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Auszug aus:

 

Wolfgang Broer:

                Schwundgeld. Bürgermeister Michael Unterguggenberger und

                das Wörgler Währungsexperiment 1932/33

                Studienverlag Innsbruck-Wien-Bozen

                2007, 398 Seiten, 34,90 Euro

                ISBN 978-3-7065-4472-6

 

 

 

 

 

 

„Man muss die äußerste Möglichkeit, die man in sich trägt,

 zum Maßstabe seines Lebens machen.

Denn unser Leben ist groß

 und es geht mehr Zukunft hinein, als wir tragen können,“

(Rainer Maria Rilke)

 

Prolog

Der sanfte Rebell,

welcher der Welt ein Zeichen gab

 

 

Wovon dieses Buch erzählt, hätte sich so niemand ausdenken können. Die Geschichte erwählt sich einen Tiroler Marktflecken als Kulisse, um ein Stück Welttheater zu veranstalten. Sie verteilt geschickt die Rollen auf die vorfindbaren Personen, die dafür wie bestimmt scheinen. Sie lässt Charaktere aufeinanderprallen, sie schürt die Konflikte, steigert die Spannung, lässt alles effektvoll dem Höhepunkt zustreben und tragisch ausklingen. Wieder einmal erweist sich: „In der Geschichte bewundern wir die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten.“ [1]

Es ist die Geschichte des Bürgermeisters Michael Unterguggenberger aus der Gemeinde Wörgl im Tiroler Unterinntal,  als Sohn eines Arbeiters am 15. August 1884 in Hopfgarten in ärmliche Verhältnisse hinein geboren.

 

Er wird – laut einer Wiener Zeitung – in den Jahren 1932/33 neben Wiens Bürgermeister Karl Seitz zum bekanntesten Gemeindevorsteher Österreichs aufsteigen [2] und für eine kurze Zeitspanne sogar noch berühmter sein als dieser. Das Wiener „12-Uhr-Blatt“ schreibt: „Wörgl hat plötzlich Weltbedeutung erlangt. Unterguggenberger ist im Begriff, eine geschichtliche Persönlichkeit zu werden.“  1933 soll sogar ein Film  über ihn gedreht werden. Der Schriftsteller Hans Jüllig plant im Sommer 1933 für einige Monate in ein Bauernhaus in der Umgebung Wörgls zu ziehen, um einen Roman zu schreiben , „der Ihr Leben und Wirken zum Inhalt hat.“[3] 1951 wird der Dramatiker Wilhelm Merks den Bürgermeister in einem Schauspiel vorkommen lassen, das den Titel „Der Tyrann. Das Wunder von Wörgl“ trägt.[4] Am 25. März 1999 dreht die größte japanische Fernseh-Anstalt NTV eine große Dokumentation über den Freigeldversuch in Wörgl.

 

Auf diesen Mann werden  in den Dreißiger Jahren die Hoffnungen so vieler geworfen.  Die Menschen glauben, er habe mit einem in seiner Gemeinde gestarteten Aktion ein Heilmittel gegen die Wirtschaftskrise gefunden. 

 

Dieses Experiment von Wörgl, das Unterguggenberger auf den Weg bringt, entlehnt einen, einen einzigen Gedanken des deutschen Wirtschaftstheoretikers Silvio Gesell und passt ihn der politischen und sozialen Wirklichkeit in seiner Gemeinde an. Dieser Gedanke besteht im wesentlichen darin, eine nur im Gemeindegebiet geltende zweite Währung neben der offiziellen einzuführen. Diese Zweitwährung verliert monatlich 1 Prozent an Wert. Um diesem Wertverlust zu entgehen, geben die Menschen verständlicherweise dieses „Schwundgeld“ rasch wieder aus. Mit einem mal also lassen die Menschen das Geld rasch zirkulieren, anstatt es wie zuvor – wegen hohen Zinsertrages oder aus Angst vor noch schlechteren Zeiten – zu horten und damit der Volkswirtschaft zu entziehen. Das so träge Geld, das im übrigen Österreich buchstäblich in Strohsäcken und im Sparstrumpf faul herumlungert, bekommt plötzlich Beine. Es lernt wieder laufen. Die Folge: Die lokale Wirtschaft blüht auf, das Steueraufkommen des Marktes wächst wieder, die Gemeindeväter können daher Arbeit an Arbeitslose vergeben – im Kleinen wird so ein sich selbst verstärkender Kreislauf zur Gesundung einer kranken Ökonomie in Gang gesetzt. Und das funktioniert erstaunlich gut unter den Bedingungen der Deflationspolitik, die damals betrieben wird.[5] Diese deflationistische Wirtschaftspolitik mit ihren verheerenden sozialen Folgen hat zur Ausschaltung des Parlamentes im März 1933 und zum Bürgerkrieg im Februar 1934 einen sehr wesentlichen Beitrag geleistet.[6]

