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Bernd Senf: Der Nebel um das Geld; Gauke, 1996, S. 126 ff.

7.6 Kritik und offene Fragen zur Freiwirtschaftslehre

Die Einführung einer neuen Geldordnung mit Umlaufsicherungsgebühr würde sicherlich eine Fülle von Fragen aufwerfen, über die in der Freiwirtschaftslehre bzw. in der freiwirtschaftlichen Bewegung leider allzu oft hinweggegangen wird.

Unterschätzung der zu erwartenden Widerstände

Im Untertitel zum Buch von Margrit Kennedy (Geld ohne Zinsen und Inflation) heißt es z.B.: "Ein Tauschmittel, das jedem dient". Mit solchen Formulierungen werden natürlich falsche Illusionen geweckt. Es hört sich so an, als müßten sich eigentlich alle Teile der Gesellschaft für eine solche neue Geldordnung aussprechen, wenn sie sich erst einmal mit den Zusammenhängen vertraut gemacht haben. Aber es führt kein Weg daran vorbei, daß diejenigen zehn Prozent, die heute mehr oder weniger vom Zinssystem profitieren, in einem zinslosen Geldsystem auf einen weiteren zinsbedingten Zuwachs ihrer Geldvermögen verzichten müßten.

Natürlich kann man den Standpunkt vertreten, daß diese Schichten ohnehin schon mehr als genug besitzen. Aber die wenigsten von ihnen werden gewillt sein, ihre bisherigen Privilegien kampflos aufzugeben. Stattdessen werden sie vermutlich alle ihnen zur Verfügung stehenden Hebel der Macht (einschließlich der entsprechenden Massenmedien und dem Einfluß auf die Politik) in Bewegung setzen, um eine entsprechende Veränderung des Geldsystems zu verhindern. Im übrigen muß man nicht nur mit dem erbitterten Widerstand dieser zehn Prozent rechnen, die tatsächlich vom Zinssystem profitieren, sondern auch der großen Zahl von Menschen, die sich mit deren Werten identifizieren, obwohl sie objektiv auf der Seite der Verlierer des Zinssystems stehen. Derartige Identifizierungen sind unbewußt zuweilen so tief verankert, daß auch die besten Sachargumente an ihnen abprallen.

Gefahr von Kapitalflucht

Angenommen einmal, es würde sich auf demokratischem Weg eine Mehrheit für die Einführung eines alternativen Geldsystems innerhalb einer Volkswirtschaft finden: Welche Probleme würden dann entstehen, wenn das Geldkapital fluchtartig ins Ausland abwandern und in andere Währungen umsteigen würde (Kapitalflucht)? Müßte das nicht zu einem dramatischen Absinken des Wechselkurses, also zu einer Währungskrise führen, über die die betreffende Regierung stürzen könnte?

Ausweichen auf andere Geldvermehrungsmöglichkeiten

Wenn schon die Geldanlage am Kapitalmarkt immer weniger Zins erbringen würde, würde das Geld dann nicht in andere Geldvermehrungsmöglichkeiten drängen, z.B. in Spekulationen der verschiedensten Art? (Zur Vermeidung wachsender Bodenspekulation wird in der freiwirtschaftlichen Bewegung eine Bodenreform gefordert, auf die ich hier nicht näher eingehen will.) Welche Probleme ergeben sich z.B., wenn immer mehr Geld an die Aktienbörsen strömt? Oder in direkte Beteiligungen an Unternehmen? Würden die dadurch möglichen Vermögenszuwächse nicht ebenfalls die sozialen Gegensätze verschärfen?

Regulierung der Geldmenge ohne Leitzins?

