Gernot Brehm
Hohenfriedbergstr. 15
10829 Berlin
                               

 

aaaaaaaaEine Geschichtsphilosophie der Zukunft -

aaaaaaaaaaaaaZur Aktualität der Nachlaßschriften von Gotthard Günther

(Schriftliche Fassung eines Vortrag vom Juli 99) 

bbb I. Ausgangsthese

bbb II. (Übergang zu "regionalen Hochkulturen" (allgemein)

bbbIII. Zum Verständnis der Mediengesellschaft, der Relation von Wahrheit und bbbbbbbWahrscheinlichkeit

bbbIV. Die transklassische Thematik: die "zweite" Grenzöffnung

 

 

Das Ziel der folgenden Ausführungen - dargelegt in vier kleinen Schritten mit Schaubildern, holzschnittartig-schematisch - besteht in folgendem:

 

     Einmal will ich kurz und allgemein thematische Zusammenhänge der Arbeit ("Mediengesellschaft und transklassische Logik") aufzeigen.

     Zum anderen möchte ich eine Vorstellung davon vermitteln, wo "transklassische Fragen" bzw. ein transklassisches Weltbild nach Günther beginnen und ansetzen, damit auch die Antizipation einer "dritten weltgeschichtlichen Epoche" - einer planetarisch-universalen Kultur - aufzeigen. Sie ist nirgends "verwirklicht", es sind nur "geistige Antizipationen" (GG).

     Und schließlich sollen hierbei auch Bezüge zur aktuellen Diskussionen in den Sozial- und Naturwissenschaften hergestellt werden.

 

 

I. (Ausgangsthese)

Wenn man beispielsweise Sybille Krämers Abhandlung "Symbolische Maschinen - Die Idee des Formalismus im geschichtlichen Prozeß" heranzieht, dann stehen am Ende der Entwicklung von Logik, Symbolismus und Mathematik nur noch "zwei Zeichen", "0" und "1", Turings universelle Maschine, das Computermodell, deren operative Symbole völlig losgelöst von jeglichem Bezug zur Gegenständlichkeit bzw. zu Strukturen von Gedanken sind. Es geht nur noch um eine bloße Bearbeitung und Manipulation von Zeichen, endlich vielen Symbolen. In der akademischen Literatur (Diskussion) wird diese Aussage als allgemein-gültig angesehen.

Sybille Krämer u.a.siehen in dieser Entwicklung die Entstehung rein künstlicher Welten: "Formale Sprachen sprechen nie über die wirkliche Welt im Sinne einer vorfindlichen empirischen Realität, sondern über symbolische Welten: Die Ausdrücke formaler Sprachen können sich immer nur wieder auf Zeichen(-ausdrücke) beziehen" (Krämer, 183).

 

Bernd Mahr von der TU Berlin hat auf dem kürzlich stattgefundenen Helmholtz-Symposium hier an der HU zu "Die Verwaltung von Turings Erbe" gesprochen und dabei die zunehmende Reduktion des operativen Symbolismus in der Geschichte in ein Schaubild gefaßt:

 

 

 

 

Auch hier wird diese allgemein anerkannte These formuliert: Der bisherige Endpunkt in der Entwicklung von Algorithmus (mathemathischer Logik) und operativem Symbolismus ist mit dem Namen Turing, dem abstrakten Computermodell und der radikalen Trennung (Loslösung) von Symbol und Gegenstand verbunden ( eine Einsicht, die übrigens laut Mahr den gemeinsamen Nenner der Initiatoren des aufzubauenden Helmholtz-Zentrums an der HU bildet). Daraus folgt für Mahr: die weitere Entwicklung der mathematischen Logik hat zur Aufgabe, die Wiedergewinnung der Einheit von Symbol und Gegenstand zu ermöglichen bzw. herzustellen.

 

Ich möchte nun in diese Unterscheidung eine weitere Differenzierung einfügen, und zwar die Differenz zwischen konkreter, individueller Gegenständlichkeit und Gegenständlichkeit überhaupt. Denn - so meine Unterstellung und These - die Loslösung von operativem Symbol und Gegenständlichkeit überhaupt ist noch keineswegs bewältigt und realisiert!

Es ist vielmehr eine Selbstsuggestion zu meinen, eine völlige Loslösung von Symbol und Gegenstand (überhaupt) sei heute schon realisiert oder möglich.

 

Man kann auch implizit – als weitere These -sagen: bevor eine Wiedergewinnung der Einheit von Symbol und Gegenständlichkeit gewonnen werden könnte, muß erst noch eine weitere Radikalisierung des Formalismus und des Symbolgebrauchs stattfinden. ( Ganz ähnlich wie Günther die zweiwertige Logik als unvollständig und fragmentarisch kritisierte, weil sie letztlich noch inhaltlich und gegenständlich gebunden sei und jeder Inhaltsbezug den Formalismus schwächen würde. Gleichwohl läge die Stärke der klassischen Logik im Handlungscharakter bzw. in ihrer möglichen Umsetzung in Technik)

 

Was dann - also nach einer erfolgten Trennung und Loslösung des Symbols von Gegenständlichkeit überhaupt - die geforderte "Einheit" bedeuten könnte, soll am Ende des Vortrags aufgezeigt werden.

 

Um kurz anzudeuten, was Loslösung von Gegenständlichkeit überhaupt bedeuten könnte, möchte ich auf Roger Penroses Versuch/Ansatz einer "Physik des Geistes" (In: Computerdenken) hinweisen. Es geht hierbei um die Frage, daß das Bewußtsein nicht durch Algorithmen allein zu beschreiben sei, sondern daß das Bewußtsein auch nicht-algorithmische Komponenten enthält, beispielsweise beim "gelegentlichen Aufblitzen neuer Erkenntnis", die wir "Inspiration" nennen. ("Ganzheitserlebnisse", Penrose führt einige Inspirationserkenntnise und ihre Abläufe von namhaften Wissenschaftler an, S.    . In Augenblicken der Inspiration/Intuition, so Penrose, würde der Mensch aus der "Zeit" herausbrechen und in eine andere Welt gelangen, die er platonische nennt. Geöffnet würden die Pfoten/Tore dieser anderen Welt von den Quanten der Gravitation.) - Hintergrund einer "Physik des Geistes" sind die Bemühungen um eine Vereinheitlichung der gegensätzlichen Theorien von Relativitätstheorie und Quantenmechanik - welche für Penrose in der "Quantengravitation" münden würde. Für diese Groß-Theorie sei jedoch Voraussetzung und Bedingung, daß sie die Phänomene "Bewußtsein" und "Zeit" zu lösen in der Lage sei.