 

Die Menschen jener Zeit, die von diesem Wörgler Experiment in  Österreich und in aller Welt hören und lesen, projizieren in Unterguggenberger und seine Tat „Wunderbares“. Sie wünschen und erhoffen sich doch sehnlichst nur eines –  dass es nämlich ein Entrinnen aus diesem Chaos einer auf den Kopf gestellten Welt gäbe, deren politische Führer und Wirtschaftslenker Millionen Menschen keine Arbeit und kein Brot geben können.

 

Unterguggenberger ist für den französischsprachigen Journalisten Claude Bourdet [7] „ein Teufelskerl.“ [8] In der Tat gelingt es ihm in dem politisch zerrissenen Österreich der Dreißiger-Jahre ein Stück politischer und sozialer Utopie zu verwirklichen, eines „Teufelskerls“ wahrhaft würdig: Alle Entscheidungen im Gemeinderat werden einstimmig getroffen. Ein sozialdemokratischer Bürgermeister hat die uneingeschränkte Unterstützung des Ortspfarrers und seines Kooperators, auch des lokalen Heimwehrführers. „Und das in einem gesamtösterreichischen Klima, das knapp eineinhalb Jahre später zum Bürgerkrieg führt.

Hätte jene Phantasie und jener Gemeinsinn, den Wörgl zeigte, die später folgenden tragischen Februarereignisse von 1934 verhindern können?“, fragt der Historiker Josef Nußbaumer. [9] Der Schweizer J. B. Rusch in seinen „Republikanischen Blättern“ meint gar, Österreich wäre „frei und unabhängig geblieben“, wenn das Experiment von Wörgl auf ganz Österreich ausgedehnt worden wäre. Das ist eine sicherlich gefällige, aber wissenschaftlich nicht beweisbare These.[10] Wahr aber bleibt: „Ein echter Friede kann nicht erreicht werden, ohne dass große Teile der Bevölkerung Wege aus der Armut finden.“[11]

 

Unterguggenberger stirbt im Dezember 1936. Es wird fast zwei Jahrzehnte dauern, bis sich die Nebel des Vergessens langsam heben und nach dem Zweiten Weltkrieg erste Publikationen über ihn und sein Wörgler Freigeld-Experiment erscheinen.

 

Das überrascht nicht. Was der Wirtschaftstheoretiker Silvio Gesell vor fast einem Jahrhundert als Grundlage seiner Erkenntnis in 18 Bänden formuliert hat und der Praktiker Unterguggenberger in den Dreißiger-Jahren in Wörgl umsetzt, hört nicht auf Bezug auf unsere Gegenwart zu nehmen und wird in modernen wirtschaftswissenschaftlichen Büchern erneut thematisiert. „Das Zinssystem bewirkt auf unsichtbare und den meisten unbewusste Weise eine ständige Umverteilung von unten nach oben. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass jeder vom Zinssystem profitiere, wenn er nur irgendwelche Zinserträge bezieht, profitiert davon tatsächlich nur eine kleine Minderheit, die große Mehrheit der Bevölkerung sind die Leidtragenden oder jedenfalls die Verlierer des Zinssystems.“[12] So der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Bernd Senf, Professor für Volkswirtschaftslehre in Berlin. „Kredit bedeutet Zins und Zins heißt mehr einfordern, als gegeben wurde.“[13] Als notwendig erkannt wird in unserer Zeit auch wieder die „Förderung kleinräumigen Wirtschaftens,“ also genau das, was seinerzeit in Wörgl durch das Schwundgeld geschehen ist.[14]

