Passivität und Kontrolle. Grenzen und Verschiebungen.
Im bisherigen Verlauf dieser Arbeit habe ich mich möglichst nah an den konkreten Gegenstand meiner Untersuchung gehalten, an den Raum und das Geschehen in diesem Raum. Zu diesem Vorgehen haben mich mehrere Gründe veranlasst. Bevor ich mit dieser Arbeit begonnen habe, ließ sich mein Verhältnis zum Stadtraum auf zwei weitgehend getrennten Ebenen verorten; einerseits habe ich in der Stadt gewohnt, bin durch sie durch gefahren und gegangen und habe mich auf ihren Straßen und Plätzen aufgehalten. Andererseits habe ich mich mit Stadtsoziologie und Stadtentwicklung beschäftigt, an Seminaren und Vorlesungen teilgenommen und öffentliche Veranstaltungen wie das Berliner Stadtforum oder die Projektwerkstätten besucht. Die Erfahrungen auf diesen beiden Ebenen haben sich gelegentlich überschnitten, z.B. wenn ich Freunden und Bekannten die Stadt gezeigt habe, oder wenn ich Zeit und Gelegenheit hatte, Ereignisse oder Prozesse wie etwa die Baumaßnahmen am Potsdamer Platz oder die Veränderungen im Osten der Innenstadt zu verfolgen. Meistens aber sind meine Erfahrungen im Stadtraum für sich geblieben, ebenso wie die Auseinandersetzung mit Problemen der Stadtentwicklung und des öffentlichen Raums, die sich in einer eigenen Sphäre abgespielt hat – verstärkt sicher auch durch die vor allem US-Amerikanische Literatur: Die Global City[32], das Ghetto[33], die Dual City[34], Disneyworld[35] und in gewissem Maße auch die Mall[36] – allesamt interessante Orte, die aber nicht direkt mit meinem Alltag hier in Berlin zu tun haben. Diese Distanz zwischen alltäglichem Erleben und wissenschaftlicher Reflexion sollte in dieser Arbeit überbrückt und Erfahrung und Reflexion miteinander verknüpft werden.
Ein weiterer Grund für die Nähe zum Geschehen ist für mich die Notwendigkeit, nicht nur ein oder zwei Dimensionen dieses Raumes zu analysieren, beispielsweise die architektonische Gestaltung und ihr Zusammenspiel mit der kommerziellen Nutzung, sondern die Komplexität dieses Raumes und seiner Nutzung zu erfassen; zu sehen und zu beschreiben was für unterschiedliche Dinge an diesem Ort passieren, wie lange sie bestehen, wann sie bestehen und anderes mehr.
Aus meiner Perspektive ist eine möglichst dichte Beschreibung dessen, was ich beobachtet habe, der beste Weg, um diese Komplexität nicht nur zu erfassen, sondern sie auch nachvollziehbar zu machen; nachvollziehbar und kritisierbar zu machen, auf welcher Basis ich arbeite, analysiere und bewerte.
Als letzten Grund für die Nähe zum Geschehen und den Verzicht auf eine umfassende Auseinandersetzung mit Forschungsliteratur im bisherigen Teil der Arbeit möchte anführen, dass die Fragestellung dieser Arbeit eben nicht aus einer abstrakten Fragestellung nach dem Muster Wie beeinflusst die räumliche Gestaltung des Marlene-Dietrich-Platz dort stattfindende soziale Prozesse
entstanden ist; sie ist vielmehr das Resultat der Auseinandersetzung mit einem konkreten Ort und den im Zusammenhang mit diesem Ort gemachten Beobachtungen und Erfahrungen. Bruno Latour charakterisiert einen Teil der Wissensproduktion der Moderne – die Wissenschaft – als ‚reinigend’ oder Dichotomien aufbauend und einen anderen Teil – die Kultur – als ‚übersetzend’ oder hybride Strukturen produzierend; dieses Charakteristikum der Wissensproduktion der Moderne, diese Spaltungen in Wissenschaft und Kultur, in Wahrheit und Ideologie, in Technik und Kunst – verfestigen Herrschaft und bestehende Machtverhältnisse in Wissenschaft und Gesellschaft.[37] Im von Latour beschriebenen Sinne will ich hier nicht gereinigtes Wissen produzieren, sondern anhand meiner Beobachtungen auch den Verbindungen zwischen verschiedenen Ebenen nachspüren, zwischen den Dingen (dem Geländer auf dem Vorplatz von Musical Theater und Casino), dem Raum (der als mediterrane Piazza präsentiert wird) und den Menschen (der alten Dame die sich auf die untere Stange des Geländers zwängt) übersetzen und sehen, was für Strukturen sich durch den Marlene-Dietrich-Platz ziehen, wie sie sich in verschiedenen Konstellationen abbilden und verändern, bewegen und an verschiedene Umstände anpassen.
