Ortssippenbücher

Die Hintergründe der deutschen Spezialität "Ortssippenbücher" (auch Dorfsippenbücher, Kirchspielsippenbücher, Ortsfamilienbücher genannt) sind schon öfter beschrieben worden. In einer bereits zwei Jahrzehnte alten "Einführung in die Historische Demographie" heisst es 1977:

"Es trafen sich bald einmal die Interessen der Genealogen der 1920er und 1930er Jahre mit denjenigen von Rassenpolitik und Ideologie des Nationalsozialismus. Josef Demleitner und Adolf Roth sowie Ernst Kopf vom Stabsamt des Reichsbauernführers entwickelten Mitte der 1930er Jahre eine einfache sogenannte Familienblatt-Methode. Sämtliche Heirats-, Geburts- und Sterbeeintragungen in den Kirchenbüchern wurden verkartet, dann zu Kleinfamilien geordnet und diese Daten je auf ein gedrucktes Familienblatt übertragen. In einem weiteren Arbeitsgang stellte man alle Familienblätter alphabetisch nach dem Familiennamen des Vaters und crhonologisch nach dem Heiratsjahr oder - falls dieses fehlte - nach dem Jahr der ersten Geburt zusammen. Auf diese Weise entstand schliesslich ein Buch mit allen Familien.

Die 1937 gegründete Arbeitsgemeinschaft für Sippenforschung und Sippenpflege, ein Gemeinschaftsunternehmen des Reichsnährstandes, des nationalsozialistischen Lehrerbundes und des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, machte sich zur Aufgabe, die systematische Erstellung solcher Familienbücher zu fördern und sie als Dorf- oder - wie sie später hiessen - Ortssippenbücher zu publizieren. Diese Sippenbücher bringen den gesamten Inhalt der oben beschriebenen Familienbücher in gleichem Aufbau und in gleicher Einteilung. Sie sind nur aus Gründen der Raumersparnis und der Verminderung der Druckkosten in geraffter Form und im Rotaptrint-Verfahren publiziert worden. Lokalgeschichtliche Angaben aus den Kirchenbüchern werden zusammen mit geschichtlichen Daten aus anderen Quellen in einer oft recht umfangreichen Einleitung gebracht. Dagegen werden zum Beispiel die Todesursachen nicht veröffentlicht, denn das Ziel dieser Sippenbücher war die "sippenkundliche Bestandsaufnahme des gesamten deutschen Volkes unter Ausschöpfung sämtlicher sippenkundlicher Quellen und ihres geschlossenen Einsatzes für rassenpolitische und sippenpflegerische Aufgaben".

Geplant waren rund 30.000 Ortssippenbücher, die jeweils auf den Verkartungen sämtlicher Eintragungen in den Kirchenbüchern sowie den standesamtlichen Registern einer Gemeinde basieren sollten, und die je nach dem Einsetzen der Tauf-, Heirats- und Sterberegister den Zeitraum vom 16., 17. oder 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert umspannten.

In rein praktischer Hinsicht hatten diese Sippenbücher die Aufgabe, jenen Tausenden von deutschen Personen wie etwa Beamten oder Bauern behilflich zu sein, welche seit 1933 gesetzlich gezwungen waren, einen Ahnennachweis über ihre arische Abstammung zu erbringen. Auf diese Weise konnten auch die Kirchengemeindearchive und Standesämter entlastet und ausserdem die Orginaldokumente geschont werden. - In ideologischer und rassenpolitischer Hinsicht leitete sich das Konzept von der "blutsgebundenen Neuordnung" im Nationalsozialismus her. Schon die Ausarbeitung der Sippenbücher an sich wie besonders ihre anschliessende Publikation sollte zur Schaffung des Gefühls einer nationalen Einheit unter allen deutschen Volksgruppen beitragen und die Schlüsselstellung der "Blut- und Volksgemeinschaft" unterstreichen. Deutsche Männer und Frauen aller Schichten und Klassen sollten sich durch ein gemeinsames Erbe verbunden fühlen.

In vielen Gemeinden nahm man die Arbeiten planmässig auf, und bis 1940 waren bereits 30 Bände veröffentlicht. Dann wurde die weitere Entwicklung durch den Krieg unterbrochen" (Seiten 23-27, gekürzt).