 

In der Enzyklika von Pius XI. aus dem Jahre 1931 heißt es, bezogen auf die damaligen Zustände: „Vor allem fällt aller Augen auf, dass sich in unserer Zeit nicht bloß Reichtümer, sondern eine ungeheure Macht und Diktaturgewalt anhäuft bei nur einigen wenigen, die meistens nicht einmal Eigentümer, sondern bloß Verwahrer oder Verwalter anvertrauten Gutes sind und dieses nach ihrem Wink und Willen leiten. Am schärfsten wird diese Macht ausgeübt von jenen, die als Besitzer und Beherrscher des Geldes auch die Oberherrschaft besitzen über den Zinskredit und in der Geldleihe unumschränkte Gebieter sind. Infolgedessen verwalten sie gewissermaßen das Blut, durch das die ganze Wirtschaft lebt, und drehen und wenden gleichsam die Seele der Wirtschaft so mit ihren Händen, dass gegen ihren Willen niemand schnaufen kann.“ Das klingt wie für das ausgehende 20. und begonnene 21. Jahrhundert geschrieben, da täglich 1,5 Billionen Dollar virtuell rund um den Globus jagen und deren Besitzer sich nicht um Grenzen, Staaten und Regierungen kümmern, denen soziale Verantwortung ein Fremdwort ist und die nur nach Profitmaximierung gieren, ohne Produktionsmittel oder Arbeit zu schaffen.

 

Die Geschichte, die hier nacherzählt werden wird, beginnt mit einem puren Zufall. Weil die gegnerischen politischen Fraktionen in Wörgl gleich stark sind, muss Ende Dezember 1931 das Los über die Wahl des neuen Bürgermeisters entscheiden. Es fällt auf  Michael Unterguggenberger.

 

Was von den Zeitungen der Zeit damals als „Wunder von Wörgl“ bezeichnet und von Unterguggenberger und seinem Team 1932 in Gang gebracht wird, ist kein „Wunder“. Es wird ja nur von einem Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen vollbracht.

Später werden viele Journalisten, teils in berufsmäßiger Übertreibung, teils in echtem Überschwang, den Bürgermeister der Jahre 1931 bis 1934 zum „Zauberer von Wörgl“[15] hochstilisieren und ihm fast magische Kräfte andichten. Aber Unterguggenberger, der „Zauberer von Wörgl“, vollbringt keine Kunststücke. Er setzt nur sein über Jahre erworbenes Wissen ein. Er hat nur seine politische Überzeugungskraft und sein als Gewerkschaftsführer vielfach erprobtes Geschick im Umgang mit Menschen und Behörden zur Verfügung. Dass der Tiroler Ort für fast ein Jahr zum „Mekka der Ökonomen“ wurde, wie die französische Zeitung „L’Illustration“ damals titelte [16], dafür steht diesem „Zauberer“ Michael Unterguggenberger keine magische Kraft zur Verfügung, sondern nur sein nüchterner Sinn. Er hat beileibe keine Wundermittel zur Hand, sondern nur seine Vision von einer besseren Welt.

Jedenfalls wagt er mit der Ausgabe von „Schwundgeld“ etwas, was schließlich 170, nach anderen Quellen gar an die 200 Gemeinden in Österreich übernehmen wollen oder zumindest mit diesem Gedanken spielen. Das Wörgler Experiment greift aber nicht nur über die Grenzen  der Tiroler Heimat Unterguggenbergers hinaus, sondern auch über jene Österreichs.

Es ist eine Tat, die in der gesamten europäischen Presse der Zwischenkriegszeit beachtlichen Niederschlag findet. Sie zieht den französischen Ministerpräsidenten Edouard Daladier in Bann, der 1934 sogar persönlich nach Wörgl kommt. Sie fasziniert den amerikanischen Dichter Ezra Pound, der dem Wörgler Experiment einen Gesang seiner weltberühmten „Pisaner Cantos“ widmet. Wörgl schlägt sogar jenseits des großen Teiches, in den Vereinigten Staaten, seine Wellen. 22 amerikanische Städte eifern 1933 dem Wörgler Beispiel nach. Im US-Senat und auch im Repräsentantenhaus wird ein Gesetzesantrag eingebracht, in dem die Einführung von Schwundgeld nach den Ideen Gesells und dem Wörgler Vorbild gefordert wird.[17] Auch in der Tschechoslowakei  entschließen sich „eine Anzahl Gemeinden eine Art Schwundgeld auszugeben. Auch im Fürstentum Liechtenstein gibt es Überlegungen, das zu tun. Ebenso im Fürstentum Monaco, in Paris und in Nizza. Die Schweiz, in der ebenfalls einige Städte „Freigeld“ ausgeben wollen, verbietet Unterguggenberger sogar die Einreise. Die Eidgenössische Regierung und die Banken wollen nicht, dass in ihrem Lande das „Wörgler Währungsfieber“ um sich greift.