 

In eine ähnliche Richtung geht auch Günther - mit seiner "transklassischen Logik". Er nennt andere Ausgangsfragen: Wie läßt sich das "Denken" selbst wiederum denken? Mit welcher Logik kann die zweiwertige Logik erfaßt werden (Metaebene)? Letztlich die Frage: wie läßt sich die reine Bewußtseins- bzw. Geistestätigkeit formal-logisch erfassen? (siehe seinen frühen, sehr grundsätzlichen Beitrag zu "Transzendentallogik und Logistik", 1940; ebenso seine später entwickelten formalen, kategoriale Bezüge von "Transjunktion", "Rejektion", proemieller Relation im Rahmen seiner transklasischen Logik. Kenno/Morphiogrammatik u.a.. Diese Fragen laufen –salopp gesagt – gegenüber der klassischen Mythologie auf die Forderung hinaus, an die Stelle der „Erleuchtung“ die transklassische mathematisch-logische Formel zu setzen)

 

Ich möchte die Frage nach der fundamentalen Unterscheidung von konkreter, individueller Gegenständlichkeit und Gegenständlichkeit überhaupt keineswegs im Diskurs der Logik/Mathematik diskutieren, sondern aus einer "geschichtsphilosophischen Sicht" entwickeln, eine Sichtweise, die Günther v.a. in seinen Nachlaßschriften dargelegt hat. Es geht also allgemein um die Frage der "Kulturen" und ihrer Entwicklung.

 

Ein letztes: die beiden Symbole "0" und "1" können auch als "Nichts" und "Schöpfung" interpretiert werden. Hegel war nach Günther der erste, der die Äquivalenz von Nichts und Sein(Schöpfung) postulierte. Vorher war (und ist noch in der klassischen Logik) das Sein/Positivität immer mächtiger als das Nichts/Negativität. Günther bemängelt hier, daß die Frage: wie komme ich nun vom Nichts zum Sein oder vom Sein ins Nichts? nicht beantwortet werden kann. Diese Frage zielt auf einen "Übergang" („Vermittlung“) hin, der einen eigenen dritten logischen Wert beansprucht. Hegel blieb hier im Schema der Zweiwertigkeit und führte nur ein "Werden", keinen dritten logischen Wert, sondern empirische Begriffe ein wie "Geschichtsprozeß", "Zeit", Dialektik. ("Versöhnung" (Hegel) versus „unendlich neue Themen und Werte“ (Günther).

 

Genauso müßte Bernd Mahr gefragt werden: Wie komme ich von der Spitze der Reduktion zur Spitze der Re-Deduktion?

 

 

 

II. (Übergang) zu "regionalen Hochkulturen" (allgemein)

 

In der Logik symbolisiert der erste Wert die Positivität, die "Welt", Sachgegenstände (Wahrheit), der zweite Wert aber keine Sachgegenstände, sondern eine Operation, eine Denkbewegung (Irrtum, Falschheit).

Auch wenn man sich nur auf den (iterierten) zweiten Wert, den Denkoperationen bezieht, ist man dennoch rettungslos an die "Welt", das "Sein" gebunden, sofern man nicht vorher bewußt die Gesamtalternative P-N, W-F als Ganzes zugunsten eines Dritten "verwirft" (Günther). -

 

Diese zwingende Vorschrift  liegt an der Herkunftsgeschichte oder Genese des Denkens selbst begründet! (vergl. auch "Suchtarbeit..")

 

Das Denken (genauer und allgemeiner: die Zweiwertigkeit) ist geschichtlich oder bedeutet geschichtlich die Überwindung des "Animismus", der frühzeitlichen (archaischen) Kultur, der "Mana-Theorie", also der Beseelung der Natur (Geister/Gespensterglaube, Einwertigkeit des Bewußtsein). Es stellt die Überwindung der "Identifizierung mit der Umwelt" dar und damit auch eine Trennung. Diese Trennung /Loslösung von der konkreten Umwelt wird in den regionalen Hochkulturen symbolisiert, noch schärfer, letztere stellen symbolisch diesen Ablösungsvorgang selbst dar:

 

" In jeder Hochkultur vollzieht sich eine seelische Ablösung des Menschen von seiner ihm umgebenden Umwelt. D.h. er projeziert nicht mehr sein eigenes Ich unmittelbar in die Außenwelt und empfängt es von da an als Mana zurück. Die Seele und die Welt sind von nun an zweierlei. Für beide hat das erhebliche Folgen!

 

      Die den Menschen umgebende Landschaft gewinnt damit eine eigenen, vom subjektiven Bewußtsein unabhängigen, symbolischen Sinn.

 

      Umgekehrt konstituiert sich Seele jetzt im Kontrast und lebendiger Auseinandersetzung mit der als Transzendenz erfahrenen Umwelt

 

Die üppige Tropenwelt Indiens führt zu der abstraktesten Meatphysik, die geographische Enge Europas treibt den faustischen Drang ins Unendliche, die sinnliche Phantasie des islamischen Paradieses entsteht zwischen kahlen Sanddünen der arabischen Wüste, das lange dünne Schilfgras der Nilmündung steht im Komplementärverhältnis zur brutal massiven) ägyptischen Bildhauerkunst.

 

Jede Hochkultur ist, weil sie eine seelische Individualität repräsentiert, auch eine individuelle Landschaft, die ihrer spirituellen Verfassung entspricht, zugeordnet.

Also: nicht eine Ablösung aus der Umwelt überhaupt und ihre Ersetzung durch Kulturbauten - eine solche Ablösung bezieht sich vielmehr auf eine konkrete Landschaft, die einen bestimmten Symbolwert besitzt. Nur dadurch gewinnt die Ablösung selbst eine symbolische Bedeutung. Der Symbolwert des indischen Dschungel kann in Buddhas Predigten erfahren werden, jener der nordischen Nachtlandschaft in Goethes Erlkönig. Die unbezähmbare Wildheit aller afrikanischen Landschaft von Tanger und Port Said bis Kapstadt scheint einem solchen Ablösungsprozeß besonders zu erschweren, sich gegen einschüchternde Raubtierseele dieses Kontingent durchzusetzen. Spengler, Ägypten.

