Gelübde heisst lateinisch votum. Davon leiten sich die Bezeichnungen Votant und Votiv her. Der Votant ist die Person, die ein Gelübde ablegt. Das Votiv ist die Gabe, die der Votant an heiliger Stätte darbringt. Mit diesem sichtbaren Zeichen löst er das im Gelübde gegebene Versprechen ein.
Anlass zu einem Gelübde kann Krankheit, Unglück oder sonstige Bedrängnis sein. Der Votant erfleht von einer überirdischen Macht Befreiung aus seiner Notlage. Mit dem Votiv tut er öffentlich kund, dass sein Bitten erhört worden ist.
Neben diesem Dankvotiv erscheint seltener das Bittvotiv, mit dem sich jemand vorsorglich dem Schutz der Gottheit anheimstellt. Häufig wird diese Anheimstellung nicht nur für das irdische, sondern auch für das Leben nach dem Tode vollzogen.
Votive gibt es nicht nur im Christentum. Doch waren es gerade die katholischen Gebiete, in denen in nachmittelalterlicher Zeit das Votivbrauchtum einen ungeheuren Aufschwung nahm. Die Volksfrömmigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts entzündete sich an der gegenreformatorischen Propagierung des bei den Protestanten verpönten Heiligenkults, besonders der Marienverehrung. Die grösste Wirkung wurde in Bayern und Österreich erzielt. Neben szenischen Andachten und Umzügen sind die zahlreichen Wallfahrten zu den vielfach neuentstandenen Gnadenorten bezeichnend für die Religiosität dieser Zeit. Das markanteste dingliche Massenphänomen sind die Votive, die von wunderbaren Heilungen und Errettungen Zeugnis geben. Neben Kleinplastiken aus Wachs, Holz, unedlem oder edlem Metall wurden gemalte Bildtafeln an den Wänden und Säulen, mitunter auch an den Decken der Wallfahrtskirchen angebracht. In einem 1780 zu Salzburg gedruckten Buch heisst es über die Marienwallfahrt Kirchental: "Die ganze Kirche ist mit aufgehängten Votivtafeln gleichsam wie mit Tapezereyen umgeben und geziert." Nicht nur die überregional berühmten grossen Kultzentren, sondern auch kleinere Kirchen und Kapellen wurden mit Votivtafeln bedacht.
Die Darbringung der Votivtafel war zunächst der im Gelübde versprochene Dank des Votanten für die Hilfe, die, wie er glaubt, auf Grund seiner Anrufung der Gottheit ihm zuteil geworden ist. Zugleich war der Verbleib der Tafel an heiliger Stätte sicher auch eine Anheimstellung des weiteren Lebensweges an die bewährte überiridische Macht. Diese Macht war durch eine Statue oder ein Bild vertreten, der Votant durch sein Votiv. Schliesslich wandte sich der Votant mit seiner Tafel indirekt an andere Gläubige. Der Votationsakt hatte Öffentlichkeitscharakter. Das für die Allgemeinheit sichtbar angebrachte Votiv sowie der den Hergang der Errettung beschreibende Eintrag in das Mirakelbuch der Gnadenstätte hatten Beweiskraft für die Wundertätigkeit des Gnadenbildes. Also verlobten sich auch andere Personen in Notlage zu diesem Gnadenbild, und so häuften sich in manchen Kirchen die Votive nach und nach zu immenser Zahl.
Der übersteigerten Volksfrömmigkeit des 18. Jahrhunderts mit ihrem fast krankhaft anmutenden Drang zu sinnlichem Ausdruck stellte sich die aufgeklärte Kirchenreform entgegen. Dabei wurden auch das Wallfahrtswesen und das Votivbrauchtum eingedämmt. Viele der alten Votivtafeln gingen schon damals verloren, und manches von dem, was die Aufklärung übrigliess, fiel jüngeren Kirchenrestaurierungen zum Opfer. Rechnet man die heute noch in Kirchen und Kapellen befindlichen und die in Museen und Privatsammlungen verwahrten Votivtafeln zusammen, hat man wohl nur einen kleinen Teil der einst massenhaft gestifteten Bilder.
Auch im 20. Jahrhundert gibt es noch hier und da Votive im Süden des deutschen Sprachgebietes, allerdings meist auf formelhaft beschriebene Zettel reduziert. In romanischen Ländern hat sich das Votivbrauchtum länger am Leben erhalten.
Ehe wir uns den Tafeln des 17. bis 20. Jahrhunderts zuwenden, sei noch auf das Marterl verwiesen, das oft mit dem Votivbild verwechselt wird. Das Marterl ist ein Erinnerungsmal an einen Toten, der einem Unglück oder Verbrechen zum Opfer fiel.