Der Wind der Geschichte wird diese Wörgler Ideen weithin tragen – und sie werden sich in der Ferne als Samenkorn erweisen. Im Königreich Jugoslawien (genauer auf dem Gebiet Serbiens), in Frankreich und Spanien werden beispielsweise noch 1934, 1935 und 1936 Gemeinden dem Tiroler Ort nacheifern.

Und auch in Unterguggenbergers Heimat, in Österreich, wird nach mehr als 70 Jahren im Waldviertel und in Graz wieder mit einer Art „Schwundgeld“ experimentiert, ebenso wie in den USA, in fast ganz Europa, in Südamerika und Japan und in einigen Schwellen – und Entwicklungsländern. 1996 gab es weltweit an die 2000 alternative Geld- und Tauschsysteme, die letztendlich alle von Gesells Theorien und der Praxis von Wörgl ausgehen. [18] Heute sind es geschätzte 4000 Komplementärwährungen weltweit. Das Wörgler Beispiel ist also nicht nur „abgelegte“ Geschichte.

Ohne sich selbst dessen bewusst zu sein oder es gar theoretisch zu begründen, hat nämlich Unterguggenberger in der Praxis den „komplementären Währungskreislauf“ mit erfunden[19], der sich heute in Tausenden alternativen Geld- und Tauschsystemen rund um den Globus manifestiert. Der Wörgler Bürgermeister legt die Grundlage für das, was später theoretisch abgesichert und heute vom Internet-Lexikon „Wikipedia“ so formuliert wird: „Eine Komplementärwährung ist die Vereinbarung innerhalb einer meist kleinen Gemeinschaft, etwas zusätzlich neben dem offiziellen Geld als Tauschmittel zu akzeptieren. Diese zusätzliche Währung kann sowohl eine Ware, eine Dienstleistung oder eine geldäquivalente Gutschrift sein. Sie wird in dem Sinne als Geld aufgefasst, dass sie die ursprüngliche und eigentliche Funktion des Geldes als Tauschmittel erfüllt. Ziel einer solchen Vereinbarung ist es, bestehende soziale, ökonomische und ökologische Ungleichgewichte zu kompensieren, die sich aus der Monopolstellung der offiziellen Währung bei lang andauernder Knappheit ergeben, ohne die Standardwährung gänzlich verdrängen zu wollen.“[20]

Was hat zu dieser „Erfindung“ in und aus der Praxis geführt? Ganz sicherlich viele Umstände, aber vor allem eines: Als neu gewählter Bürgermeister von Wörgl fühlt sich Unterguggenberger sowohl politisch als auch moralisch für die Menschen seiner Gemeinde und in der näheren Umgebung verantwortlich. Er, der die Autobiographie des amerikanischen Industriellen Henry Ford [21] aufmerksam gelesen hat, muss wohl auch darin auf Sätze wie diese gestoßen sein: „Vor allem glaube ich, dass...der Absatz unserer eigenen Waren bis zu einem gewissen Grade von den Löhnen, die wir zahlen, abhängig ist. Sind wir imstande, hohe Löhne auszuschütten, wird auch wieder mehr Geld ausgegeben, das dazu beiträgt, die Ladeninhaber, Zwischenhändler, Fabrikanten und Arbeiter anderer Industriezweige wohlhabender zu machen, und ihre Wohlhabenheit wird auch auf unsern Absatz Einfluss haben. Hohe Löhne aller Orten sind gleichbedeutend mit allgemeinem Wohlstand.“

 