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm man die Arbeit, nunmehr unter heimatgeschichtlich-genealogischen Vorzeichen, wieder auf. Jährlich erscheinen auch heute noch Ortssippen- beziehungsweise Ortsfamilienbücher. Mittlerweile geht ihre Zahl in die Hunderte. Wo sie systematisch, wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit gesammelt werden, können es bereits gegen tausend Stück sein. So dokumentiert etwa das "Bestandsverzeichnis der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig" für Ende 1995 folgende Anzahl (Weiss/Münchow 1996, 384-386; über den weiteren Zuwachs bis Mitte 1998 orientiert die 2., erweiterte und aktualisierte Auflage 1998):


Verteilung der Leipziger Ortsfamilienbücher nach Bundesländern


Schleswig-Holstein

4

Niedersachsen

75

Nordrhein-Westfalen

66

Hessen

119

Rheinland-Pfalz

239

Baden-Württemberg

130

Bayern

12

Saarland

110

Brandenburg

10

Mecklenburg-Vorpommern

3

Sachsen

53

Sachsen-Anhalt

38

Thüringen

13


Bundesrepublik insgesamt

871

Die den folgenden Ausführungen zugrunde liegende Kollektion von derzeit rund 300 Ortssippenbüchern hat dagegen andere Ursachen. Da sie selbst finanziert werden musste (und muss), wuchs (und wächst) sie recht unsystematisch im Takt mit meiner Professur für Sozialgeschichte der Neuzeit an der Freien Universität Berlin seit 1975. Es dürfte deshalb kaum überraschen, dass fast ausschliesslich die alten Bundesländer mit Büchern vertreten sind. Irgendwelche Vollständigkeit wurde aber auch da zu keinem Zeitpunkt angestrebt. Ortssippenbücher boten sich im Rahmen meiner Lehre und Forschung in der hierzulande noch wenig entwickelten Subdisziplin Historische Demographie als gut aufbereitete Quellensammlungen von selbst wie auf einem Silbertablett an. Was in Frankreich, England, Skandinavien, der Schweiz erst mühsam geschaffen werden musste: die kompletten Familienrekonstitutionen ganzer Kirchspiele, existierte hierzulande dutzendfach und wartete bloss auf die Weiterbearbeitung nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die Ortssippenbuch-Basis erlaubt, Fragestellungen mit einer Differenziertheit vorzunehmen, die anderswo kaum möglich ist: Kinderzahlen, Familiengrössen, Säuglingssterblichkeit, Lebenserwartung nach unterschiedlichen Religionen und Konfessionen (katholische, protestantische, reformierte, jüdische, gemischte Gemeinden) , nach den vorherrschenden Vererbungsgewohnheiten (Anerbengebiete, Jüngsten- beziehungsweise Ältestenerbgewohnheiten, Realerbteilungsgebiete), nach kriegsverschonten beziehungsweise kriegstraumatisierten Gegenden, nach der unterschiedlichen Nutzung des Kulturareals und viele andere mehr.

Widmete sich in diesem oder jenem Semester eine Lehrveranstaltung dem einen oder anderen dieser Themen oder interessierten sich Prüfungskandidaten, Magistranden, Doktoranden dafür, wurde die Kollektion jeweils entsprechend arrondiert und aufgestockt. Im Laufe der Jahre schwoll die dazugehörige Zettelsammlung mit den bibliographischen Angaben bis zur Unübersichtlichkeit an. Es wurde Zeit, das ganze in einer den heutigen Möglichkeiten gemässeren Datenbank abfragbar zu reorganisieren und den Bestand auch kartographisch zu erschliessen. Das Resultat liegt hier vor.




Für Lehre & Forschung


Die Quintessenz zweier Jahrzehnte historisch-demographischer Lehre und Forschung an der Freien Universität Berlin wurde 1995/96 auf einer gleichnamigen CD-ROM veröffentlicht. Um deren Aktualität zu garantieren, findet eine kontinuierliche Betreuung im World Wide Web statt. Auf diese Weise kann der Inhalt über Jahre hinweg das Gerüst für die weitere, je nachdem punktuelle, regionale, überregionale, thematische, theoriegeleitete, interdisziplinäre Auswertung und die entsprechende Beschaffung von Ortssippenbüchern bilden. Zumindest die CD-Gliederungspunkte A (Einführung in die Historische Demographie) und B (Themenschwerpunkte) seien hier deshalb angeführt.