Allerdings gehe ich hier nicht so weit wie Latour dies am Ende von We Have Never Been Modern unter dem Titel The parliament of Things
vorschlägt [38] und versuche nicht, die Positionen der verschiedenen Akteure einzunehmen – ich schreibe aus der Position eines sich auf dem Platz aufhaltenden, körperlichen Menschen, der, im Sinn von Henri Lefebvre [39], anhand seines Erlebens, seiner Beobachtungen und mit Hilfe theoretischer Konstrukte die konkrete Produktion seiner physisch erlebten, sozial gedeuteten und wissenschaftlich-konzeptuell aufgearbeiteten Umwelt rekonstruiert.
Ich benutze in meiner Beschreibung des Geschehens am Marlene-Dietrich-Platz den Begriff der Konstellation, um die unterschiedlichen zur Produktion des Raums beitragenden Faktoren (die Überwachung durch Videokameras, die Anwesenheit von Jugendlichen, den McDonald’s) miteinander zu verknüpfen. Um nicht nur eine einzelne Konstellation zur Bewertung des Geschehens am Marlene-Dietrich-Platz heranzuziehen, wird es notwendig zu abstrahieren, die verschiedenen Konstellationen zusammenzufassen und zu sehen, welche Art von Einflüssen sich wie und mit welchen Konsequenzen an diesem konkreten Ort bündelt. Um diese Abstraktion deutlicher und übersichtlicher zu machen, soll das folgende Schaubild dienen.
Jede der von mir beschriebenen Konstellationen bildet sich im Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die den in Grafik 1 dargestellten vier Dimensionen Zeit, Raum, Gesellschaft und Körper zugeordnet werden können. Die zeitliche Dimension bestimmt, wann, wie oft und wie lange eine Konstellation gebildet und besteht. Ist sie an einmalige Bedingungen geknüpft, oder tritt sie regelmäßig auf; ist sie vielleicht beinahe permanent und fast immer wirksam? In Bezug auf die räumliche Dimension lässt sich einerseits festlegen, wo genau die Konstellation sich bildet und wie ausgedehnt der für diese Konstellation relevante Raum ist; andererseits lässt sich aus der Lokalisierung und Ausdehnung auch ableiten, welche physischen Charakteristika diesen Raum ausmachen: Was für Barrieren teilen ihn auf und wie sind diese Barrieren beschaffen, wird er durch hartes, durchsichtiges Glas oder eine nachgiebige Wasserfläche oder eine asphaltierte Straße von einem anderen Raum getrennt? Was finden sich in diesem Raum für Gegenstände, ist er eng und geschlossen oder weit und offen?
Die gesellschaftliche Dimension umfasst ein sehr weites Feld und ließe sich wahrscheinlich auch feiner aufteilen – damit die Grafik nicht noch komplexer wird habe ich aber von einer weiteren Aufteilung abgesehen.[40] In der hier verwendeten Form umfasst die gesellschaftliche Dimension sowohl das, was Lefebvre als soziale Praktiken und implizite Normen beschreibt (Representational spaces
) als auch das, was er als Repräsentationen oder Konzepte von Raum definiert (Representations of space
)[41] – wie gestaltet sich ihr Einfluss auf die Bildung von räumlichen Konstellationen, wie beeinflussen ästhetische Ideale (z.B. in Bezug auf architektonischen Stil), Normen und Hierarchien die Produktion des Geschehens am Marlene-Dietrich-Platz; welche Bedeutung wird Handlungen beigemessen und wie kann sich wer an der Gestaltung des Raums und am Handeln im Raum beteiligen?
Über die körperliche Dimension erschließt sich den Individuen der Raum; auch ich erlebe den Marlene-Dietrich-Platz und das Geschehen mit meinem Körper, den Sinnen, in der Bewegung und im Ruhen. In gewisser Weise ist der Körper in seinem Bezug zu Gegenständen und in seinem Zusammensein mit dem Denken und Fühlen zentral – im Körper finden sich die Dimensionen Zeit, Raum und Gesellschaft wieder, sie bilden ihn, und die Körper wiederum leben und produzieren diese Dimensionen. Mit der Spaltung zwischen Körpern und physischer Umwelt, mit der Spaltung der Körper von Normen, Konzepten und Ideen wird die Problematik in den hier beschriebenen Konstellationen produziert und in diesen Konstellationen scheint auch der Widerstand gegen diese Spaltung auf.