Im bisherigen Geldsystem wird die Geldmenge von seiten der Zentralbank wesentlich reguliert durch Veränderungen des Leitzinses (z.B. Diskontpolitik): Erhöhung des Leitzinses, um den Geldzufluß zu drosseln, und Senkung des Leitzinses, um ihn zu erhöhen. (Wir kommen noch ausführlich darauf zu sprechen.) Welches Instrument der Geldmengenregulierung soll - wenn der Zins langfristig auf Null absinkt - an die Stelle des Leitzinses treten? Die Zentralbank müßte auf andere Weise als über Kredite an die Banken das Geld in Umlauf bringen und die Geldmenge flexibel den Veränderungen des Sozialproduktes und des Preisniveaus anpassen können.

Kreditselektion ohne Zins?

Bisher reguliert der Zins das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Krediten. Bei einem Nachfrageüberhang steigt der Zins, bei einem Nachfragemangel nach Krediten sinkt der Zins. Er wirkt auf diese Weise auch als ein Selektionsinstrument: Investitionen, die den geforderten Zins nicht erwirtschaften, können nicht finanziert und realisiert werden. Welches Selektionsinstrument soll an die Stelle des Zinses treten, wenn der Zins auf Null sinkt? Gibt es überhaupt andere Selektionsinstrumente, die die verschiedensten Investitionen auf einen gleichen Nenner bringen und dadurch untereinander vergleichbar machen? Und wenn nicht, sind es dann nur politische Entscheidungen, die der einen oder der anderen Investition den Vorzug geben? Und wenn ja, eröffnet dies nicht neue Gefahren einer sich verselbständigenden Bürokratie und entsprechender Korruption? Wenn aber die Funktion des Leitzinses und seine Funktion als Selektionsinstrument erhalten bleiben sollen, dann kann der Zins langfristig nicht auf Null sinken. (Oder aber das Absinken bezieht sich auf das durchschnittliche Zinsniveau, von dem es differenzierende Abweichungen nach oben und unten geben müßte.) 34

Die Macht der Banken

Wäre es angesichts der Macht der Banken überhaupt gewährleistet, daß die Zinssenkung (die durch den vermehrten Zustrom von Geldkapital zum Kapitalmarkt entsteht) an die Kreditnehmer weitergegeben wird? Könnte es nicht auch dazu führen, daß die Banken zwar die Sparzinsen (für Geldanleger) senken, aber die Kreditzinsen auf dem früheren Niveau belassen und den wachsenden Überschuß als wachsende Bankgewinne einstecken?

Die Macht der Banken scheint insgesamt ein blinder Fleck der Freiwirtschaftslehre zu sein: Sie bleibt fast völlig unangetastet und soll durch ein neues Geldsystem auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Ist dies ein Ausdruck mangelnden Problembewußtseins oder Ausdruck taktischer Überlegungen, daß man sich mit den freiwirtschaftlichen Gedanken und Vorschlägen nicht zu viele Gegner auf einmal schaffen will? Das Wirken marktwirtschaftlicher Prinzipien ist aber wohl in wenigen Bereichen so offensichtlich durch Marktvermachtung gestört wie im Bankensektor. Die Macht der wenigen Großbanken in der Bundesrepublik ist dabei nicht nur auf ihren Anteil am Kreditvolumen beschränkt, sondern beinhaltet vor allem auch deren Einfluß auf Aktiengesellschaften und Konzerne durch Kapitalbeteiligungen und "Depotstimmrecht".

Gewinnorientierung, Konkurrenz, Marktvermachtung und Ausbeutung

Ein weiterer blinder Fleck - und ein noch viel größerer - ist die weitgehende Ausblendung oder Verdrängung des Konflikts zwischen den Eigentümern an Produktionsmitteln und den Lohnabhängigen, wie ihn Marx herausgearbeitet und als "Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital" bezeichnet hat. Die Tatsache, daß Marx die Problematik des Zinses nicht klar erkannt hat, entwertet nicht seine tiefgehende Analyse der Struktur und Dynamik kapitalistischer Systeme, insbesondere seine Aufdeckung der Herrschaftsstrukturen innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses mit der ihm eigenen Fremdbestimmung der Arbeit. Daran würde sich auch durch ein alternatives Geldsystem im Prinzip nichts ändern.