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(D.h. es gibt für jede hohe Kultur eine ihr, und nur ihr, zughörige "Mutterlandschaft" (Spengler,II,339) am Ort der Geburt gebaut. - In diesem Sinne hat jede Hochkultur streng regionalen Charakter.)

 

Was sich im Ablösungsprozeß  (von der konkret sinnlichen Landschaft mit symbolischer Bedeutung) realisiert, ist ein Seelentum von höchst differenzierter Individualität.

Was sich in einer Hochkultur manifestiert, ist nicht das Allgemein-Menschliche mit seiner unbeschränkten Zahl von seelischen Möglichkeiten und seinem unendlichen Realisationspotential, sondern eine höchst individualistische, auf eine letzte und einzige metaphysische Möglichkeit zu verengte Form menschlicher Existenz. Hier ist nur eine Idee des Menschen in seiner transzendentalen Bedeutung... Hier gibt es nur ein Ziel, um dessentwillen aller anderen metaphysischen Chancen der spirituellen Entwicklung des Menschen am Wege zurückgelassen werden.

 

Daher die prinzipielle Vielzahl der Hochkulturen, während es nur einen primitiven Lebensstil gibt. In letzteren entwickelt sich das Allgemein-Menschliche überhaupt. Jede hohe Kultur dagegen birgt eine andere metaphysische Idee der Individualität des Menschen in die historische Existenz. ... " (Apokalypse Amerikas, S.16)

 

Günther präzisiert kategorial die Unterscheidung von "primitiver" (archaischer) Kultur und den "regionalen Hochkulturen" dahingehend, "daß die Epoche der hohen Kulturen, die über das primitive Lebensgefühl zum ersten Mal hinausgreifen, dort beginnt, wo sich das menschliche Ich zum ersten Mal eines prinzipiellen und metaphysischen Gegensatzes zur Welt - der also nicht mehr in der Welt vermittelt oder gar aufgelöst werden kann - in einer zweiten Reflexion bewußt wird (zweiter Wert als gesellschaftshistorische Leistung). Diese Reflexion drückt diesen Gegensatz direkt aus. D.h. sie ist streng zweiwertig und das Ich als Subjekt dieser Denksituation sieht sich in eine perennierende Entscheidungssituation geworfen. Mehr noch, seine ganze Subjektivität realisiert sich überhaupt nur noch in Entscheidungen. Ich-sein und (zweiwertige) Entscheidungen vollziehen ist ein und dasselbe" (AA,499).

 

Die Oppositionen wie Tod-Leben, Jenseits-Diesseits, Subjekt-Objekt, organisch-anorganisch, Sein-Schein u.a. sind also konstitutiv für die so genannten "Hohen Kulturen". Die Dichotomien, Oppositionen gehen wie ein "Riss" durch die gesamte Existenz, Entscheidungen und dem Erleben der Menschen in diesen Kulturen: nichts ist eindeutig, alles hingegen zweideutig, zwiespältig. Daher sind nach Günther auch die Religionen dieser Kulturen letztlich "Erlösungsreligionen". Und daher rührt auch die "Pflicht", die Strenge, der Ernst, die individuelle Ethik, Glaube und das individuelle Gewissen der Menschen in der zweiten Geschichtsepochen der regionalen Hochkulturen (der archaische Mensch (Primitive) kennt keine individuelle Ethik, nur das kollektive Tabu, das "quasi-objektiv" auf ihn wirkt)

 

Mit dem bisher Ausgeführten wird auch die strukturelle Gleichwertigkeit / Äquivalenz der z.B Kulturen Asiens und Westeuropas unterstellt: Logisch ist es unerheblich, ob ich sage: die Welt ist das Material der Pflicht (Kant) oder wie, der Buddhismus sagt, die Welt ist nur Illusion, Maya. Beide Auffassungen sind zweiwertig.

Gleichwohl bestehen empirisch erhebliche Unterschiede bzw. beide Kulturen sind historisch-real grundverschieden

 

 

Die bisherigen Ausführungen will ich in der folgenden Graphik anschaulich zusammenfasssen

Schaubild 2:         Zweiwertige Bewusstseinsform überhaupt in der Geschichte

 (n. Günther und Spengler)

 

(Regionale Hochkulturen – kleine Kreise – sind geschichtsphilosophisch individuelle Entscheidungen und kulturelle Manifestationen des zweiwertigen Bewusstseins überhaupt;

der Begriff der „Tradition“: 1. konkrete Manifestationen (kleiner Kreis)

                                               2. allgemein: als zweite Geschichtsepoche (Zweiwertigkeit)

 

 

kleiner Kreis: „absolute Grenze“ (Selbstverständnis)       großer Kreis:

relative Grenze des zweiwertigen    Bewusstseins überhaupt

 

 

 

 

 

 

 

III. Zum Verständnis von "Mediengesellschaft", der Relation von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit

 

 

Wenn ich die ersten beiden Gedankengänge oder Schaubilder ineinander schiebe bzw. kombiniere, dann ergibt das zunächst einmal folgendes Schaubild:

 

 

 

 

 

Schaubild 3: Zweiwertiges Bewusstsein überhaupt

 

 

 

 

 

Die in Schaubild 1 von Bernd Mahr angesprochene Zäsur in der Entwicklung der mathematischen Logik und operativer Symbolik, die mit dem Namen Turing verbunden ist, also die maschinelle/technologische Verarbeitung und Manipulation von "Zeichen" als eine Loslösung der Symbole von konkreter, individueller Gegenständlichkeit, bedeutet hier geschichtsphilosophisch eine "Grenzöffnung" (die immer eine verletzende Grenzöffnung ist). Eine Überschreitung einer Grenze, die für die betreffende konkrete Kultur, hier "Abendland" oder westlich-europäische Kultur, in ihrem spirituellen oder weltanschaulichen Selbstverständnis immer eine "absolute" Grenze war! - Und diese Situation der "Grenzöffnung" oder -Überschreitung wird in ihrer emotionalen und sozialen Erfahrung sehr gut von postmodernen Denkern, insbesondere von Jean Baudriallard beschrieben:

Baudriallard (Transparenz des Bösen)

Die Orgie ist vorbei. Wir sind befreit: politische Befreiung, sexuelle Befreiung, Entfesselung der Produktivkräfte, der destruktiven Kräfte, Befreiung der Frau ...

