Norbert Blößner - Materialien und Arbeitsschwerpunkte



 

A. Materialien

B. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte:


Epische Wiederholungen (Iterata)

Die erhaltenen frühgriechischen Epen (Ilias, Odyssee, Homerische Hymnen, Hesiod, Fragmente des epischen Kyklos) bestehen zu einem erheblichen Teil aus wiederholten Wortgruppen (Iterata). Vorgeschlagen hat man für diese Tatsache vier Deutungen:

Im Einzelfall lässt sich keine dieser Möglichkeiten von vornherein ausschließen; neben Iterata, die aufgrund der Gesetzmäßigkeiten mündlicher Dichtung zustandekommen (Deutungen 1 und 2) kann es ohne weiteres auch Fälle von Intertextualität geben (Deutungen 3a und 3b). Dogmatische Behauptungen führen nicht weiter. Man muss den Einzelfall prüfen.

Deutung 3b unterscheidet sich von den drei anderen Deutungen darin, dass sich aus ihr eine relative Chronologie für erhaltene Textpartien ergibt: Wenn Stelle B in Kenntnis von Stelle A entstanden ist, so ist B jünger als A. Es ist leicht zu sehen, dass sich hier theoretisch eine Möglichkeit bietet, die alte ("homerische") Frage nach der Genese der erhaltenen epischen Texte auf empirischem Wege neu anzugehen und sich damit von den Paradigmata der drei miteinander um die Deutungshoheit über das Epos ringenden Forschungsrichtungen Analyse, Neoanalyse und oral poetry-Forschung unabhängig zu machen. Umsetzbar ist diese Möglichkeit allerdings nur dann, wenn sich Iterata der Kategorie 3b tatsächlich finden lassen und wenn man den Nachweis für die Richtigkeit von Deutung 3b in solchen Fällen auch stringent führen kann.

Die gezielte Suche nach Iterata eines bestimmten Typs ist möglich geworden durch ein Regensburger Homerprojekt unter Leitung von Ernst Heitsch und Franz Xaver Strasser. Seit etwa 1970 wurde mit EDV-Hilfe eine lemmatisierte Gesamtkonkordanz zur frühgriechischen Epik erarbeitet, die sämtliche überlieferten Varianten und Lesarten einbezieht. Auf dieser Grundlage ruht ein vollständiges maschinenlesbares Verzeichnis der epischen Iterata, deren Zahl, wie sich herausstellt, bei fast 20.000 liegt. Aus diesem umfangreichen Material lassen sich gezielt solche Iterata herausfiltern, deren Frequenz und Verteilung die Deutungen 1 und 2 eher unwahrscheinlich macht. Besonders interessant sind dabei jene epischen Iterata, die in der Ilias, dem umfangreichsten Text (15.682 Verse), singulär bleiben. Denn Singularität in einem derart umfangreichen Text spricht nicht für Verursachung der Wiederholung durch die Gesetze mündlicher Dichtung.

Ist mit den Iterata, die in der Ilias singulär bleiben, eine sinnvolle Materialauswahl getroffen, so gilt es nun einen Weg zu finden, um Deutung 3b im konkreten Fall schlüssig als die richtige zu erweisen. Dazu muss a) erwiesen werden, dass tatsächlich eine direkte intertextuelle Beziehung zwischen erhaltenen epischen Partien besteht, und b) gezeigt werden, welche der erhaltenen Stellen die originale ist.

Ad a: Der Nachweis von Intertextualität lässt sich nur dort führen, wo Beziehungen zwischen zwei Partien sich nicht im Vorkommen eines Iteratums erschöpfen; Iterata selbst lassen sich auch anders erklären (s.o.). Kommen aber eindeutige Anklänge in Vokabular, Stilistik, Metrik, Motivik und  Gestaltung des Umfelds hinzu, so liefern die Deutungen 1 und 2 dafür keine Erklärung und müssten die Befunde als zufällig abtun, was ab einer gewissen Quantität und Signifikanz der Befunde sehr unwahrscheinlich wird. Je enger die Bezugnahmen sind, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme gemeinsamer Abhängigkeit von einer verlorenen Originalstelle Vorbild (Fall 3a), und desto wahrscheinlicher wird die Annahme direkter Beziehung (Fall 3b).