A. Einführung in die Historische Demographie - mit 34 Figuren

  1. Einleitung
  2. Anschaulich machen
    Lebenserwartungen "früher" und "heute"
    Frauen leben länger - wie lange noch?
    Die Schlüsselrolle von Mädchen- und Frauenbildung
  3. Historische Demographie und Bilder
    Erzwungene Körperkontakte früher
    Vom terrorisierenden zum bescheidener gewordenen Tod
  4. Zu den Quellen und Methoden
    Kirchenbücher
    Inschriften auf römischen Grabsteinen
    Todesanzeigen
    Die Familienrekonstitutions-Methode
    Familienplanung in historischer Zeit
    Harte Daten und Bilder
  5. Nach dem Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit: Welches sind die neuen Probleme?
    Folgen der epidemiologischen Transition: institutionalisiertes längeres Sterben
    Konzentration von Selbsttötungen in hohem Alter: rasches Anschwellen der Risikopopulation
    Auseinanderklaffen von Lebenserwartung und Gesundheitserwartung
    Gewonnene Jahre sind nicht automatisch erfüllte Jahre: das Konzept vom "Lebensplan"

B. Hundert Abbildungen aus der Historischen Demographie - kapitelweise angeordnet

  1. [1]- [2]: Quellen zur Historischen Demographie
  2. [3]- [9]: Methoden der Historischen Demographie
  3. [10]-[17]: Geburtenbeschränkung und Familienplanung
  4. [18]-[33]: Zentrale Rolle der Mädchen-/Frauenbildung
  5. [34]-[44]: Zunahme der Lebenserwartung
  6. [45]-[47]: Lebenserwartung und Gesundheitserwartung
  7. [48]-[65]: Epidemiologische, demographische, gesundheitliche Transition - und die Folgen
  8. [66]-[71]: Abnahme der Lebenserwartung
  9. [72]-[77]: Von "Gemeinschaft" zu "Gesellschaft"
  10. [78]-[89]: Alterssuizid
  11. [90]-[95]: Das Konzept vom "Lebensplan"
  12. [96]-[100]: Schwellen- und Entwicklungsländer folgen uns nach




Beispiele


An konkreten Beispielen seien hier je eines aus der Forschung und eines aus der Lehre präsentiert. Die 1997 eingereichte Dissertation von Ines E. Kloke "Säuglingssterblichkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert - sechs ländliche Regionen im Vergleich" basierte auf folgendem Ortssippenbuch- beziehungsweise vergleichbarem Material:



Region
(in den alten Bundesländern)
Anzahl Kirchspiele /
Gemeinden
Anzahl Geburten
(inkl. Totgeburten)

Ostfriesland
elf
analysiert rund 12 000
Hartum (norddeutsche Tiefebene)
vier
analysiert rund 10 000
Schwalm (Hessen)
elf
analysiert rund 6 000
Saarland
neun und 27 Filialorte
analysiert rund 13 000
Herrenberg (Württemberg)
sechs
analysiert rund 12 500
Ortenau (Baden)
zwölf
analysiert rund 35 000


Das Inhaltsverzeichnis der Dissertation spiegelt im folgenden exemplarisch die Fülle der auf einer solchen Ortssippenbuch-Basis erforschten Probleme:

Dissertation Ines E. Kloke

  1. Einleitung
    1. Die Säuglingssterblichkeit als multikausales Problem
    2. Möglichkeiten und Grenzen einer im wesentlichen auf "harte Fakten" gegründeten Faktorenanalyse der Säuglingssterblichkeit

  2. Die Voraussetzungen, Quellen und Methoden der Arbeit
    1. DFG-Projekt zur Geschichte der Lebenserwartung (1986-90)
    2. Die Berliner Datenbank und ihre Quellen (quantitative Daten)
    3. Medizinische Topographien und historische Ortsbeschreibungen (qualitative Daten)
    4. Die Vergleichsregionen
      1. Das Untersuchungsgebiet Ostfriesland
      2. Das Untersuchungsgebiet Schwalm
      3. Das Untersuchungsgebiet Hartum
      4. Das Untersuchungsgebiet Herrenberg
      5. Das Untersuchungsgebiet Ortenau
      6. Das Untersuchungsgebiet Saarland
    5. Die Methodik der Mortalitätsberechnungen