Was nun: wir befinden uns im Zustand aller realisierten Utopien, in denen man paradoxerweise weiterleben muß, als ob sie nicht realisiert seien. Als ob es noch irgendwelche Szenarien gäbe, die nicht durchgespielt wären.

Diesen Zustand nennt B. "Simulation", als ob, in der uns nur die Wiederholung des schon Geschehen übrig bleibt. Seine Überbietung: Die Hyperealisierung des schon realisierten. Wir müssen unsere Ideale, Phantasien, Bilder und Träume unendlich reproduzieren. Doch sie beziehen sich auf nichts mehr. Es gibt für diese Zeichenreproduktion, deren ... Bedeutung endgültig hinter uns liegt, keine Anhaltspunkte mehr. Von differentiellen Wertbeziehungen, von natürlichen, kausalen oder strukturellen Referenzen kann keine Rede mehr sein. Die Zeichen, Dinge und Handlungen haben sich von ihrer Idee, ihrem Begriff, ihrer Bestimmung getrennt. Alle Oppositionen sind aufgelöst".

Man könnte genauer sagen: die die Kultur bislang konstitutiven Oppositionen lösen sich auf. Eine Warnung ist gleichwohl am Platz: es darf nicht der Eindruck entstehen, als sei Turings universelle Maschine, also die Technologie, der einzige Grund für eine Grenzüberschreitung einer über zwei- bis dreitausend Jahre währende Kulturtradition (vergl. Suchtarbeit, wo weitere Faktoren herausgearbeitet sind). An einer anderen Stelle schildert Baudriallard diese kulturhistorische Konfliktsituation so:

 

"Die Beschleunigung der Moderne: technologisch, prozessual und medial - durch Beschleunigung aller ökonomischen, politischen und sexuellen Formen des Tausches - durch all das, was wir im Grunde als "Befreiung" bezeichnen, haben wir eine solch hohe Befreiungsgeschwindigkeit erreicht, daß wir  ... der referentiellen Sphäre von Wirklichkeit und Geschichte entkommen sind. ...

 

"Befreiung", d.h. Loslösung eines Körpers - einen bestimten Horizont überschritten und eine Raum-Zeit-Welt verlassen haben, in der Reales möglich war, in dem Ereignisse möglich waren, da die Schwerkraft noch ausreichte, um Dinge einander reflektieren und auf sich selbst zurückkommen zu lassen, d.h. ihnen Dauer und Folge zu verleihen. ...

 

Sind die Körper (durch Geschwindigkeit) erst einmal "befreit" und entziehen sich der "Schwerkraft" (= soziale Stabilität, Tradition, G.B.), die sie auf einer Umlaufbahn von Bedeutungen hält, so verlieren sich alle Sinnatome im All. Grenzenlos fliegt jedes in seine eigene Richtung und verschwindet im All. Dasselbe erleben wir heute in unseren Gesellschaften, wo es darauf ankommt, alle Körper, Botschaften und Prozesse in jeder Hinsicht zu beschleunigen. Vor allem die modernen Medien haben in jedem Ereignis, jeder Erzählung und jedem Bild einen Simulationsraum mit grenzenloser Flugbahn eröffnet.

 

Keine menschliche Sprache verträgt Lichtgeschwindigkeit

Kein historisches Ereignis verträgt seine weltweite Verbreitung

Kein Sinn verträgt seine Beschleunigung

Keine Geschichte verträgt das Zentrifugieren der Fakten um ihrer selbst willen, die Entgrenzung der Zeit-Räume

Keine Sexualität verträgt ihre Befreiung (Loslösung vom Körper)

Keine Kultur ihre Förderung

     Keine Wahrheit ihre Verifizierung." (Das Jahr 2000 findet nicht statt)

 

Das ist letztlich die Situation dessen, was man auch als "Mediengesellschaft" bezeichnet Die negativ-kritischen Untertöne bei B. rühren daher, daß er als "logisches Referenzsystem" seiner Aussagen die "Tradition" oder eine konkrete Formation einer regionalen Hochkultur zur Grundlage genommen hat. Norbert Bolz hingegen faßt den inhaltlich Ausdruck "Simulakrum" positiv und nennt das dann eben affirmativ "Medienwirklichkeit" (und fordert ohne Illusionen: ran an den Computer, rein ins Internet...). - Für Bolz ergibt es keinen Sinn, von medienunabhängiger Realität zu reden; niemand könne zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Täuschung unterscheiden. Da die Realität als universale und undurchdringliche mediale Projektion zu werten ist, sei auch die Option auf Wahrheit nicht mehr aufrechtzuhalten. (n. Reinhard Margreit, Medien Journal 1/99, Medial Turn, Die Medialisierung der Welt)

 

Doch auch hier  - in  der Medienphilosophie wie auch im Radikalen Konstruktivismus - kann von einer prinzipiellen "Referenzlosigkeit" überhaupt keine Rede sein. Zwar ist das Referenzsystem der "Mediengesellschaft" (mithin der "Globalisierung") nicht mehr eine konkrete, individuelle Form/Entscheidung des zweiwertigen Bewußtseins, also der "Tradition"; es ist vielmehr das zweiwertige Bewußtsein überhaupt, das hier die Rolle des logischen Referenten spielt, also die Anwendung der dualistischen Bewußtseinsform Subjekt - Objekt auf sich selbst mit der Folge der (medialen Realitäts-)Generierung unendlicher Metaebenen bzw. einem "Verschwinden" auf unendlichen Metaebenen (unglückliches Bewußtseins, Hegel). Letztere können eine allgemeine Referenzlosigkeit suggerieren, doch diese emotionale (und soziale) Realitätssuggestion ist immer eine des zweiwertigen Bewußtseins! Und dies bildet gleichwohl "unendlich viele (zweiwertige) Sinnerlebnisse in einem geschlossenen System" (Günther) aus. Dietmar Kamper bemerkt hierzu: "das gesellschaftlich Imaginäre ( zweiwertiges Bewußtsein) stellt einen Weltinnenraum dar, der eine starke Tendenz hat, sich zu verschließen und eine gewissermaßen unendliche Immanenz auszubilden ..."