Der Unterschied zwischen plastischem und gemaltem Votiv liegt nur in der Erscheinungsform, ist also rein äusserlich. Der Zweck ist derselbe. Ob ein vom Augenleiden Geheilter ein modelgeformtes wächsernes Auge beziehungsweise Augenpaar oder ein auf eine Holztafel gemaltes Augeenpaar darbrachte, war im Prinzip ohne Bedeutung. Eine am Gnadenort zurückgelassene, weil überflüssig gewordene Krücke besagte dasselbe wie ein kleines Wachsbein oder ein Bild mit Darstellung und Beschreibung des Votationsgrundes. Nachbildungen einzelner Gliedmassen oder Organe, aber auch ganzer Figuren wie etwa die eines Wickelkindes wurden als Dankzeichen nach der Gebetserhörung oder mit der Bitte um Schutz oder Rettung zu den Gnadenstätten gebracht. Sorge um die Haustiere fand in wächsernen oder schmiedeeisernen Miniaturnachbildungen ebenso ihren Ausdruck wie in der entsprechenden bildlichen Darstellung.
Die Geschichte des gemalten Votivs beginnt im Spätmittelalter. Um 1500 treten erstmals Votivtafeln auf, zunächst freilich als vereinzelte adelige und stadtbürgerliche Stiftungen. Die massenhafte Darbringung von Votivtafeln setzt in den deutschsprachigen Ländern im 17. Jahrhundert ein..
Die meisten Votivbilder sind Arbeiten anonymer haupt- odre nebenberuflicher Tafelmaler. Häufig mag sich der Votant an den örtlichen Schreiner gewandt haben, der auch die Möbel bemalte. In einigen der grossen Kultzentren nahm die Wallfahrtsleitung Tafelbestellungen entgegen, die sie an bestimmte Maler weitergab. Mitunter legt die mindere Qualität einer Malerei die Vermutung nahe, hier habe der Votant selbst zum Pinsel gegriffen. Die jüngeren Tafeln sind häufiger vom Stifter selbst gefertigt.
Dass die Votanten grössten Wert auf die detailgetreue Wiedergabe des Vorfalles legten, der sie zur Votation veranlasste, verraten uns gelegentliche Notizen auf den Rückseiten von Votivtafeln.
Meist handelt es sich um kleinformatige Tafelbilder, das heisst Malerei auf Holz mit Öl- oder Temperafarben. Malerei auf Leinwand ist selten, Malerei auf Blech eine jüngere Erscheinung. Seit dem 19. Jahrhundert wurde manchmal ein Druck des Gnadenbildes aufgeklebt. Auch Hinterglasbilder und Reliefschnitzerein wurden gestiftet.
Die Votivtafel zeichnet sich durch das strenge Schema der Darstellung aus. In der Regel erscheint im oberen Bildteil die himmlische Person, die der Votant angerufen hat. Im unteren Bildteil befinden sich der Votant. Als dritte Komponente tritt die Darstellung des Votationsanlasses hinzu. Das Bild wird oft noch durch die schriftliche Wiedergabe des Vorgangs ergänzt und erläutert. Bei den meisten jüngeren Tafeln ist die Beschriftung auf die lateinische Formel EX VOTO (= auf grund eines Gelübdes) beziehungsweise die deutsche Formel VERLOBT und die Jahreszahl reduziert.
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Betrachten wir als Beispiel einer "kompletten" Votivtafel ein Bild, das 1875 in die Basilika Maria Plain im Land Salzburg gestiftet wurde.
Öl auf Holz, 360 x 270 mm Museum für Volkskunde Berlin Inv.-Nr. 32 K 30
Oben erscheint die Gottesmutter in Gestalt des am Wallfahrtsort verehrten Gnadenbildes. Hier ist es die gekrönte Gottesmutter mit der Windel, auf der das nackte Kind liegt. Links unten knien die Votanten, eine Frau und ein Knabe. Rechts sehen wir einen Schimmel und ein braunes Pferd. Die beiden Tiere waren krank und wurden laut Text durch die Fürbitte der Gottesmutter von Maria Plain wieder gesund.
Votivtafel-Text:
Anno 1875 verlobten sich zwei gewisse Personen, wegen zwei kranken Pferde, und wurden durch die Fürbitte der sl. Gottes-Mutter v. Maria Blain wiederum gesund. Gott u. der sl. Mutter=Gottes sei ewig Dank.