  3. Erkenntnisse zur Säuglingssterblichkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert
    1. Das Bild der Zeitgenossen
      1. Die Bestandsaufnahme von Medizinalstatistiken und Sozialhygienikern
      2. Medizinische Topographien: Der Blick der Ärzte
    2. Themen und ausgewählte Ergebnisse heutiger historisch-demographischer Forschung

  4. Faktorenanalyse zur differentiellen Säuglingssterblichkeit in Deutschland: Dokumentation und Diskussion der Berliner Daten

    Der Makroregionale Rahmen

    1. Höhe und Phasen der Säuglingssterblichkeit
    2. Der Einfluss der Krisen
    3. Die geschlechtsspezifische Säuglingssterblichkeit
    4. Legitimität / Illegitimität
    5. Biometrische Analyse nach Lebenswochen und Lebensmonaten
    6. Säuglingssterblichkeit und eheliche Fertilität
    7. Säuglingssterblichkeit nach Geburtsrang und Familiengrösse
    8. Die monatliche Verteilung der Geburten und Sterbefälle

      Der Mikroregionale Rahmen

    9. Der Faktor Konfession am Beispiel des Untersuchungsgebietes Ortenau

  5. Erweiterte Faktorenanalyse zur Säuglingssterblichkeit in Deutschland: Berücksichtigung qualitativer Daten nach Ausweitung der Quellenbasis

    Der Makroregionale Rahmen

    1. "Der natürliche Ort der Krankheit ist der natürliche Ort des Lebens": Wohnung, Ernährung und Pflege im Spiegel Medizinischer Topographien
      1. Der ätiologische Faktor Wohnung
      2. Der ätiologische Faktor Ernährung
      3. Der ätiologische Faktor Pflege

      Der Mikroregionale Rahmen

    2. Dörfliche Säuglingssterblichkeitsprofile vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, sozialer und demographischer Regionalstrukturen
      1. Das Untersuchungsgebiet Ostfriesland
      2. Das Untersuchungsgebiet Hartum
      3. Das Untersuchungsgebiet Herrenberg

  6. Schlussbetrachtung
    1. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
    2. Summary

  7. Anhang
    1. Quellenverzeichnis
      1. Ortssippenbücher
      2. Medizinische Topographien
    2. Literaturverzeichnis
      1. Literatur zu Kapitel 2.4 (Vergleichsregionen)
    3. Verzeichnis der Abbildungen
    4. Abkürzungen
    5. Appendix A
      1. Das Modell zur zirkularen Kausation
    6. Appendix B
    7. Appendix C


Das zweite Beispiel - aus der Lehre - reifte im Verlaufe mehrerer Semesterveranstaltungen nur allmählich heran. In amerikanischer Übersetzung heisst die Publikation "Lost Worlds: How Our European Ancestors Coped with Everyday Life and Why Life Is So Hard Today" (Charlottesville - London: University Press of Virginia 1996). Der Titel dürfte deutlich machen, dass die Ausführungen kaum etwas mit demographischer Faktenhuberei zu tun haben. Das liesse sich aufgrund von Ortssippenbüchern zwar ohne weiteres auch bewerkstelligen. Was wäre das jedoch bloss für ein Historiker, der es bei einer solchen Fliegenbeinezählerei bewenden liesse?

Ortssippenbücher beflügeln die historische Phantasie deswegen so ungemein, weil wir wie bei keinen anderen Quellen in solchem Ausmass direkt mit unseren Vorfahren konfrontiert werden, mit jedem und jeder einzelnen von ihnen, mit Menschen aus Fleisch und Blut, mit ihren Sorgen, Nöten, Schwierigkeiten, Problemen. Wir kennen sie alle bei Namen, kennen ihre exakten Geburtsdaten, Heiratsdaten, Sterbedaten, die Zahl ihrer Kinder, wie lange diese lebten - oder auch nicht. Ob dann für "Ersatz" gesorgt wurde oder ob der frühe Tod Spätgeborener als "nachträgliche Familienplanung" akzeptiert oder gar dem "Himmeln" entsprechend mit sanfter Nachhilfe in Kauf genommen wurde. Darüber hinaus erhalten wir weitere personen- beziehungsweise familienbezogene Informationen oder können uns diese aufgrund der genauen Kenntnisse von Namen, Jahr und Ort in den Archiven leicht beschaffen: Steueraufkommen, Frondienste, Grösse der Höfe aufgrund von Katasterangaben, Nutzung des Kulturareals als Ackerland, als Wiesland, als Weide, als Wald, als Weinberg, Anzahl Pferde, Kühe, Kälber, Schweine, Gänse, Hühner. Ob es für die Familie reichte? Ob es dem Nachbarn jenseits der Strasse besser ging, weil der Tod dort nicht so häufig einkehrte? Oder vielleicht noch schlechter, weil alle Kinder in jungen Jahren wegstarben und am Schluss kein Erbe den Hof übernehmen konnte?