 

Hiervon ist auch das Theorem von der "Medialisierung der Welt" nicht ausgenommen:

Zu "Wahrheit": "Daß wir keinen unmittelbaren Bezug haben zu unserer Außenwelt, kann nahezu als ein Konsens der philosophischen Reflexionen seit Beginn der Neuzeit gelten (Krämer 1998). Hieraus werden dann Konsequenzen für den Zusammenhang von "Realität und Medialität" gezogen: " ... Medialität ist die zentrale Bestimmung des menschlichen Geistes. Medialität ist die adäquate Neubestimmung des "Transzendentalen" (womit Kant den apriorischen Konstruktionscharakter des Denkens bezeichnete). Philosophie hat demnach nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch sich selbst, als Theorieunternehmen, medienphilosophisch zu rekonstruieren" (Margreiter). - Diese Thesen beziehen sich überhaupt nicht auf eine ontologische Erkenntnistheorie, sondern auf individuelle Erkenntnisprozesse (vergl. Günther, 1927). Und dabei werden die metaphysischen Fundamentalentscheidungen und Ursprünge der "regionalen Hochkulturen" schlicht ignoriert.  Was letztlich auch heißt, die bislang unhinterfragte "Tradition" als konkrete Manifestation von Zweiwertigkeit aufzulösen.

 

Gleichwohl: die Grenzöffnung bedeutet eine fundamentale Grenzüberschreitung und damit auch eine Auflösung der bisherigen Tradition und der gesellschaftlichen Sozial- und Kultur-Zusammenhängen auf allen Ebenen: Politik, Ökonomie, Psychisch-Individuell, Kultur/Kunst, Sport, Religion ua., die damit große Konfliktpotentiale freisetzt.

 

Diese - die Tradition auflösenden - Prozesse verlaufen über den "Weltmarkt", und es ist folgerichtig, daß heute "fließende Prozesse" wie "Kult-Marketing, Rituale, Idole, Produkte Unternehmen als seelische Persönlichkeiten, Tribalismus/Fangemeinden, Wiederkehr der Magie u.a.m. (also Bezüge zur ersten Geschichtsepoche) zunehmend das soziale und psychische Leben bestimmen.

 

Doch: bei aller Medienphilosophie und Medienrealität, Radikalem Konstruktivismus u.a.: es handelt sich hierbei nur um "Auflösung", nirgends positiv um "Gestaltung", um neue "wert- und kulturbildende Qualitäten". Hier entsteht ein "Vakuum", daß auf völlig neue Weise Fragen nach "Metaphysik", Transzendenz oder Spiritualität freisetzt, auch wenn jene Begriffe heute vorschnell als veraltet und als abgelebt gelten.

(Gestaltungsfragen hätten z. B.als logisches Referenzsystem das "transklassische Es", siehe später)

 

Konservative -wie Gehlen, Schelsky - haben eigentlich immer vor gesellschaftlichen und sozialen Prozesse gewarnt, die eine solche Grenzöffnung der Kultur implizierten. Man könnte sagen: sie waren sehr eng verbunden mit dem immanenten Kulturimpuls der Tradition, und zwar als zweite Geschichtsepoche, nicht als konkrete Manifestation einer europäischen, indischen oder anderen Kultur, und sie haben auch gesehen, daß, wenn einmal die Kulturgrenze überschritten wird, es dann kein zurück mehr geben wird ...Doch ein "Vorwärts" konnten sie nicht mehr erkennen)

 

Diese erste Grenzöffnung  mit der Folge: "Auflösungsdynamik" ohne "Gestaltungspotenz" hat Günther auch sehr frühzeitig gesehen, doch geschichtsphilosophisch – im Unterschied zu Gehlen und Schelsky, mit denen Günther befreundet war – anders verortet: als eine notwendige Zwischenphase auf einem Weg zu einer "planetarisch-universalen Hochkultur". Doch letzterer Ausdruck greift dem IV. Gedanken voraus. Daher will ich auf seine These von der Zwischenphase kurz darlegen. Günther schreibt:

 

„Ohne Zweifel wird hiermit ( der ersten Grenzöffnung) das "Ende" der Kulturepoche angezeigt, ein (metaphysischer) "Substanzverlust", der auch "befreiende Wirkung" hat gegenüber dem "Gewicht der historischen Tradition und der Verpflichtung gegenüber aller bisherigen Geschichte" (in: "Dieser Substanzverlust ..."). Gleichzeitig bemerkt Günther einen "ambivalenten Zustand": "einerseits wird die Weiterarbeit an den eigenen historischen Problemen aufgegeben. Man produziert nichts Neues mehr[1]. Andererseits hält man an dem einmal erreichten existenziellen Zustand, (mit dem man sich nicht mehr identifiziert,G.B.), mit verzweifelter Zähigkeit fest." Deshalb haben Kulturen in ihrer End- und Auflösungsphase eine "nihilistische und eine extrem konservative Seite."  Gerade das Nicht-Identifizieren und die Gleichgültigkeit "gegenüber der eigenen spirituellen Essenz, die sich in der symbolischen Formenwelt der eigenen Geschichte abgesetzt und objektiviert hat, geht Hand in Hand mit einer zähen Beharrlichkeit, diese mehr und mehr sinnlos werdenden Formen und Institutionen eines abgeschiedenen Lebens zu bewahren und sie in ihrem erstarrten Zustand auf ewig zu erhalten" (ebd). Dieses Auf-Ewig-Halten geschieht heute - wie Jean Baudriallard formuliert - v.a. mittels "moderner Medien in einem Simulationsraum", der eine "grenzenlose Flugbahn" eröffnet.