Anhand des Körpers und seiner tätigen Beziehung zur Umwelt, zum Stadtraum, zu bestimmten Orten und zu den Menschen und Symbolen an diesen Orten entwickeln die in dieser Arbeit verwendeten AutorInnen ihre Kritik am Stadtraum, und dies ist auch ein Grund für die Auswahl der in dieser Arbeit verwendeten Theorien – sie haben mir geholfen, das Zusammenspiel zwischen den (körperlichen) Akteuren und ihrer Umwelt zu verfolgen und dieses Zusammenspiel in bestimmten Konstellationen zu erfassen. In den jeweiligen Konstellationen steht eine Vielzahl von Faktoren zueinander in Beziehung, und erst im Zusammennehmen dieser verschiedenen Faktoren oder Aspekte kann ich den Gehalt des betreffenden Geschehens deutlich machen.[42]
Was ist nun der Gehalt des Geschehens, was macht die verschiedenen Konstellationen und damit auch den Marlene-Dietrich-Platz als Ort aus? Die Begriffe im Zentrum der Grafik verweisen auf die unterschiedlichen, im Verlauf dieser Arbeit herausgearbeiteten Konstellationen, sie sollen damit das Geschehen am Ort aus verschiedenen Richtungen erfassen. Der Aufenthalt auf dem Marlene-Dietrich-Platz kann von den verschiedensten Aspekten geprägt sein, je nachdem wann und wo sich das Geschehen abspielt und was für Menschen gerade da sind. Nichtsdestotrotz ist die deutliche Mehrzahl der erfassten Konstellationen geprägt durch die an Konsum, Marketing und Kontrolle orientierte Gestaltung dieses Ortes.
Ich bin in dieser Untersuchung und in meinen Beobachtungen immer wieder von den konkreten Ereignissen vor Ort ausgegangen, ich möchte sogar betonen, das ich meine Beobachtungen mit einer optimistischen Grundhaltung durchgeführt habe, in der Erwartung, hier einen, zwar eingeschränkten, aber zumindest in der Einschränkung vielfach gebrochenen öffentlichen Raum zu finden. Ich habe dafür auch immer wieder Hinweise gefunden und viele von diesen auch in dieser Arbeit vorgestellt; Jugendliche, jung Gebliebene und noch ein paar andere setzten sich bei gutem Wetter auf den Platz und haben so eine auch für mich recht angenehme Atmosphäre geschaffen; Leute, die sich den Platz und die Gebäude angesehen haben, haben sich auch kritisch zu diesem Ort verhalten; für einige Schüler ist dieser Ort ein anscheinend attraktiver Treffpunkt. Spontaneität und Widerstände gegen einen kontrollierten und nur eingeschränkt nutzbaren Ort sind Teil des von mir beobachteten Geschehens.
Andere Konstellationen ziehen sich jedoch dauerhafter und stärker durch diesen Ort – sie verfestigen sich immer wieder aufs neue und richten das Geschehen am Ort auf Konsum und Marketing aus. Passivität steht deshalb im Zentrum der Darstellung, die Passivität des Erlebens steht im Zusammenhang mit der von störenden Einflüssen gesäuberten Umgebung, die die Menschen an diesem Ort auf die Inszenierungen in der Architektur und in den Unterhaltungseinrichtungen am Platz verweist; dieser Ort produziert Passivität auch durch die Absorption anderer Aktivitäten, die bis zur Versorgung mit alltäglichen Gebrauchsgütern gehen. Die Produktion eines Raumes, der vielfältige Verwertungen zulässt, wird durch die Überwachung der Menschen in diesem Raum noch perfektioniert und störungsfreier gemacht. Abweichendes Verhalten findet kaum einen geschützten Raum; eine Ästhetik und Gestaltung der Sichtbarkeit verlängert die Überwachung auch in die Nischen, eine eng geführte, an geordnetem Konsumverhalten orientierte Normalität stigmatisiert alles Abweichende; Hindernisse schränken die Bewegung ein und lenken die Schritte um; die Kanten der Pflanzkästen und des Geländers, die Abwesenheit von Bänken – sie verursachen Schmerzen. In Anbetracht dieser Bündelung von Mechanismen, die sich in den Körper, in die Menschen und ihre Wahrnehmung des eigenen Verhaltens einsenken, bleibt mir kaum ein anderes Fazit zu ziehen als dieses: im Zentrum des Marlene-Dietrich-Platzes, im Zentrum des Geschehens an diesem Ort wird passiver, gesäuberter und überwachter Konsum produziert. Spontaneität und Widerstände sind an die Ränder verwiesen, sie weiten die hier produzierten Grenzen aus und verschieben Hindernisse, diese kehren jedoch schnell wieder in ihre ursprünglichen Positionen zurück.