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Dieses Schema ist nicht unteilbar. Auf zahlreichen Votivtafeln vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts treten die Bildkomponenten vereinzelt oder in wechselnder Zusammensetzung auf. Manche Bilder verzichten auf den Votanten, andere auf jegliche Beschriftung. Ein jüngerer Typ ist die Tafel ohne Bild. Das Augenvotiv ist ein Beispiel für eine Tafel ohne Gnadenbild. Gelegentlich wird nur das Gnadenbild gezeigt. Häufiger kommt es vor, dass der Votationsanlass nicht dargestellt ist; mitunter ist er der Beschriftung zu entnehmen.
Wie die gesamte Komposition des Bildes, so unterliegen auch die einzelnen Teile bestimmten Gestaltungsgesetzen. Die himmlische Person hat als Halbfigur oder Vollfigur ihren Platz in der oberen Bildhälfte. Manchmal ist sie jedoch nicht als Erscheinung, sondern als Gnadenbild an der Wand darsgestellt. Das Umfeld der Heiligen und Göttlichen ist stets hell und meist vom irdischen Bereich durch Wolken abgegrenzt. Diese Grenze wird oft durch den auf den Votanten beziehungsweise auf das Objekt der Votation gerichteten Gnadenstrahl durchbrochen.
Eine seltenere Form des Kontakts zwischen den beiden Welten ist das strahlartige Spruchband. Mitunter wird die Erhörung des Gebets durch die Entsendung eines Engels verbildlicht.
Der Votant hat die Hände flehend zum Himmel erhoben oder gefaltet. Meist betet er mit dem Rosenrkanz. Er kniet in freier Landschaft oder in einem geschlossenen Raum, häufig einem Sakralraum.
Das Votivbrauchtum beschränkt sich nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht. Durch ihre Kleidung geben sich die Stifter der Tafeln als Adelige, Bürger, Soldaten oder Bauern zu erkennen.
Die Votanten, die einzeln, als Paar, Familie oder in anderem Gruppenverband auftreten, beten entweder für sich selbst oder eine andere Person oder um ihr Eigentum. Die häufigsten "Verlöbnisse" wegen Eigentum waren die Bitten um Heilung kranker Haustiere beziehungsweise um deren Schutz vor Viehseuchen.
Bei den Darstellungen erkrankter Menschen sehen wir oft Bettlägerige, wobei sich meist die Art des Leidens nicht genau bestimmen lässt. Beinleiden und -brüche sowie Augenerkrankungen waren häufige Votationsanlässe. Auch bei Erkrankungen des Geistes nahm man die himmlischen Helfer in Anspruch. Eine erschütternde Darstellung eines psychisch Gestörten zeigt eine
Berchtesgadener Votivtafel von 1718: der Mann ist mit beiden Handgelenken an das Bett gekettet.
Auf den wegen Krankheit gestifteten Bildern sieht man immer wieder Medizinfläschchen und Löffel im Zimmer des Patienten. Damit wird demonstriert, dass die Kunst der Ärzte versagt und erst die Anrufung der überirdischen Macht Linderung oder Heilung gebracht hat.
Bei den Darstellungen von Unfällen begegnen uns wieder die Haustiere; diesmal freilich als ständige Gefahrenquelle der täglichen Bauernarbeit. Neben ausschlagenden oder durchgehenden Pferden war das wildgewordene Rind, das einen Menschen auf die Hörner nimmt, eine häufige Ursache von Verletzungen. Stürze vom Dach oder vom Baum sowie Transportunfälle mit dem Wagen oder dem Schlitten sind weitere Votationsanlässe. Auch Holzfäller treten immer wieder als Votanten auf. Schliesslich sind noch die Unfälle an technischen Vorrichtungen zu nennen.
Neben Krankheiten und Unfällen waren Kriege und Revolutionen häufige Anlässe zu Gelübden. Sodaten und ihre Angehörigen flehen um gesunde Rückkehr aus dem Feld; die Heimgekehrten danken für den Schutz im feindlichen Kugelhagel. Ein Teilnehmer am Ersten Weltkrieg aus Oberbayern beispielsweise ist zwar angeschossen, aber nicht tödlich getroffen worden. Als Beweis für die Lebensrettung, die er Maria zu verdanken glaubte, brachte er das Geschoss als Votivgabe dar.
Die katholische Glaubenslehre sagt, dass die Heiligen und Seligen für die Menschen bei Gott fürbitten. Für bestimmte Anliegen nimmt der Gläubige gewöhnlich bestimmte Heilige als Fürbitter in Anspruch.