Ad b: Die entscheidende Rolle für eine Unterscheidung primärer und sekundärer Stellen spielen objektivierbare (metrische, syntaktische, semantische, inhaltliche) Anstöße und Besonderheiten, durch die sich das Iteratum an einer der beiden Stellen als ein nicht für diesen Kontext geprägter Fremdkörper verrät, während die andere Stelle von solchen Auffälligkeiten frei ist. (Im günstigen Falle lassen sich bestimmte Auffälligkeiten der sekundären Stelle als Umprägung, Umdeutung oder Missverständnis der primären Stelle plausibel erklären.) – Allenfalls zusätzliche Bestätigung liefern subjektive Kriterien wie ästhetische oder kompositionelle Befunde, auf die sich die Urteile der älteren Analyse, aber auch die Urteile der unitarisch ausgerichteten Neoanalyse oft ausschließlich stützen.

Auf ästhetische und kompositionelle Beobachtungen haben bekanntlich Repräsentaten der (heute nicht mehr vertretenen) Analyse das Urteil gestellt, Epen wie Ilias oder Odyssee könnten unmöglich von einem einzelnen Dichter stammen, und auf im Prinzip gleichartige Kriterien stellen bis heute Vertreter der Neoanalyse das Urteil, der großartige Bauplan verrate den einen großen Dichter. Beide Folgerungen sind jedoch nicht schlüssig: Einerseits kann auch der einzelne Dichter, zumal wenn er mit traditionellem Material gearbeitet hat, unterschiedliche Stile, unterschiedliche dichterische Qualität und kompositionelle Anstöße produziert haben; solche Beobachtungen erzwingen also nicht analytische Folgerungen. Andererseits können weitreichende kompositionelle Beziehungen, die den einheitlichen dichterischen Plan zu verraten scheinen, immer auch nachträglich hergestellt sein. Solche Befunde bleiben daher als Kriterien für genetische Fragen ohne echte Beweiskraft und belegen nicht synchrone Entstehung des Texts. – Das hier beschriebene Verfahren zielt nicht zuletzt darauf, sich von derlei fragwürdigen Kriterien unabhängig zu machen.
Wird dieses Verfahren korrekt und umsichtig angewandt, so lassen sich Ergebnisse erzielen, deren Verlässlichkeit sehr hoch ist; einzuräumen ist freilich, dass  philologische Ergebnisse letzte Gewissheit niemals erreichen. Immerhin lassen sich die faktisch erzielten Resultate (s.u., Literaturliste) durch zwei vom bisher Gesagten unabhängige Überlegungen weiter sichern: Man darf festhalten, dass es auch im frühen Epos (ebenso wie in anderen Literaturgattungen) intertextuelle Beziehung gibt und dass man sie mit geeigneten Mitteln aufspüren und nachweisen kann, ohne damit Erkenntnisse der oral poetry-Forschung zu ignorieren (wie zur Abwehr unliebsamer Ergebnisse zuweilen behauptet wird). Wo solche Nachweise gelungen sind, ergibt sich ein differenziertes Bild: Neben zahlreiche Fälle, in denen die Ilias, wie zu erwarten, als Primärquelle fungiert, treten (bisher) deutlich über hundert Fälle, in denen sie nachweislich auf andere, uns erhaltene epische Partien reagiert. Dies stimmt zu anderen (z.B. motivischen oder inhaltlichen) Befunden und deutet darauf, dass die Entstehungsgeschichte der epischen Texte komplizierter ist, als oft gedacht.

Bis heute basieren weitreichende Theorien über das frühgriechische Epos auf der Auswertung vergleichsweise weniger empirischer Befunde. Dieses Verhältnis müsste sich m.E. umkehren, um wirklich zuverlässige Aussagen zu ermöglichen.
 