Nun hat der "Substanzverlust des Menschen" auch "befreiende Wirkung", weil das Leben den "erschütternden Ernst, den es in allen regionalen Hochkulturen hat, (verliert), da es nirgends mehr in transzendente Hintergründe[2] hinüberweist." Alle ehemals lebendige Spiritualität wird jetzt nicht mehr "als Wahrheit offenbart - Offenbarung setzt Verborgenes voraus - , sondern (sinkt) als Wahrscheinlichkeit zu empirischer Möglichkeit hinunter." Das hat enorme kulturgeschichtliche Folgen:

 

"Wenn das Denken im geschichtlichen Prozeß alle Sinnmatrizen, deren der Mensch der betreffenden Epoche fähig ist, in seinem historischen Raum hineinprojeziert hat, ist er nicht mehr in der Lage, den Direktiven der Wahrheitslogik zu folgen. Seine seelische Substanz hat sich in den objektiven Geist der ihn umgebenden und von ihm geschaffenen Institutionen der Kunst, der Wissenschaft, der Kirche, der Gesellschaftsordnung und der ökonomischen Produktion verwandelt. Da er sich in diesem Schöpfungsprozeß, der der Maxime einer strengen Wahrheitslogik folgt, aber seelisch völlig entleert hat, kann er sich in seinen eigenen Werken nicht mehr wiedererkennen. Diese objektiven Institutionen spiegeln jetzt eine Fülle, der die eigene innere Leere nicht mehr gewachsen ist. Das aber bedeutet, er kann in ihnen nicht mehr die Realisation einer unbezweifelbaren Wahrheit, derer er erst innerlich gewiß war, sehen, sondern nur noch mehr oder weniger adäquate Mittel für einen praktischen Zweck. D.h. sein Denken geht von der Wahrheitslogik zur Theorie der Wahrscheinlichkeit über. Da nichts mehr apriori geglaubt wird, ist der Wert von Religion, Wissenschaft, Moral usw. davon abhängig, daß sich diese Institutionen praktisch bestätigen. Eine solche Bestätigung muß in jedem Fall abgewartet werden, sie kann nicht aus allgemeinen Grundsätzen deduziert werden. Dieses Abwartenmüssen aber, daß dem Ich jede Zuversicht und Vertrauen in sich selbst raubt, äußert sich im theoretischen Denken darin, daß Wahrheitsgesetze (mithin: Institutionen, G.B.) von Wahrscheinlichkeitskoeffizienten abgelöst werden und daß anstelle von Glaubensgewißheiten, die einstmals das Leben leiteten, Möglichkeitserwartungen von größerer oder geringerer Zukunftschance treten. Der Mensch der Spätzeit reduziert sich auf den Spielertyp, der im Leben sein Glück versucht. Der Glaube an einem gerechten Gott, dessen Gerechtigkeit die Wahrheit ist, wird durch den Aberglaube an die glückliche Chance abgelöst" ("Apokalypse ..").

 

 

Eine mögliche Interpretation des Verhältnisses von Wahrscheinlichkeitswerten und Wahrheitswerten wird heute - nach Günther - darin gesehen (und auch praktisch-real vollzogen),

 

"daß die ersteren in die letzteren in einem Prozeß unendlicher Approximation übergehen und daß die Formel der zweiwertigen, aristotelischen Logik die idealen und absoluten Grenzfälle aller logischen Wahrscheinlichkeitsstrukturen darstellen. Wahrscheinlichkeits- und Wahrheitslogik bilden also ein System derart, daß die Wahrheitsfunktion in unserem Denken nur noch als unerreichbare Extremfälle des aktuellen Wahrscheinlichkeitsdenken eine Rolle spielen. Wahrheit definiert damit lediglich die Limesbedingung, an der die letzte Konkretion des Denkens und damit das Denken selbst verschwindet". Damit ist "eine enorme metaphysische Entwertung der Wahrheitslogik impliziert ..., aller eigenen Substanz entleert, ... und es bleibt von ihr nichts übrig als eine leere Schale, die inhaltlich nichts als Wahrscheinlichkeit enthält" (ebd).

 

Hier wird aus einer anderen - logischen - Sichtweise das vorgeführt, was Jean Baudriallard w.o. im Sozial-Gesellschaftlichen beschreiben hat und was in seiner Grundstruktur thematisch beliebig variieren kann. Man könnte fast sagen: die alten erkenntnistheoretisch-philosophischen Denkfiguren wie z.B. von Hegel: "schlechte Unendlichkeit", "Verschwinden auf Metaebenen" oder "ein auf sich selbst angewandter Dualismus von Subjekt und Objekt" (eine "infinitive Iterierbarkeit") haben sich im Sozialen und Psychischen entäußert und beginnen, die "soziale Totalität" fast übermächtig zu bestimmen. Das wäre die Situation nach der ersten Grenzöffnung.

 

"Trotzdem - so Günther - ist diese Interpretation (s.o.) auf einer gewissen Stufe des ... Bewußtseins notwendig, obwohl sie alle bisherige Metaphysik ruiniert, und die menschliche Seele aller konkreten Essentialität beraubt. Sie ist nämlich spezifischer Ausdruck des orginalen ontologischen Verhältnisses, in dem Wahrheit und Wahrscheinlichkeit auf dem Boden der Spiritualität der regionalen Hochkulturen zueinander stehen" (ebd).

 

Zur geschichtlichen Entwicklung der Logik führt Günther in diesem Zusammenhang aus:

"  Der Sinn der modernen Entwicklung der Logik ist der, daß dem gegenwärtigen theoretischen Bewußtsein des Menschen seine klassisch-metaphysischen Grundlagen verloren gegangen sind. Er orientiert sich nicht mehr an Wahrheit, sondern Faktizität. Nichts in der faktischen Welt aber zwingt das Denken ..., diese Axiomatik bedingungslos anzunehmen. Freilich liefert man mit der Aufgabe einer philosophischen Axiomatik sein Denken an den objektiven Mechanismus aus. Aber diese Konsequenzen werden heute noch nicht gesehen." (AA,490)

Die Auslieferung oder Unterwerfung unter einen "objektiven Mechanismus" - in sozialer oder gesellschaftlicher Hinsicht eine Aktualität -, das wird ja gerade von der "Systemtheorie" Luhmanns affirmativ gut beschrieben. Es sind immer bestimmte Codes und Unterscheidungen, die Systeme oder Subsysteme bestimmen: Macht - keine Macht (Regierung - Opposition), Geld - kein Geld, Wahrheit -Irrtum usw. Daher kommt auch ein gewisser "Pragmatismus" in der Theorie. Doch auch hier gilt, was Günther gegenüber dem amerikanischen Pragmatismus kritisierte:

"Was der pragmatische Mensch der amerikanischen Welt noch nicht begreift und vermutlich auf längere Zeit hinaus auch nicht begreifen kann, ist, daß man aus Tatsächlichkeiten etwas als neue Tatsachen nur dann herausholen kann, wenn man seine eigenen, persönlichen Fragen stellt und das Faktische zur Antwort zwingt (Kant), anstatt geduldig darauf zu warten, was der bloße Stoff freiwillig mitteilen wird. Der Gedanke, daß das "Material" völlig seine Identität und seinen Bedeutungsgehalt, ja sogar seinen Materialcharakter wechseln kann, wenn der Beobachter seinen Standpunkt fundamental ändert, ist in der Welt Amerikas noch nicht als eigene Erfahrung konzipiert worden. " (AA) (Anmerkung: diese Aussage könnte auch auf Luhmann zutreffen)

 

Was Günther damit meint: "Änderung des Materialcharakters", hat er gut 20 Jahre später im Zusammenhang der philosophischen Erforschung der Kybernetik und deren Aufgabenstellung  beschrieben. Diese Thesen führen dann zu 2. Grenzöffnung, der Grenzüberschreitung über das "zweiwertige Bewußtsein überhaupt" hinaus (IV).

"(In diesem Sinne) ist z.B. das Sakrament des Abendmahls, das die Verwandlung von Wein und Brot in Blut und Fleisch des Leibes Jesu Christi lehrt, eine höchst sinnvolle Aussage über fundamental-ontologische Eigenschaften dieser Wirklichkeit, von derer Gesetzlichkeit wir heute wenig mehr als nichts wissen. Der Atheismus, der es nur bis zu der bornierten Behauptung bringt, das es weder Gott noch die Heiligen 'gebe', ist völlig unfähig zu verstehen, das Märchenbücher, Sagen oder die kodifizierten Texte der Weltreligionen als Handbücher für den kybernetischen Techniker zu gebrauchen sind. Allerdings sind diese Handbücher, was ihren technischen Gebrauch angeht, in Kryptogrammen geschrieben, die erst enträtselt werden müssen.

Dem noch ganz in seinen klassischen Vorstellungen Befangenen wird das eben gesagte entweder als Blasphemie oder als krasser Unsinn erscheinen. Der Kleine und der Große Katechismus als Lehrbuch für den Elektrotechniker! Der kritiklos am mono-kontexturalen Weltbild Orientierte kann gar nicht anders urteilen." (Tod des Idealismus)

 

 

IV. Die trans-klassische Thematik: die "zweite" Grenzüberschreitung

 

Ich komme mit den letzten Ausführungen von Günther zur zweiten Grenzöffnung, d.h. zur Grenzüberschreitung des zweiwertigen Bewußtseins überhaupt, oder: zur Loslösung des operativen Symbols von der Gegenständlichkeit überhaupt.

 

Die allgemeine Thematik, man müßte genauer sagen: die allgemeine Handlungs-Thematik lautet: Materie (Gravitation), Bewusstsein, Raum, Zeit, das "Nichts" (positiv gefaßt!), Hyperraum, Viele-Welten-Theorie u.a..

 

 

Schaubild 4: zweiwertiges Bewusstsein und die zweite Grenzöffnung (dritter Wert)

 

 

  --> transklassische      Fragestellungen: Übergang zu unendlich vielen Gegenwelten / Multidimensionalität ( Günther: „subatomare Region“; transklassisches Es; „arteigene Intelligenz“; Ausdehnung aus dem kosmisches Raum; „Transkosmisches“ - planetarische Hochkultur / dritte Ge-schichtsepoche; „Welt-geschichte des Nichts“)

Hier, bei der zweiten Grenzöffnung, beginnen für Günther "transklassische“ Fragestellungen wie Weltbild und Logik. Dahinter steht die geschichtsphilosophische Aufgabe, die traditionelle Metaphysik in technische Existenzprobleme zu transformieren.

Der dritte logische Wert, gegenüber der zweiwertigen klassischen Logik, stellt den "Übergang von Welt zu unendlich vielen Gegenwelten dar. Diese Logik sollte die Übergänge sowie Strukturen abbilden .." und "einen Ausbruch aus dem klassisch-kosmischen überhaupt in ein Transkosmisches (repräsentieren), aus dem Bannkreis aller überhaupt erfahrbaren menschlichen Rationalität .. in ein "Rationales", das .. außer-menschlich im klassischen Sinn ist.( GG, Selbstdarstellung)

 

Der transklassische Ort, dort, wo für Günther die "Ausdehnung des Menschen aus dem kosmischen Raum" beginnt - u.a. mit Hinweis auf die Atomphysik und Heisenbergs Ergebnis, daß in subatomaren Regionen das isolierte Objekt keine beschreibbaren Eigenschaften mehr hat - zeigt eine "arteigene Intelligenz". Und mit Einstein`s Relativitätstheorie fordert er u.a .in philosophischen und technologischen Konzeptionen,  dass das "Nichts"/der Raum "gekrümmt“ werden können muss. (Vergl. auch „AA“, "Weltgeschichte des Nichts")

(Aus dieser Perspektive können die Unterscheidungen von Loslösung des Symbols von (konkreter, individueller) Gegenständlichkeit und Gegenständlichkeit überhaupt auch identifiziert werden mit der ersten und zweiten Grenzöffnung. ) -

 

Günther hat Anfang der 50iger Jahre aus amerikanischen Science-Fiction-Berichten "geschichtsphilosophische Konsequenzen" diskutiert und gezogen. Doch heute scheint die theoretische Physik die SF zu überholen. Stichworte sind: Hyperraum, 5.Dimension, Wurmloch, Schwarze Löcher, Einstein-Rosen-Brücke, Viele-Welten-Theorie, Superstring, Große Einheitliche Theorie u.a.m.. Diese kategorialen Bereiche, die erst noch weltanschaulich, spirituell und naturwissenschaftlich erforscht werden müssen, sind diejenigen Realitätsdimensionen, auf die sich eine transklassische Logik „ontologisch“ und eine planetarische Kultur „stofflich“ beziehen würde.

