig noch immer weiter stärker seien, als wir uns dessen gemeinhin bewusst sind. Da gibt es neben erwarteten Standardwerken wie "Seasonal variation in health and diseases" (Allan 1994) Publikationen zu "Is there an association between season of birth and reading disability?" (Flynn 1996), "Atopy and season of birth" (Nilsson 1996), "The effects of temperature on human fertility" (Lam 1996) und "Estimating seasonality effects on child mortality" (Muhuri 1996 [im Entwicklungsland Bangladesh]).

Weniger erstaunt dagegen, dass sich Historiker-Demographen der saisonalen Themen schon immer verstärkt angenommen haben, waren unsere - vor allem bäuerlichen - Vorfahren doch weit unmittelbarer von den Jahreszeiten abhängig und durch sie geprägt als wir in unseren Tagen. Historisch-demographische Arbeiten tragen heute gerne Titel wie "Seasonality of work, religion and popular customs: the seasonality of marriage in the nineteenth- and twentieth-century Netherlands" (Van Poppel 1995), "Seasonality of conceptions as a source for historical time-budget analysis: tracing the disappearance of holy days in ealry modern England" (Voth 1994) oder - klassisch - "Seasonal infant mortality in London, 1870-1914" (Mooney 1994) und "Le mois de naissance comme facteur de survie des enfants" (Breschi 1994).


Der vorliegende Beitrag geht von ein paar simplen Beobachtungen aus. Wen würde erstaunen, dass Frauen und Mütter in traditionellen Agrargesellschaften - hierzulande also bis weit ins 19. Jahrhundert hinein - im Sommerhalbjahr üblicherweise mehr zu tun hatten als im Winterhalbjahr? Da traf es sich gut, dass in jenen Tagen spiegelbildlich zur saisonal unterschiedlichen Arbeitsbelastung üblicherweise im flaueren Winterhalbjahr bedeutend mehr Kinder zur Welt kamen als im arbeitsintensiven Sommerhalbjahr. Die Folge dieses relativ ausgewogenen Verhältnisses war eine - für jene Zeit - moderate Mütter- und Kindersterblichkeit.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts oder kurz danach begannen vielerorten in Deutschland die Müttersterblichkeit, die Säuglingssterblichkeit und die Totgeborenenraten gleichzeitig markant anzusteigen, und zwar keineswegs etwa nur in den damals rasch anwachsenden Städten mit ihren anfänglich völlig ungenügenden Infrastrukturen. Je explosionsartiger damals Industrialisierung und Urbanisierung vor sich gingen, umso mehr wucherten die städtischen Markteinzugsbereiche in die ländliche Umgebung aus. Insbesondere die verkehrsmässig günstig gelegene Höfe, Weiler, ganze Dörfer gerieten in diesen Sog vermehrter Nahrungsmittelproduktion: mehr Milch, mehr Brot, mehr Eier, mehr Gemüse, mehr Kartoffeln, mehr Zucker für immer mehr städtische Mäuler. Aufgrund der althergebrachten bäuerlichen Arbeitsteilung ging diese agrare Zusatzproduktion indes vor allem auf das Konto der Frauen. Nicht nur wurde ihr Arbeitstag länger und länger, sondern das seit je arbeitsintensive "Sommerhalbjahr" begann immer früher und endete immer später. Das traditionell ausgewogene Verhältnis zwischen Frauenarbeit und Mutterpflichten geriet aus den Fugen. Vom katastrophalen Ergebnis erfuhren wir oben.

Die hauptsächlich betroffenen Frauen und Mütter waren indes weder willens, sich à la longue wehrlos auf die Schlachtbarnk führen zu lassen, noch muteten sie dieses Schicksal ihren Neugeborenen zu. Es gab für sie zwei Möglichkeiten, den Boom zu stoppen und zu revidieren. Entweder kehrten sie zu den alten Verhältnissen zurück und scherten aus den neuen Produktionsverhältnissen aus. Oder sie reduzierten die Anzahl Schwangerschaften und Geburten. Die Alternative war insofern realistisch, als unsere Vorfahren nachweislich über die notwendigen geburtenbeschränkenden Kenntnisse verfügten. Allerdings gelangten diese bis damals kaum in grösserem Ausmass zur Anwendung. Jetzt war eine massive Motivation hierfür gegeben. Das Ergebnis: von einer Generation zur nächsten sank gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Geburtenzahl drastisch, und mit ihr sanken die Müttersterblichkeit, die Säuglingssterblichkeit, die Totgeborenenrate. - Kenntnisse allein genügen nicht. Sie bleiben steriles Wissen, solange die Motivation zur Umsetzung fehlt.


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Material und Methode
Gleichzeitiger Anstieg der Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie der Totgeborenenrate um 1860
Saisonale Geburtenverteilung in der traditionellen Agrargesellschaft (Schwalm, 1650-1699)
Ausgewogenheit zwischen der saisonalen Geburtenverteilung und der saisonalen Arbeitsbelastung
Kräuterbuch von 1557 mit Hinweis auf die kontrazeptive Wirkung von Sevenbaumblättern
Unterschiedliche saisonale Arbeitsbelastung von Bäuerinnen je nach Kulturareal-Nutzung
Jahresarbeitszeit auf einem Hof mit traditioneller Nutzung (Selbstversorgung)
Jahresarbeitszeit auf einem Hof mit marktorientierter Intensivnutzung
Kartographischer Überblick: expandierende Markteinzugsbereiche von Stuttgart und Heilbronn
Saisonale Arbeitsbelastung auf einem Hof mit marktorientierter Spätkartoffel-Produktion
Starker Anstieg des Zuckerkonsums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Saisonale Arbeitsbelastung auf einem Hof mit marktorientiertem Zuckerrüben-Anbau
Konflikt zwischen den neuen saisonalen Arbeitsbelastungen und der traditionellen saisonalen Geburtenverteilung
Durchbruch der Geburtenbeschränkung gegen Ende des 19. Jahrhunderts


Der Beitrag ist eine der Quintessenzen aus jahrelanger Forschung und Lehre in Historischer Demographie. Zusammen mit weiteren Quintessenzen, mit Quellen- und Methodenbeschreibungen, Literaturzusammenstellungen, zahlreichen Figuren und Abbildungen wurde er in etwas anderer Form in die 1995/96 erschienene CD-ROM Historische Demographie I aufgenommen. Wer sich folglich noch weiter in die Materie vertiefen möchte, wird dort fündig. Sämtliche hier wiedergegebenen Illustrationen gehen auf die CD-ROM zurück. Bei jeder Abbildung oder Figur ist die exakte Ursprungsstelle auf der CD vermerkt und somit leicht auffindbar.


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