Henri Lefebvre spricht von einem trial by space
, einer Prüfung durch den Raum. Wer den (gesellschaftlichen) Raum gestaltet und prägt, ihn sich aneignet, bekommt Wirkungsmacht und kann sich dieser Wirkungsmacht auch bedienen.
[…]groups, classes or fractions of classes cannot constitute themselves or recognize one another, as ‘subjects’ unless they generate (or produce) a space. Ideas, representation or values which do not succeed in aking their mark on space, and thus generating (or producing) an appropriate morphology, will lose all pith and become mere signs, resolve themselves into abstract descriptions, or mutate into fantasies.[43]
Der Marlene-Dietrich-Platz ist im Interesse der Investoren entworfen, gebaut und ausgestaltet worden, das trial by space
fällt an diesem Ort deutlich zu ihren Gunsten aus.
Für Lefebvre ist die Prüfung durch den Raum auch eine globale. Der flexible Kapitalismus[44] mit seinen Produktions- und Verwertungsmechanismen kann zentrale Orte im Stadtraum besetzen, er schlägt sich ganz konkret und auf vielen Ebenen im Marlene-Dietrich-Platz nieder. In wie weit sich die Erkenntnisse dieser Untersuchung auch anderswo zeigen, in wie weit dieser Raum also ein Einzelfall, ein Spezifikum ist und in wie weit die hier gemachten Beobachtungen sich auch an anderen Orten, in anderen Städten und anderen Ländern machen lassen; wie sich die dort im Zusammenspiel von Raum, Zeit, Gesellschaft und Körpern entstehenden Konstellationen anderswo ausprägen; welche Begriffe dort ihren Weg ins Zentrum einer vergleichbaren Grafik finden und welche sich am Rand bewegen – dies ist ein Teil der Antwort auf die Frage, wie das trial by space
auf globaler Ebene ausfällt. Wo und wie können Orte alternativ genutzt und geprägt werden, wie lassen sich die hier gefundenen Grenzen verschieben?
– ENDE –
Fußnoten
- 32 Vgl. Saskia Sassen, The Global City. New York, London, Tokyo.
- 33 Vgl. Peter Marcuse, Space and Race in the Post-Fordist City: The Outcast Ghetto and Advanced Homelessness in the United States Today.
- 34 Vgl. John Mollenkopf und Manuel Castells (Hg.), Dual City. Restructuring New York.
- 35 Vgl. Sharon Zukin, Landscapes of Power: From Detroit to Disneyworld.
- 36 Vgl. die erwähnten Texte von Sharon Zukin und von William S. Kowinski, The Malling of America. An Inside Look at the Great Consumer Paradise.
- 37 Siehe Bruno Latour, We Have Never Been Modern. S. 10-12.
- 38 Ebenda S. 142-145.
- 39 Siehe Henri Lefebvre, The Production of Space. S. 33 und S. 38-39.
- 40 An dieser Stelle wird deutlich, dass eine solche Darstellung immer eine Abstraktion ist und ihr entsprechende Schwächen innewohnen. Beim Erstellen dieser Grafik musste ich eine Vielzahl von Entscheidungen treffen; stelle ich den Inhalt mit Begriffen oder mit Symbolen oder mir einer Kombination beider dar; wie viel Detail füge ich ein; soll die Grafik klare Grenzen ziehen oder sollen sich verschiedene Bereiche überlappen? Das Ergebnis ist ein Kompromiss aus den Möglichkeiten der benutzten Software und Überlegungen zu Überschaubarkeit und Komplexität der Darstellung.
- 41 Siehe Henri Lefebvre, The Production of Space. Am angegeben Ort (S. 33 und S. 38-39).
- 42 In der Negativen Dialektik benutzt Adorno Konstellationen, um Gegenstand und Begriff darzustellen, ihren Gehalt sprachlich zu objektivieren, ohne sich dabei in der Unmittelbarkeit oder dem an sich sein von Gegenständen und Begriffen zu verirren:
Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.
(S. 164-165)
Für mich ergeben sich überraschend starke Parallelen zwischen Latours Kritik an Erkenntnistheorie und wissenschaftlicher Praxis der Moderne, Lefebvres Verständnis des Zusammenspiels von Körper, Raum, Praxis und Theorie und Adornos Kritik an Positivismus und Idealismus (den Hinweis auf den Konstellationsbegriff bei Adorno verdanke ich Gabriele Althaus). - 43 Henri Lefebvre, The Production of Space. S. 416-417.
- 44 Vgl. Sennett, Richard. 1998. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. S. 10-12.
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