Aber in der Zwischenkriegszeit wird genau gegenteilig verfahren und es klingt in manchem wie eine Warnung vor den Verhältnissen heute, was Johann Schorsch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schreibt: „Es ist ein tragisches Verhängnis, dass unsere Wirtschaftsführer ...eingesponnen in das Dogma der Unfehlbarkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung... nicht sehen oder nicht sehen wollen, wohin die Entwicklung treibt. Sie predigen nach wie vor die Rettung durch Erniedrigung der Löhne und Gehälter, Verlängerung der Arbeitszeit, Abbau der sozialen Einrichtungen und setzen ihre ganze Hoffnung auf den Export.“[22]

 

Die Politiker der 30er-Jahre standen fassungs-, und ratlos „vor einem Rätsel, dem Rätsel der Arbeitslosigkeit...des furchtbaren Paradoxons einer Not im Überfluss,“ wie es der Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien, Dieter Stiefel, in seiner grundlegenden Arbeit über jene Zeit formuliert. [23] „Es ist das Schlimme bei uns,“ sagt der damalige Führer der österreichischen Sozialdemokraten, Otto Bauer, in einer Parlamentsdebatte, “dass wir seit Jahren an die Arbeitslosigkeit gewöhnt sind, dass wir darum gegen dieses entsetzliche Übel abgestumpft sind und dass deswegen die Öffentlichkeit die Schreckenszahlen der jetzigen Arbeitslosigkeit mit mehr Gleichmut hinnimmt, als das in anderen Ländern geschieht.“[24]

 

Es sind diese Fragestellungen und Probleme, mit denen Unterguggenberger in der Praxis, in seinem politischen Alltag konfrontiert ist. Und sie bleiben unverändert aktuell, wie ein Interview mit dem Chef der Drogeriekette DM für die „Stuttgarter Zeitung“ im Oktober 2005 zeigt, in dem dieser auf eine heute wie damals aktuelle Grundwahrheit hinweist: „Was ist die eigentliche Aufgabe der Wirtschaft? Die erste – sie muss Menschen mit Gütern und Dienstleistungen versorgen. Die zweite Aufgabe – die Wirtschaft muss diese Güter nicht nur produzieren, sie muss die Menschen auch mit ausreichend Geld ausstatten, damit sie diese Güter konsumieren können.“

 

Das geschieht heute nur unzureichend. In der Epoche der wirtschaftlichen Depression und durch die Politik der Deflation, in der Österreich und fast alle europäischen Staaten Anfang der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts stecken, geschieht es eben gar  nicht. Die Wirtschaft und Politik nimmt diese ihre zweite Aufgabe nicht wahr. Es ist eine „Wirtschaft, die arm macht“, wiewohl es ihre Aufgabe wäre, das Gegenteil zu erreichen.[25] Wirtschaft soll „Wohlstand für alle“ schaffen – so der Titel des Buches des „Vaters des deutschen Wirtschaftswunders“ Ludwig Erhard, in welchem er schreibt: „Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.“

 

Von 1929 bis 1933 steigt die Zahl der Arbeitslosen in Österreich von 192.000 auf 557.000, das  sind 25 % der Arbeiterschaft – jeder vierte Berufstätige ist also betroffen. Die Wirtschaftspolitik jener Jahre gereicht den Menschen wahrhaft nicht zum Nutzen und Segen. Auch in der 4200-Seelen-Gemeinde Wörgl ist jeder Vierte arbeitslos.

 

Unterguggenberger weiß aus eigener Anschauung, dass viele dieser Arbeitslosen in seiner Gemeinde und ihrer Umgebung schuldlos hungern und frieren. Sie sehnen sich nach nichts mehr als nach Arbeit und nach diesem kleinen Glück, das so wenig braucht. Als neuer Bürgermeister hat er nun, ob er es will oder nicht, eine große Verantwortung.