Bei Erkrankungen des Viehs beispielsweise wurden hauptsächlich Leonhard, Notburga und Georg angerufen. Antonius von Padua galt als Wiederbringer verlorener Güter, wird aber, wie auch die anderen Heiligen, ebenso in anderen Notfällen um seine Fürbitte gebeten. Von der Kriche zwar nicht kanonisiert, doch geduldet war die populäre Heilige Kümmernis. Auf einer niederbayerischen Votivtafel sehen wir das gekreuzigte Mannweib, das dem auf einer Betbank knienden Votanten den rechten Schuh zuwirft. Die Heilige soll eine christliche Prinzessin gewesen sein, die ihr Vater zur Heirat mit einem Heiden zwingen wollte. Ein Wunder vereitelte diese Ehe. Durch plötzlichen Bartwuchs entstellt, verschreckte das Mädchen den unliebsamen Freier, wurde jedoch daraufhin wegen Hexerei hingerichtet. Eine im deutschen Sprachgebiet verbreitete Legende erzählt von einem armen Spielmann, der dem Kultbild ein Ständchen brachte und dafür mit einem goldenen Schuh belohnt wurde. Auf zwei oberbayerischen Votivtafeln sehen wir den Geiger. Das Abstreifen des Schuhs ist das spezielle Gnadenzeichen der Kümmernis, das auch auf Votivbildern erscheint, die den Spielmann nicht zeigen.
Besonderes Vertrauen setzten die Votanten auf Maria, um deren Fürbitte an zahlreichen Wallfahrtsorten geworben wurde. Ob als Schmerzensreiche Mutter des gemarterten und getöteten Christus, als schwarze Madonna oder Mutter mit dem Jesuskind - stets genoss sie die höchste Verehrung der frommen Katholiken.
In der bescheidenen Auswahl aus der grossen Zahl von Votivtafeln marianischer Gnadenstätten fällt besonders eine aus dem oberbayerischen Burghausen stammende Darstellung der Gottesmutter mit Kind ins Auge. Dieser Typ heisst "Unsere Liebe Frau von der immerwährenden Hilfe". Kopien der byzantinischen Ikone, die 1499 von der Insel Kreta in die Matthäuskirche zu Rom gekommen war, erfreuten sich besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneut grosser Verehrung.
Während manche Typen - wie etwa Maria in der Lärch in Tirol - auf einen Ort beschränkt blieben, fanden andere durch Gnadenbildkopien weite Verbreitung. Der Typ Maria-Hilf ist dafür ein gutes Beispiel. Das erste Kultzentrum war Passau, wo im 17. Jahrhundert eine Kopie des heute in der Jakobskirche zu Innsbruck befindlichen Gemäldes von Lucas Cranach dem Älteren verehrt wurde. Das Bild wurde in der Folgezeit immer wieder kopiert. In Form kleiner Drucke zum Einlegen ins Gebetbuch und grosser Andachtsbilder zur öffentlichen Anbetung in der Kirche oder zur privaten Andacht im Haus fand der Maria-Hilf-Typ weite Verbreitung, und entsprechend gross war die Zahl der "Verlöbnisse" , die durch die Votivtafeln belegt werden.
Ein anderer Typ der Mariendarstellung, die Krönung zur Himmelskönigin durch die Heilige Dreifaltigkeit, bringt uns schliesslich zu jenen Votivtafeln, auf denen sich Votanten an göttliche Personen wenden. Dazu gehören die Tafeln mit der Heiligen Dreifaltigkeit sowie die Tafeln mit den Darstellungen des gepeinigten, gekreuzigten und toten Christus.
Die Votivtafeln sind in erster Linie Zeugnisse der Volksfrömmigkeit. Darüber hinaus sind sie in vielfacher Hinsicht von grossem Wert für verschiedene Bereiche der Geschichtsforschung. Der Medizinhistoriker interessiert sich für die Darstellung von Kranken, der Militärhistoriker für die Uniformen der Soldaten. Dem Volkskundler sind die Tafeln eine wichtige Quelle für die Erforschung der Sachkultur. Manche Tafeln etwa zeigen Häuser oder Gehöfte, andere Zimmereinrichtungen. Auf den bei Krankheit versprochenen Tafeln sehen wir meist Betten oder Wiegen. Auch von der Verbreitung bestimmter Arbeitsgeräte oder Trachten können Votivbilder Zeugnis geben.
Wenn wir die kleinen Tafelbilder betrachten, die uns die Ängste und Nöte des Alltags vor Augen halten, dürfen wir nicht vergessen, dass sie nur einen ausgewählten Teil der Wirklichkeit spiegeln. Die Bilder und Mirakelbücher der Kultzentren berichten von Menschen, die nach aller Gefahr und allem Leid zu guter Letzt doch noch glimpflich davongekommen sind. Über die vergeblichen Gebete und Gelübde hat niemand Buch geführt. Der bilderreichen Welt voller Wunder steht eine Wirklichkeit voller Wunden gegenüber.
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