Lebten auf benachbarten Höfen Kinder ähnlichen Alters? Mädchen, Knaben, die von miteinander spielen konnten? Oder auch nicht, weil auf dem einen, wohlhabenderen Hof mehr Pferde im Stall standen, während es auf dem andern nur Kühe und Kälber waren. Da konnten die Nachbarbuben natürlich nicht Pferdeanschirren miteinander spielen. Lebte auf dem übernächsten Hof vielleicht noch eine Grossmutter oder ein Grossvater, der Geschichten erzählen konnte? Der die Soldateska des Dreissigjährigen Krieges noch am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte und als Beweis seine Narben vorzeigen konnte? Was für eine schreckliche Zeit! Dreissig Jahre lang wenn schon nicht dauernd Krieg, so doch Unsicherheit, Rekvisitionen, Seuchen, die sich eins übers andere Mal mit den marodierende Truppen ausbreiteten.

Sie glauben das alles nicht? Weil Sie es sich nicht vorstellen können? Dann schauen Sie sich zwei, drei Seiten aus so einem Ortssippenbuch selbst an, zum Beispiel aus dem "Ortssippenbuch Gabelbach - Landkreis Augsburg in Schwaben, von Franz Hauf" (Frankfurt am Main: Zentralstelle für Personen- und Familiengeschichte 1975). Selbst bei abgenutzter Vorlage und unter wenig optimalen Scanverhältnissen erhalten wir einen guten Einblick in die familiären Verhältnisse von Hans Burkhart und Peter Geissler kurz nach Ende des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648).

Hans Burkhart, der offensichtlich von ausserhalb Gabelbachs zugewandert war, denn es fehlt der Taufeintrag, hatte am 3. Juni 1658 die Witwe Maria Leitenmayr geheiratet. Dieser Ehe entsprossen 1659, 1660 und 1663 die Kinder Barbara, Michael und Matthäus. Nachdem die Mutter im Oktober 1667 gestorben war, heiratete Witwer Hans im Januar des darauffolgenden Jahres Maria Mayer, mit der er vier weitere Kinder hatte. 1671 kam Maria zur Welt, 1673 Johann, 1675 Anna und 1682 der Nachzügler Thomas. - Der aus Salzburg nach Gabelbach gekommene Peter Geissler seinerseits heiratete am 18. Mai 1661 die ortsansässige 23jährige Martha Bantele. Ihre Kinder Johannes, Christoph, Georg, Joseph und Magdalena kamen 1662, 1664, 1666, 1668 und 1674 zur Welt. Zwei Jahre später starb die Mutter, wonach Witwer Peter noch gleichen Jahres die 28jährige Gabelbacherin Maria Bleig ehelichte. Hier kamen zwischen 1677 und 1688 nochmals sechs Kinder zur Welt: Michael, Peter, Christine, Maria, Susanna und Benedikt.

In beiden Familien überlebte zumindest ein männlicher Erbe, der den Hof weiterführen konnte. Bei den Burkharts war es der 1663 geborene Matthäus aus erster Ehe, der im Februar 1687 heiratete (Vater Hans starb 1696); bei den Geisslers der Zweitgeborene Christoph (*1664), der 1691 heiratete. (Wann und wo Vater Peter starb, ist hier nicht bekannt.)