 

Unterguggenberger mag sich in diesen ersten Tagen und Monaten seiner Amtszeit nur wie ein Glied in einer Stafette der Ohnmacht gefühlt haben, die nicht zu unterbrechen ist und wo jedes Glied die Verantwortung mit hilflosem Achselzucken an das nächste weiterreicht. Die Gemeinde kann den Menschen nicht helfen, weil sie eigentlich bankrott ist, und die Landesbehörden können nicht helfen, weil das Geld knapp ist und aus allen Städten und Dörfern Hilfe angefordert wird, und die Regierung und die zuständigen Minister in Wien sagen, sie könnten nichts tun, weil die weltwirtschaftliche Lage so ist wie sie ist und die Verhältnisse eben so sind wie sind: Millionenheere von Arbeitlosen, Industrieruinen und Fabrikfriedhöfe in fast ganz Europa und in Amerika.

 

Wiederum verweist das auf die Aktualität dieser Geschichte, weil sich – damals wie jetzt – „der Staat, um den Vermögensbereich der Reichen zu bedienen, das Geld von den Armen holt. Geld will immer zu Geld....Der Geldstrom fließt immer vom Bedarf weg zum Überfluss hin. Von den Schuldenbergen hin zu den Vermögensbergen.“[26]

 

Was Unterguggenberger erlebt, teilt er mit vielen Menschen seiner Zeit, die sich damals – wie heute – einreden oder einreden lassen: Die Ursachen der Krise liegen außerhalb deines Einflussbereiches und deiner Wirkungsmöglichkeiten. Es wird immer Arme geben, die leiden müssen, und Reiche, die angenehm und sorglos leben. Die Welt ist eingeteilt in Gewinner und Verlierer. Du kannst nichts tun. Deine bescheidenen, wiewohl berechtigten Wünsche bringen kein Gewicht auf die Waage der Welt.

 

Aber Unterguggenberger ist ein Mann, „der nicht glaubt und wirklich anerkennt, was er nicht verstehen und begreifen kann, der nicht glaubt, wenn sich ihm etwas Unverständliches, wenn sich Lücken oder Widersprüche zeigen.“ [27] Das aber  heißt Fragen stellen und in Frage stellen: Sind die Gesetze der Wirtschaft wirklich so unverrückbar in ihrer Logik?  Sind sie oft nicht gerade zu widersinnig und unmenschlich? In Brasilien werden 1931 die Dampfloks statt mit Kohle mit Kaffeebohnen geheizt oder man wirft die Kaffeesäcke gleich tonnenweise ins Meer,  um den Preisverfall zu dämpfen und die Kosten für Lagerhaltung zu senken.  Aber in Europa, auch in Österreich, können sich die armen Leute keine Tasse warmen Kaffee leisten. Er ist fast unerschwinglich teuer. In Argentinien und den USA heizt man in diesem Jahr der Weltwirtschaftskrise die Lokomotiven mit Weizen, während in China zwei Millionen Menschen verhungern.  [28]

 

Diese wirtschaftliche Logik ist nicht von Gott gegeben. Diese angeblichen ökonomischen Notwendigkeiten sind nicht nach der Art physikalischer Naturgesetze, sondern von Menschen gemacht. Und was von Menschen gemacht ist, lässt sich auch ändern. Und es muss geändert werden. War nicht im 19. Jahrhundert die Kinderarbeit, selbst unter Tage, eine „wirtschaftliche Notwendigkeit“? Argumentierten die Sklavenhalter des amerikanischen Südens nicht für die Aufrechthaltung dieses erbärmlichen Zustandes, weil sonst die „Wirtschaft zusammenbrechen“ würde? Waren nicht bis 1870 in der österreichisch-ungarischen Monarchie Gewerkschaften und Streiks verboten gewesen, weil – wie es die kaisertreuen Zeitungen damals formuliert hatten –  dies der „natürlichen Ordnung widerspricht, und nur in einer solchen kann sich die Wirtschaft gedeihlich und zum Wohle aller entwickeln.“ Und nun existieren Gewerkschaften und es gab und gibt Streiks. Nichts von all diesen Behauptungen ist also wahr gewesen, mag sich Unterguggenberger gedacht haben. Die „Gesetzmäßigkeiten“ und die unverrückbaren Ordnungen, die angeblich „heiligen Wahrheiten“, sie alle waren nur vorgeschoben, um Reichtum und Macht einiger weniger zu sichern.