 

Was zu erwarten ist, wenn es uns gelingt, alle Kräfte in einer einzigen Superkraft zu vereinigen, hat der Physiker Paul Davies erörtert. Bei ihm heißt es:

 

"Wir könnten die Struktur von Raum und Zeit verändern, Knoten im Nichts schürzen und die Materie unserer Ordnung unterwerfen. Die Beherrschung der Superkraft würde uns befähigen, Teilchen nach Belieben herzustellen und zu verwandeln und auf diese Weise exotische Materieformen zu erzeugen. Wir könnten sogar in der Lage sein, die Dimensionalität des Raumes zu beeinflussen und bizarre künstliche Welten und unvorstellbare Eigenschaften zu erschaffen. Wahrlich, wir wären die Herren des Universums." (Superkraft,  Die Suche nach der Großen Einheitlichen Theorie der Natur ,1984, engl. )

 

Hier ist angedeutet (siehe die offengelassene Antwort in I.), was die Trennung (Loslösung) der operativen Symbole von Gegenständlichkeit überhaupt „bedeutet“ und welche (geschichtlich) völlig neuartigen Fähigkeits- und Handlungspotentiale  in ihr enthalten ist. (Dabei wird die bisherige gesellschaftshistorische Fassung von „Menschsein“ nicht unberührt bleiben) – (siehe hierzu auch die Anlage zu N.Tesla, der Davis Spekulationen zu Beginn des Jahrhunderts vorwegnahm)

 

Anhang zu Visionen und Spekulationen von N.Tesla:

 

Nikola Tesla formulierte Anfang des Jahrhunderts:

"Bevor noch viele Generationen vorbei gehen, werden unsere Maschinen von einer Kraft angetrieben werden, die an jedem Punkt des Universums verfügbar sein wird. Diese Idee ist nicht neu: wir finden sie in dem köstlichen Mythos von Antheus, der Energie aus der Erde gewann; und wir finden sie unter den subtilen Spekulationen eines unserer hervorragenden Mathematiker ...

Überall im Raum befindet sich Energie. Ist diese Energie statisch oder kinetisch? Wenn sie statisch ist, sind unsere Hoffnungen vergeblich. Wenn sie kinetisch ist - und wir wissen mit Sicherheit, daß sie es ist - dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Menschheit ihre Maschinerie direkt an das Getriebe der Natur anschließen wird" (in: Ratzlaff, John, Tesla Said, Tesla Book Company, PO Box 1649, Greeville, Tx 75401, 1984)

S.53

„In einem völlig entwickelten Wesen, einem Menschen, manifestiert sich von selbst ein mysteriöses, unglaubliches Verlangen: die Natur zu imitieren, zu schöpfen und die Wunder, die er wahrnimmt, selbst zu erarbeiten ... Vor langer Zeit erkannte er, daß alle wahrnehmbare Materie von einer urersten Substanz oder nicht wahrnehmbaren Feinheit kommt, die den ganzen Raum erfüllt, dem Akasha oder leuchtenden Äther, innerhalb dessen das lebensspendende Prana, die schöpferische Kraft wirkt, die alle Dinge und Phänomene niemals endenden Zyklen ins Leben ruft. Die Ursubstanz, in infinitesimale Wirbel von gewaltiger Geschwindigkeit geworfen, wird zur groben Materie. Die Kraft läßt nach, die Bewegung hört auf und die Materie verschwindet; sie kehrt zur Ursubstanz zurück."

 

Gemäß Leland Anderson wurde dieser Artikel am 13.Mai 1907 geschrieben. Anderson weist darauf hin, daß Tesla durch den Kontakt mit Swami Vivekananda zu der Sanakrit-Terminologie kam und daß John Dobson von der San Francisco SIdewlk Astronomers Association diesen Kontakt näher erforscht."

 

"Was hat die Zukunft für dieses seltsame Wesen, den Menschen, aus einem Atemzug geboren, aus vergänglichem Stoff, jedoch unsterblich durch seine zugleich furchtsame und göttliche Macht, noch aufbewahrt? Welches Wunderwerk wird er schließlich noch schmieden? Welches wird seine größte Tat, seine Krönung sein?

 

Schon lange vorher hat der Mensch erkannt, daß alle wahrnehmbare Materie von einer Grundsubstanz kommt, einem hauchdünnen Etwas, die jenseits jeder Vorstellung den ganzen Raum erfüllt, dem Akhasa oder lichttragenden Äther, auf den die lebensspendene Prana oder schöpferische Kraft einwirkt, die in nie endenden Schwingungen alle Dinge und Erscheinungen ins Dasein ruft. Die Grundsubstanz, mit unerhörter Geschwindigkeit in nicht endenden Wirbeln herumgeschleudert, wird zur festen Materie; wenn die Kraft abnimmt, hört die Bewegung auf und die Materie verschwindet wieder und verwandelt sich in die Grundsubstanz zurück.

 

Kann der Mensch diesen großartigen, furchterregenden Prozeß in der Natur lenken? Kann er ihre unerschöpflichen Energien bändigen und sie nach seinem Geheiß alle Funktionen ausüben, ja noch mehr, sie einfach durch die Kraft seines Willens arbeiten lassen?

 

Wenn er dies könnte, hätte er fast unbegrenzte und übernatürliche Kräfte. Mit geringer Anstrengung von seiner Seite würden auf seinen Befehl alle Welten verschwinden und neue, von ihm ersonnene, ins Leben gerufen werden. Er könnte die Luftgebilde seiner Phantasie, die verschwommenen Visionen seiner Träume festigen, sie verdichten und bewahren. Er könnte alle Schöpfungen seines Geistes in jedem beliebigen Maßstab in festen und vergänglichen Formen festhalten. Er könnte die Größe eines Planenten verändern, auf seine Jahreszeiten Einfluß nehmen und ihn auf jeden von ihm gewählten Weg durch die Weiten des Weltalls führen. Er könnte Planeten zusammenstoßen lassen und seine eigenen Sonnen und Sterne, seine Wärme und sein Licht erzeugen. Er könnte Leben in all seinen unendlich vielen Formen erwecken und entwickeln. Die Schaffung und Vernichtung stofflicher Substanz und ihre Umwandlung in von ihm gewünschte Formen wäre der erhabenste Ausdruck der Macht des menschlichen Geistes, sein vollständiger Triumph über die sinnlich wahrnehmbare Welt, das krönende Werk, das ihn seine letzte Bestimmung erfüllen lassen würde."

 

Aus Toby Grotz, Der Veda und Nikola Tela, in Tattva Viveka Nr. 10, 1998, S.52-58:



 

[2] der Verlust der Transzendenz ist ebenfalls ein grundlegendes Thema bei Jean Baudriallard.