Werfen wir nun gleichzeitig einen Blick auf das Gabelbacher Steuerregister von 1663, stellen wir fest, dass wir es bei den Burkharts und den Geisslers mit zwei ganz unterschiedlich gestellten Familien zu tun haben. Während Hans Burkhart stolzer Besitzer eines richtigen Hofes war, so hauste Peter Geissler mit den Seinen auf einer ärmlichen Sölde. Beim ersten weist das Steuerregister 31 Jauchert Ackerland aus, beim zweiten (mit der grösseren Familie!) ganze 2 Jauchert. Bei den Burkharts standen 6 Ross im Stall (nicht nur als Zugtiere, sondern auch als Statussymbole), dazu 7 Kühe (Milch, Butter, Käse im Überfluss) und 2 zweijährige Kalbeln, 2 fertige Kälber und 3 heurige Kälber sowie 2 Schweine, bei den Geisslers gerade mal 1 Kuh, 1 fertiges Kalb, 1 heuriges Kalb und 1 Schwein. Wenig verwunderlich betrug das Steueraufkommen der Burkharts insgesamt 3 fl (Florentiner Gulden) und 28 kr (Kreuzer), bei den Geisslers dagegen bloss 30 kr ( = 1/2 Gulden) und 4 hl (Heller, 4 hl = 1/2 Kreuzer). Wie hätten da die ähnlichaltrigen Kinder dieser beiden Familien von gleich zu gleich miteinander spielen können?

Wir könnten uns nun, wie in den erwähnten Lost Worlds für einige Familie in der nordhessischen Schwalm exemplarisch geschehen, immer weiter in die Lebensumstände der Burkharts und der Geisslers, ihrer Nachbarn, ihrer Verwandten, kurzum in ihre so unterschiedlichen kleinen Welten vertiefen und mosaikartig rekonstruieren, wie diese unsere Vorfahren - oft trotz allem - ihre Leben lebten. Wie sah es auf den gleichen Höfen zehn, zwanzig, fünfzig Jahre später aus? Kamen ausgetüftelte Heiratsstrategien zum Zuge? Konnten dadurch Äcker, Wiesen, Wälder arrondiert werden? Hielten sich bestimmte Eltern im Kindersegen zurück? Weil sie darin bessere Chancen für eine geringere Zahl von Nachkommen sahen? - Da soll noch jemand behaupten, wir hätten es bei Ortssippenbüchern mit totem Zahlenmaterial zu tun.




Print-Hinweise


Becker, Michael: Elektronische Datenverarbeitung in der Familiengeschichtsforschung. In: Ribbe, Wolfgang, Eckart Henning (Hrsg.): Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung. 11. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Neustadt an der Aisch: Degener 1995, 42-82.

Imhof, Arthur E.: Einführung in die Historische Demographie. München: Beck 1977.

Schulle, Diana: Ortsfamilienbücher. In: Ribbe, Wolfgang, Eckart Henning (Hrsg.): Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung. 11. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Neustadt an der Aisch: Degener 1995, 270-298.

Weiss, Volkmar, Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie (= Bestandsverzeichnis der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig, Teil IV). Neustadt an der Aisch: Degener 1996 (2., erweiterte und aktualisierte Auflage: Neustadt an der Aisch: Degener 1998).




Online-Hinweise


Deutscher Genealogie-Server (Administrator: ArthurTeschler, Uni Giessen), u. a. mit Link zu:

Deutsche Zentralstelle für Genealogie (Leipzig).

H-DEMOG, Historical Demography - Moderated Newsgroup (U Michigan).

Historische Demographie, CD-ROM und WWW, zusammengestellt von Arthur E. Imhof, Stand: laufend nachgeführt.

Kirchenbuchbearbeitungen, Ortsfamilienbücher und Einwohnerbücher (für Hessen; mit besonderer Zusammenstellung der Waldeckischen Ortssippenbücher), zusammengestellt von Holger Zierdt, Stand Mai 1998.

Westdeutsche Gesellschaft für Familienkunde WGfF (Hrsg.): Verkartungen von Kirchenbüchern und Standesamtsregistern; 1-3. Köln: Westdeutsche Gesellschaft für Familienkunde 1996-1998

Ortsfamilienbücher (Ortssippenbücher und Familienbücher) zusammengestellt von Günther Schweizer, Uni Köln, Stand Februar 1997.

Population Index on the Web. (Office of Population Research, Princeton U).




Danksagung

Ohne das freundliche Entgegenkommen des DFN-CIS - Referenz- und Kompetenzzentrum für Informationsdienste (Center for Information Services), Berlin, insbesondere die tatkräftige Mithilfe von Dr. Fredo Sartori - und ohne gleichzeitiges Einverständnis der Firma GraS - Graphische Systeme GmbH, Berlin - hätten die kartographischen Präsentationen nicht realisiert werden können. Ihnen allen sowie dem mit der Projektdurchführung betrauten Mitarbeiter Thomas Müller sei hier ein verbindliches Dankeschön zum Ausdruck gebracht.

A.E.Imhof 1998