 

Und Unterguggenberger erkennt, wie viele vor ihm und viele nach ihm erkennen: Wer das Bestehende, das nicht gut ist, zum Besseren ändern will, ist gelegentlich auch dazu verurteilt, geltendes Recht zu brechen. Oder es wenigstens herauszufordern. Und so fordert er das Banknotenprivileg der Nationalbank heraus.

 

In einem Leserbrief an die schweizerische „Wiler Zeitung“ wird der Wörgler Bürgermeister ironisch-polemisch  fragen: „ Dass ich mir der Unrechtmäßigkeit meines Tuns bewusst war, wie Sie schreiben, fordert eine Ergänzung. Die bestehenden Paragraphen, weltfremdes Menschenwerk, waren allerdings gegen mich, aber das Recht der Not war für mich....Zu Ihren weiteren Wendungen in Ihrem Artikel wie ‚Machenschaften’, ‚auf gesetzwidriger Grundlage aufgebaut’, ‚krumme’ Wege usw. stelle ich die höfliche Frage, wie man sich denn zu allen Zeiten aus der tödlichen Umklammerung überlebter Paragraphen und Zustände befreit hat? Haben sich nicht vielleicht auch Andreas Hofer oder Wilhelm Tell ungesetzliche Machenschaften zuschulden kommen lassen? Sind nicht auch sie krumme Wege gegangen?“[29]

 

Unterguggenberger wird sich in den Tagen der inneren Entscheidungsfindung wohl auch gesagt haben: Du musst selbst die Veränderung sein, die du in der Welt sehen willst. Dieser Satz des großen indischen Politikers und Freiheitshelden Mahatma Gandhi gilt unverändert fort, bis heute.

 

Für den Wörgler Bürgermeister heißt das in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts ganz konkret: Suche dir Verbündete und nehme sie mit auf deinen Weg der stillen, aber beständigen Empörung gegen die „Tyrannei der Tatsachen“. Auf dich ist das Los gefallen! Du hast die Verantwortung, also nehme sie auch wahr!

 

Wie aus einigen Briefen hervorgeht, weiß der Wörgler Bürgermeister, dass ihm sein Projekt verboten werden könnte. Er ahnt, dass er scheitern könnte. Aber das ist ihm kein Hindernis. Hier gleicht er der Figur aus Manés Sperbers Roman „Tiefer als der Abgrund“, die  erkennt: “Wir mögen verloren sein, aber unsere Sache selber ist unverlierbar. Wir waren Nachfolger, wir werden Nachfolger haben.“

 

Unterguggenberger will zumindest etwas zur Linderung der Not versuchen. Er wird dabei keine Gewalt anwenden, sondern sich der Gewalt beugen, wenn sie denn eingreifen sollte. Er wird sich sogar dem Spruch des geltenden Rechtes unterordnen, auch wenn er es für menschenfremd, ja menschenfeindlich einschätzt. Er wird ein stiller und sanfter Rebell sein.

 

Und so nimmt die Geschichte, die hier nacherzählt werden soll, ihren Lauf.

 

 

 

 



[1] Stefan Zweig in seinem Vorwort für sein Buch „Sternstunden der Menschheit“

[2] So sieht es jedenfalls der „Wiener Tag“, 20. Juni 1933

[3] Brief Hans Jülligs an Michael Unterguggenberger, datiert Wien, 6. Jänner 1933. Er verlangt, dass der Wörgler Bürgermeister zusagt, dass „sie alles entsprechende Material niemanden außer mir übergeben.“ Das dürfte wohl u.a. der Grund gewesen sein, dass aus dem Roman nie etwas wurde.

[4] Hömbergs Kaleidophon, am 17. Mai 1974, ORF 1; 19.45 Uhr. Das Buch: Ein Tyrann. Das Wunder von Wörgl: Schauspiel von Wilhelm Merks, im Selbstverlag 1951 erschienen, existiert; jedoch ist es weder auf der Wiener Universitätsbibliothek noch auf der Österreichischen Nationalbibliothek noch im Verbund gesamtösterreichischer Bibliotheken noch in Städtischen Bibliotheken greifbar. Email vom 25. Jänner 2006 von Mag. Kathrin Müller,  Stud.ass. Fachbereichsbibliothek  am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an den Verfasser. In der Freiwirtschaftlichen Bibliothek der Freien Universität Berlin und auch im Unterguggenberger-Institut in Wörgl gibt es aber  je ein Exemplar.

