Patientengeschichte

Wenn die innere Uhr aus dem Takt kommt



Mathias Gregor* litt zwei Jahre lang an einer schweren Schlafstörung. Ganz gleich, wieviel Schlaf er sich gönnte, am Tage fühlte sich der 41jährige Nachrichtentechniker übernächtigt und unausgeruht: "Mir war, als ob ich in einem Korsett lebte: unfrei und verspannt konnte ich die Dinge um mich herum nicht mehr genießen." Eines Tages machte ihn seine Freundin darauf aufmerksam, daß er im Schlaf sehr unruhig sei. Daraufhin entschloß sich Mathias Gregor zu einer Konsultation in der schlafmedizinischen Ambulanz der Psychiatrischen Klinik der FU. Hier wurde er von Dr. Dieter Kunz zur Erstellung eines Schlafstrukturbildes (Hypnogramm) für zwei Übernachtungen in das Schlaflabor bestellt.
Nach einer Probenacht hatte sich Mathias Gregor an das fremdartige Schlafzimmer gewöhnt. Er schlief in der zweiten Nacht - der schlafmedizinischen "Beobachtungsnacht" - ohne weiteres ein, obwohl sein Kopf und Körper zur Aufnahme der erforderlichen Daten über 20 Elektroden mit verschiedenen Meßgeräten verkabelt waren.
Der Elektroenzephalograph (EEG) stellt Tiefschlaf und REM-Schlaf als elektrische Gehirnaktivität unterschiedlicher Frequenzen dar. Diese beiden Komponenten wechseln sich bei jedem Menschen in einem festen Rhythmus mehrmals in einer Nacht ab.

Schlafen im Labor: In der Psychiatrischen Klinik können Menschen mit Schlafstörungen ihren Schlaf professionell überwachen und diagnostizieren lassen. Für die Untersuchung muß der Patient eine umfängliche Verkabelung in Kauf nehmen (Foto: Psychiatrische Klinik).

Die Bedeutung des Schlafes, so Dr. Kunz, liegt höchstwahrscheinlich darin, "das Nervenbindegewebe des Gehirns in seiner Funktionsfähigkeit wieder herzustellen und das Gedächtnis zu konsolidieren". Die Restauration des Nervenbindegewebes wird dabei dem Tiefschlaf und die Gedächtnisbildung dem REM-Schlaf zugeschrieben. Besonders aufschlußreich für die Diagnostik sind die "schnellen Augenbewegungen". Sie gaben dem REM-Schlaf seinen Namen - REM ist die Abkürzung für Rapid-Eye-Movement. REM weist auf Traumphasen hin. Diese Aktivität hinter geschlossenen Augen wird vom Elektro-Okulogramm (EOG) gemessen. Schließlich erweitert das Elektromyogramm (EMG) die auf dem Schlafstrukturbild abgebildete Datenfülle um Informationen über die Bewegungen während des Schlafes.
Im gesunden REM-Schlaf setzt die Muskelaktivität vollständig aus. Der Muskeltonus, meßbar am Kinn und an den Beinen, ist dann komplett Null. Bei Mathias Gregor dagegen war die Motorik hochgradig gestört. Dazu Dr. Kunz: "Alle Schlafphasen waren zerstückelt und wichen vom normalen Rhythmus ab. Bei diesemPatienten traten Muskelzukkungen am ganzen Körper auf." Weil der Patient zu wenig Tiefschlaf bekam, stellte sich bei ihm kein Gefühl von Ausgeschlafensein ein. Weil er zu wenig REM-Schlaf hatte, konnte er sich nicht konzentrieren.
Wie kommt es zu einer so gravierenden Schlafstörung? Kunz: "Unser Tiefschlaf ist davon abhängig, wie lange wir vorher wach gewesen sind. Unser REM-Schlaf hingegen richtet sich nach der inneren Uhr." Sie wird von zwei "Zeitgebern", dem Hormon Melatonin in der Nacht und dem Himmelslicht am Tage, in einem 24-Stunden-Rhythmus gehalten." Ist die Wechselbeziehung zwischen Hormon und Licht gestört, kann es zu  Schlafproblemen kommen. Die Vorstellung, sich von dieser biologischen Basis lösen zu können, hält Kunz für eine Illusion: "Kein Kunstlicht kann das Himmelslicht ersetzen".
Gerade der REM-Schlaf ist an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden: "Wenn wir dann nicht im Bett liegen", so die Warnung des Schlafforschers, "bleibt er aus". Das individuelle Maß an Schlaf, das ein Mensch für seine Regeneration braucht, ist jedoch noch nicht wissenschaftlich überprüfbar. Einziger Anhaltspunkt dafür, ob jemand ausreichend lange schläft, bleibt die subjektive Empfindung, ausgeruht oder unausgeruht zu sein.
Bei Mathias Gregor war nicht nur der Schlaf gestört, auch sein Leben war aus dem Takt geraten: "In der Firma wurde umstrukturiert, mir wurden Aufgaben entzogen. Den Büroschlaf am Tage versuchte ich durch Aktionismus am Feierabend zu kompensieren. Ich lebte also, als hätte mein Tag 48 und nicht 24  Stunden."
Die Behandlung des Patienten umfaßte eine vierwöchige Tabletteneinnahme des Hormons Melatonin. Der Wirkungsmechanismus dieses leicht herzustellenden biologischen Pharmakons basiert auf seiner Rolle als Chronobiotikum, als Taktgeber. Das Hormon, das in der Zirbeldrüse gebildet wird, sorgt bei Tieren zum Beispiel für den Winterschlaf oder für saisonales Brüten. Die Extradosis, die Mathias Gregor einnahm, reichte aus, um sein biologisches Uhrwerk zu synchronisieren. Ist der Schlafrhythmus durch dieses Hormon erst einmal wieder richtig getaktet, läuft er fast so selbsttätig wie die Erde um die Sonne.
Gregor bestätigt diese Theorie: "Schon nach wenigen Tagen fühlte ich mich wie neu geboren und richtig ausgeruht." Allerdings ging er auch wieder regelmäßig zu Bett, denn das Melatonin sollte kurz vor dem Einschlafen, spätestens aber um 23 Uhr eingenommen werden. In einer Nachuntersuchung im Schlaflabor konnte belegt werden, daß der Patient zu einer normgerechten Schlafstruktur zurückgefunden hatte. Inzwischen hält der Therapieerfolg bereits zwölf Monate an. Gestützt wird er zweifellos von weiteren Taktgebern im Leben von Mathias Gregor: "Mit dem Büroschlaf ist es jetzt endgültig vorbei. Durch neue, interessante Aufgaben habe ich auch am Arbeitsplatz meinen Rhythmus wiedergefunden."
Sylvia Zacharias

* Patientinnen-Namen von der Redaktion geändert. 


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