Allerdings würde der Druck, der durch den Zins auf den Unternehmen lastet, erheblich nachlassen, und entsprechend der dadurch bedingte Druck auf die Arbeiter, die Lieferanten und die Abnehmer. Aber dennoch bliebe ein gewisser Druck bestehen und würde unter Aufrechterhaltung einer privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft fortwirken: der Druck der Konkurrenz, dem die einzelnen privatwirtschaftlichen Unternehmen nach wie vor ausgesetzt wären; und der nicht nur belebende, sondern auch spaltende Wirkungen hat: Es bliebe ein Antrieb der Arbeitszersplitterung und Hierarchie, der Trennung von Hand- und Kopfarbeit in den Betrieben und der Entfaltung von Macht auf den Bezugsmärkten bzw. Absatzmärkten. 35 Es darf auch nicht vergessen werden, daß der Wettbewerb oder die Konkurrenz sich nicht nur zwischen annähernd gleichstarken Unternehmen abspielen würde, sonder zwischen einer großen Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen einerseits und wenigen Großunternehmen und Konzernen andererseits mit Dominanz- und Abhängigkeitsstrukturen.

Der privatwirtschaftliche Gewinn ist eben nicht nur Entgelt für unternehmerische Leistungen (Unternehmerlohn) bzw. für die Übernahme von Risiko (Risikoprämie), sondern kann auch eine unsichtbare Prämie für den Aufbau und die Entfaltung von Macht beinhalten: nach innen (gegenüber den Beschäftigten) und nach außen (auf den Bezugs- und Absatzmärkten bzw. gegenüber der Politik). 36 Auch in einer vom Zins befreiten privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft blieben diese Machtstrukturen und ihr Dynamik - wenn auch in abgeschwächter Form - erhalten. Auf sie ist gleichermaßen der Blick zu richten wie auf den Zins und das Geldsystem. Die Aufdeckung eines bis dahin übersehenen und grundlegenden Konflikts durch Silvio Gesell, nämlich des Konflikts zwischen Geldkapital einerseits und der übrigen Gesellschaft andererseits sollte nicht dazu führen, andere bestehende Konflikte zu leugnen und den Blick dafür zu trüben.

Kritisches Verhältnis zu den Gewerkschaften

Die freiwirtschaftliche Bewegung hatte bisher überwiegend ein sehr kritisches Verhältnis zu den Gewerkschaften. Diese sind mit Recht darin zu kritisieren, daß sie wie große Teile der Gesellschaft überhaupt - die Problematik des Zinses bisher nicht erkannt und zum öffentlichen Thema gemacht haben. Aber deswegen auf Distanz zu den Gewerkschaften zu gehen (wie das in Teilen der freiwirtschaftlichen Bewegun geschieht), wird ihrem historischen Verdienst im Kampf um die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen in keiner Weise gerecht. Das blinde Vertrauen in die sozialverträgliche Selbstregulierung des Arbeitsmarktes widerspricht allen histori schen Erfahrungen. Ohne Gewerkschaften hätten wir heute noch Lohn- und Arbeitsbedingungen wie in Zeiten des Frühkapitalismus. Das wird deutlich an den Ländern, in denen Gewerkschaften auch heute noch verboten oder in denen ihre Rechte stark eingeschränkt sind, wie in den meisten Ländern der Dritten Welt. Die Lohnbildung allein dem Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskraft zu überlassen, kann in Zeiten eines Überangebots von Arbeitskräften zu Hungerlöhnen führen, die sogar unter das Existenzminimum fallen und soziale Katastrophen bewirken können. Daran würde ein alternatives Geldsystem ohne Zins im Prinzip nichts ändern.