[5] Unter Deflation versteht man den volkswirtschaftlichen Zustand eines allgemeinen und anhaltenden Rückgangs des Preisniveaus sowohl für Waren als auch Dienstleistungen. Deflationspolitik ist darauf gerichtet sowohl den Wert der Währung als auch der umlaufenden Geldmenge stabil zu halten und die Budgetausgaben zu limitieren. Aus einer deflationären Situation gelangt eine Volkswirtschaft vornehmlich durch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und massive Investitionsprogramme des Staates.

[6] Das Jahr 1934: 12. Februar. Protokoll des Symposiums in Wien am 5, Februar 1974 (hrsg. von Ludwig Jedlicka und Rudolf Neck), Wien 1975, S. 98

[7] Eigentlich ist Bourdet als Dipl. Ing. an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich in tätig

[8] L’Illustration (Paris), 9. September 1933

[9] Josef Nußbaumer: Als Wörgl ein Wallfahrtsort für Volkswirtschafter war. Ein Beitrag zur sozialen Phantasie. In: Gaismair-Kalender, Innsbruck 1986, S.81- 83

[10] zitiert nach Fritz Schwarz: Das Experiment von Wörgl; Bern 1951 (download unter www.geldreform.de)

[11] Begründung des Nobel-Komitees für die Verleihung des Friedensnobelpreises 2006 an Mohammed Yunus, dem Erfinder der Mikro-Kredite. Zitiert nach Der Standard (Wien), 14./15. Oktober 2006, S.3

[12] Bernd Senf: Die blinden Flecken der Ökonomie. Wirtschaftstheorien in der Krise, München 2004, S. 179

[13] Erich Kitzmüller und Herwig Büchele: Das Geld als Zauberstab und die Macht der internationalen Finanzmärkte, Wien-Münster 2005

[14] Erich Kitzmüller und Herwig Büchele: Das Geld als Zauberstab und die Macht der internationalen Finanzmärkte, Wien-Münster 2005.

[15] Das 8-Uhr-Blatt, Wien, 31. Mai 1933

[16] L’Illustration (Paris), 9. September 1933

[17] NBC, 17. Februar 1933: „Worüber man in Amerika spricht“.

[18] Bernhard A. Lietaer: Das Geld der Zukunft, 1996, S. 229-358

[19] Miterfunden deshalb, weil laut Bernhard A. Lietaer („Das Geld der Zukunft“) in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts auf der ganzen Welt Komplementärwährungen geschaffen wurden, so auf auf dem Baltikum, in Bulgarien, Dänemark, Ecuador, Italien, Kanada, Mexiko, den Niederlanden, Rumänien, ja sogar in China und Finnland, ganz zu schweigen von den USA, wo es 1837, 1861-65, 1873, 1893 und vor allem 1907 immer wieder solche Währungsexperimente gab.

[20] Siehe auch Margrit Kennedy, Bernard A. Lietaer: Regionalwährungen. Neue Wege zu nachhaltigem Wohlstand. Riemann-Verlag München 2004

[21] Henry Ford and Samuel Crowther: My life and work (dt. Mein Leben und Werk, Hamburg 1923)

[22] Johann Schorsch: Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit. In: Arbeit und Wirtschaft, 1939, Seite 923

[23] Dieter Stiefel: Arbeitslosigkeit. Soziale und politische Auswirkungen am Beispiel Österreichs 1918-1938. Schriften zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1979, Seite 13

[24] Otto Bauer: Stenographische Protokolle des Nationalrates, 21. Sitzung, 6. März 1931, Seite 670

[25] Horst Afheldt: Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft. München 2003. Afheldt war von 1960 bis 1970 Geschäftsführer der Vereinigung deutscher Wissenschafter

[26] Günther Moewes: Geld oder Leben. Umdenken und unsere Zukunft nachhaltig gestalten. München 2004

[27] Fritz Schwarz: Das Experiment von Wörgl. Bern 1951, S. S.20

[28] Dietmar Rothermund: Die Welt in der Wirtschaftskrise 1929-1939, Münster/Hamburg 1993, S. 84

[29] Wiler Zeitung (Wiel), 27. Oktober 1933