Literaturangaben:



Der platonische Dialog

Platon hat im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen nicht Lehrschriften abgefasst, sondern dramatische Dialoge, in denen sich nicht der Autor selbst zu philosophischen Problemen und denkbaren Lösungen äußert, sondern seine Figuren. Dies hat für den Interpreten, sofern er sich nicht mit einer Analyse der im Dialog angesprochenen Problematik zufrieden geben, sondern die Überlegungen und philosophischen Auffassungen des Dialogautors erkennen möchte, zwei wesentliche Konsequenzen:

Erstens bleibt dem Leser platonischer Dialoge ohne nähere Prüfung verschlossen, ob und in welchem Ausmaß Aussagen von Dialogfiguren auch die Überzeugungen des Autors spiegeln. Dies gilt auch für Platons wichtigste Figur Sokrates, und es gilt keineswegs nur für Platons frühe Dialoge. Auch in Platons mittleren und späten Dialogen distanziert sich Platons Figur Sokrates (durch Vorbehalte, Hinweise auf eigene Fehler und Ironiesignale) oft so wirkungsvoll von seinen eigenen Äußerungen, dass seine (geschweige denn Platons) tatsächlichen Auffassungen für den Leser nicht leicht erkennbar sind. Außerdem sind diese Äußerungen, wie man allgemein erschließen und an konkreten Befunden aufzeigen kann, nicht allein von den philosophischen Überzeugungen des Autors bestimmt, sondern auch von pragmatischen und darstellerischen Erfordernissen:  dem Bemühen um eine stimmige Zeichnung der Figuren, den logischen und sachlichen Zwängen des Arguments oder den Regeln sokratischer Gesprächsführung. Diese Faktoren muss derjenige, der aus Platons Text auf Platons Auffassungen schließen möchte, zunächst einmal exakt erkennen und korrekt in Rechnung stellen (vgl. DuA 32-45 und 242-288).

Eine zweite Konsequenz der Dialogform besteht darin, dass man die Überlegungen und Überzeugungen des Autors nicht in den Äußerungen einer einzigen Figur zu suchen hat, sondern in der Konzeption des gesamten Gesprächs. Platon gestaltet ja nicht nur die Sprechakte seiner jeweiligen Hauptfigur, sondern auch die Reaktionen und Verhaltensweisen der übrigen Figuren; er wählt die Personen und Themen, die Gesprächssituation und die Untersuchungsmethoden; ihm obliegt es, die Gespräche mit oder ohne Ergebnis enden zu lassen, und er entscheidet, ob einmal erzielte Ergebnisse von seinen Figuren als andgültig betrachtet oder erneut mit Vorbehalten versehen werden. In der Summe dieser Phänomene, und nicht allein in den Aussagen der jeweiligen Hauptfigur, liegt die Botschaft des Autors an seine Leser.

Platons Überlegungen und Überzeugungen sind, wie es scheint, nicht einfach identisch mit den Äußerungen der jeweiligen Hauptfigur, sondern man muss sie rekonstruieren. Geleitet ist eine solche Rekonstruktion von der Frage, mit welchen Annahmen über die Kenntnisse, Überlegungen und Absichten des Autors sich die Eigenheiten des jeweiligen Dialogs am besten erklären lassen: Was muss Platon gewusst und bedacht haben, um diese oder jene Probleme genau in der Weise darstellen zu können, wie er es getan hat? Und welche Absichten könnten ihn bewogen haben, das von ihm fingierte Gespräch genau so verlaufen zu lassen, wie es verläuft?


In Arbeit ist eine neue Kommentierung von ‘Politeia’ VIII-X im Rahmen des Projekts "Übersetzung und Kommentierung der Werke Platons" der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz. (Die Bücher I-IV werden bearbeitet von Peter Stemmer, Konstanz, die Bücher V-VII von Arbogast Schmitt, Marburg.) Sie ist geleitet von zwei Überzeugungen:

1) In der ‘Politeia’ werden nicht disparate Einzelthemen abgehandelt (etwa Ideenlehre, politische Theorie, Dichterkritik usw.), sondern Sokrates entwickelt dort ein zusammenhängendes Argument zugunsten der Auffassung, dass es dem eigenen Glück dient, gerecht zu sein. Dieses Argument bildet den Hintergrund, vor dem alle sokratischen Äußerungen zu beurteilen sind und vor dem sie oft erst wirklich verständlich werden (vgl. "Kontextbezogenheit").

2) Während sich der Autor eines Traktats im eigenen Namen an den Leser wendet, um ihn zu belehren und zu überzeugen, sind bei der Lektüre platonischer Dialoge zwei Kommunikationsebenen zu unterscheiden: die (vom Autor fingierte) Kommunikation zwischen den Dialogfiguren und die Kommunikation zwischen Text und Leser. Die Kommunikation zwischen Sokrates und seinen Partner muss zwar exakt analysiert und verstanden werden; der eigentliche Sinn des Dialogs aber erschließt sich vermutlich erst, wenn man die zweite Kommunikationsebene einbezieht. — Relevant ist also nicht allein: Was sagt Sokrates seinem Partner?, sondern auch und vor allem: Was sagt Platon mit dieser Gestaltung des Gesprächs seinem Leser?