In einem alternativen Geldsystem würde zwar der durch den Zins verursacht Druck auf die Unternehmen, der an die Lohnabhängigen weitergegeben wird, nachlassen. Aber solange Konkurrenzdruck und privatwirtschaftliche Gewinnorientierunge herrschen, wird das Bestreben der Unternehmen unter anderem dahin gehen, die Löhne als einen Kostenfaktor niedrig zu halten und ein Maximum an Arbeitsleistung aus den Lohnabhängigen herauszuziehen. Selbst wenn durch Ausbleiben von Krisen und Massenarbeitslosigkeit die Marktposition der Lohnabhängigen gestärkt würde, bedürfte es noch auf unabsehbare Zeit der Gewerkschaften, um die entsprechenden Interessen der Lohnabhängigen auch wirksam durchsetzen zu können. Der Arbeitsmarkt - das hat die Geschichte des Kapitalismus immer wieder gezeigt - reguliert sich nicht von selbst, und wenn er es tut, dann mit der Folge unermeßlichen sozialen Elends. Wenn der Lohn unter das Existenzminimum absinkt, hat der Lohnabhängige eben nicht (wie der Geldkapitalbesitzer bei niedrigen Zinsen) die Möglichkeit, sein Angebot zu verweigern, sondern er muß seine Arbeitskraft trotzdem anbieten, und sogar noch im verstärktem Maße. Die freiwirtschaftliche Bewegung sollte nicht der Illusion anhängen, als könnte in einem alternativen Geldsystem ein "freier" Arbeitsmarkt die sozialen Probleme von selbst lösen. Solange sie derartige Illusionen verbreitet, wird sie mit Recht von Seiten der Gewerkschaften auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Dies aber macht es schwierig, daß wichtige und richtige Einsichten der Freiwirtschaftler (in die Problematik der herrschenden Geldordnung und Bodenordnung) in gewerkschaftliche Kreise einfließen und sich so in der Arbeitnehmerschaft ausbreiten. Ein Teil der Isolierung und bisherigen politischen Wirkungslosigkeit der freiwirtschaftlichen Bewegung scheint mir insofern auch selbst verschuldet zu sein, weil von ihr teilweise falsche Fronten und von der Sache her unnötige Verhärtungen aufgebaut worden sind. Trotz dieser offenen Fragen in bezug auf eine neue Geldordnung und der kritischen Vorbehalte gegenüber der Freiwirtschaftslehre scheint mir eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Problematik der herrschenden Geldordnung und des Zinssystems - und mit der Suche nach einem "Dritten Weg" anstelle von Kapitalismus und Sozialismus - dringend geboten. Heutzutage vielleicht mehr denn je. 37


34 Ein interessanter Gedanke in diesem Zusammenhang stammt von Erhard Glötzl. Er plädiert für eine Entkoppelung von Soll- und Habenzinsen. Letztere sollen durch Einführung einer "Geldnutzungsgebühr" abgebaut werden und auf diese Weise die Eskalation der Geldvermögen und Verschuldung auflösen. Erstere sollten in Form einer "Kreditgebühr" als Steuerungsinstrument für die Kreditnachfrage dienen. Siehe hierzu seinen Artikel "Über die (In-)Stabilität unseres Geld- und Wirtschaftssystems aus der Sicht eines Technikers", SBL, Gruberstr. 40-42, A-4010 Linz.

35 Diese von der Gewinnorientierung ausgehenden Tendenzen habe ich ausführlich abgeleitet in meiner "Kritik der marktwirtschaftlichen Ideologie", FHW Berlin 1980.

36 Diese Zusammenhänge haben mich schon 1979 beschäftigt, in dem Kapitel "Der Gewinn als ökonomischer Hebel" in: Bernd Senf, Dieter Timmermann: Denken in gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen Band 2, Bonn-Bad Godesberg 1971.

37 Zur Vertiefung dieser Fragen siehe vor allem "Der Dritte Weg" - Zeitschrift für die natürliche Wirtschaftsordnung" (Redaktion: Erftstr. 57, 45219 Essen) sowie "Zeitschrift für Sozialökonomie", Gauke-Verlag, PF 1320, 24319 Lütjenburg.


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