Beide Gesichtspunkte verändern den Sinn wichtiger Partien. Als Beispiel für 1 sei der sogenannte ,Verfassungswandel‘ der Bücher VIII und IX angeführt, den man bisher als  Geschichtsphilosophie oder Platons Kritik an bestimmten politischen Systemen (darunter der Demokratie) gelesen hat; es handelt sich jedoch, wie sich zeigen lässt, um einen integralen Bestandteil des sokratischen Arguments für das Glück des Gerechten (was durch 545a2-b1 bestätigt wird; vgl. DuA 106-161). Als Beispiel für 2 sei die schwer erklärliche Auflösung der guten Ordnung in Buch VIII genannt (545c8-547a7), die sich bei Einbeziehung der von Platon gelenkten Kommunikation zwischen Text und Leser als raffiniert angelegte Parabel auf menschliche Unzulänglichkeit begreifen lässt, wie sie einer faktischen Realisierung der guten Polis auf Erden wohl als unüberwindliches Hindernis im Wege stünde (vgl. 473a1-b3 und Musenrede).



Hellenistische Philosophie

In Planung ist ein Handbuch zur hellenistischen Philosophie, das auch eine Übersicht über Quellen und Lehrsysteme bieten, daneben aber vor allem historische, funktionale und systematische Zusammenhänge verständlich machen möchte, wie sie sich vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse über die frühe und klassische Philosophie abzuzeichnen beginnen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Weiterwirken hellenistischer Konzeptionen im römischen und europäischen Denken, wobei neben dem Faktor "Tradierung" auch die Faktoren "Umdeutung" und "Missverständnis" gebührend beachtet werden sollen.

Gedacht ist an folgenden Aufbau:

1. Die hellenistische Philosophie im allgemeinen
    1.1. Begriffsklärung (‘hellenistisch’, ‘Philosophie’)
    1.2. Allgemeine Charakteristika der hellenistischen Philosophie
    1.3. Quellenlage und  Arbeitsmittel

2. Die einzelnen Schulen in hellenistischer Zeit
    2.1. Die kleineren „sokratischen“ Schulen: Megariker, Kyrenaiker, Kyniker
    2.2. Akademie
    2.3. Peripatos
    2.4. Pyrrhoneer
    2.5. Epikureer
    2.6. Stoa

3. Zentrale Philosopheme, ihre historischen und systematischen Voraussetzungen und ihre abendländischen Folgen, z.B.:
    3.1. Glück (eudaimonia) und Glücksempfinden
    3.2. Weshalb braucht man zum Glück ‘arete’ (‘virtus’, ‘Tugend’) — und was ist das?
    3.3. Was ist ‘Denken’ (und wie konzipieren es die klassische Philosophie, die hellenistische Philosophie und die Neuzeit)?
    3.4. Die Rolle der Emotionen im Wandel der Deutungen
    3.5. Gibt es einen ‘freien Willen, und weshalb eigentlich ist dies problematisch?
 

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Griechische Philosophie in Rom

Wirklich verständlich werden nicht wenige Formulierungen bei Autoren wie Lukrez, Cicero oder Seneca erst bei Rückübersetzung in die griechische Begrifflichkeit. Dahinter steht das (u.a. von Schopenhauer und Snell thematisierte) Phänomen, dass griechische Begriffe eine spezifische Sicht und Einteilung der Welt spiegeln, die in Übersetzungen in der Regel verloren geht (etwa: logos vs. ratio, arete vs. virtus). Zu den sprachbedingten Umdeutungen treten unter Umständen pragmatisch bedingte (z.B. durch die Argumentationsziele des Autors), die ihrerseits neue Traditionen begründen können (ein Beispiel bietet  Ciceros De re publica). – Das Phänomen des Konzeptionswandels bei scheinbar konservativer Tradierung von Inhalten soll an konkreten Beispielen erläutert und in seiner (kaum zu überschätzenden) Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte gewürdigt werden.


Stand: Januar 2004                 Zur Homepage der Klassischen Philologie an der FU Berlin


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