Praktisches Jahr

Mehr als Muttis Held


Die junge Frau liegt reglos und mit geschlossenen Augen auf der Trage. Die Sanitäter berichten, daß sie die Frau in diesem Zustand in ihrer Wohnung auf dem Sofa liegend vorgefunden haben. Was davor geschehen ist, wissen sie nicht. Mir fallen auf die Schnelle nur drei Differentialdiagnosen ein: Krampfanfall, Unterzuckerung, Vergiftung.

Auf Ansprache reagiert die Patientin nicht. Ich kontrolliere den Puls und die Atmung - beides normal. Wir brauchen den Blutzucker. Bei dem Versuch, die Pupillenreflexe zu überprüfen, verdreht sie die Augen, weicht dem Licht aus. Aber ich sehe, daß die Pupillen gleich groß sind und auf Licht reagieren. Komisch, denke ich. Dann möchte ich in ihren Mund schauen, um zu sehen, ob Bißspuren an der Zunge zu erkennen sind - eines der typischen Zeichen nach einem großen Krampfanfall. Mit aller Kraft verschließt die Patientin ihren Mund und verwehrt mir somit den Einblick - seltsam.


Praxisnah: Unser Autor Dietmar Krähmer (28) , als "PJ'ler" in der Rettungsstelle des Urbankrankenhauses.

Inzwischen haben die Schwestern einen normalen Blutzuckerwert gemessen und legen die Elektroden vom EKG an. Für mich eine Minute zum Nachdenken. Aber ich komme einfach nicht weiter.Dann steht Dr. K., die den ersten Dienst hat, neben mir, läßt sich kurz berichten. Während ich noch überlege, welche Laborwerte wir benötigen, untersucht sie die Patientin. Ausgestreckt fallen die Arme der Frau auf die Trage, nachdem Dr. K. sie angehoben und losgelassen hat. "Bei Bewußtlosen", erklärt sie, "trifft zuerst der Oberarm auf, der Unterarm klappt nach. Wie ich das sehe, spielt uns die Frau was vor. Sie soll dem Psychiater vorgestellt werden".

Als bei mir noch der Groschen fällt, stürzt ein Pfleger in den Raum und hält uns einen EKG-Streifen unter die Nase. Ein etwa Mitte 50jähriger Patient liegt mit Brustschmerzen im Reanimations-Raum. Zeichen eines Vorderwand-Infarktes im EKG, das sieht sogar der PJ-Student. Ich eile hinterher und beobachte zunächst in respektvollem Abstand die Arbeit der Profis. Das Herz des Patienten ist inzwischen in Kammerflimmern geraten. Er wird mit einer Maske beatmet und einer der Ärzte betreibt die Herzdruckmassage. Ich soll den Puls in der Leiste kontrollieren und mir fällt eine Regel aus House of God von Samuel Shem ein: At a cardiac arrest, the first procedure is to take your own pulse.

Um mich herum werden knappe Anweisungen gerufen, zwei Venenkatheder gelegt, werden Medikamente gespritzt, die Intubation eingeleitet und der Defibrillator herangerollt. Schließlich gelingt es mittels Elektroschock, das Herz des Mannes in einen normalen Rhythmus zurückzubringen. Der Patient erwacht und wird eilig zur Intensivstation gefahren.

Diese kleine Episode mit zwei Patienten und einem Happy End hat sich in der Rettungsstelle eines Krankenhauses im Bezirk Kreuzberg abgespielt und deutet das Spektrum dessen an, was den Medizinstudenten im Praktischen Jahr hier jeden Tag und zu jeder Stunde erwarten kann. Wer das Studium in gestrecktem Galopp genommen hat und eine gute Note in der Prüfungslotterie des 2.Staatsexamens gezogen hat, mag Muttis Held sein - hier interessiert das niemanden. Am wenigsten interessiert das den Patienten, um den sich der Student im PJ zwar redlich bemüht, Geduld zeigt und glaubt die Sache im Griff zu haben. Doch wenn der Oberarzt die Szene betritt, leuchten die Augen des Patienten: "Endlich ein Arzt", atmet er auf. Das Doktorspiel ist zu Ende, der echte Doktor ist da. Etwas entäuschend, aber irgendwie verständlich.

Der Kommilitone, der sich in den grauen Tagen des Examens mit der Illusion von der Klinik, in der Milch und Honig fliessen, getröstet hat, sitzt einem abends in der Kneipe mit dunklen Rändern unter den Augen gegenüber, jammernd und zagend: "Das Studium hat uns nicht auf das vorbereitet, was jetzt verlangt wird", sagt der. Zugegeben, ich habe die einzelnen Schritte der ß-Oxidation der Fettsäuren in der Klinik bisher nicht gebraucht. Glücklicherweise, denn die konnte ich mir sowieso nie merken - aber ohne Praktikum und Vorlesung der Inneren Medizin, ohne EKG-Kurs und ohne Famulaturen wäre ich doch jetzt aufgeschmissen. Und ehrlich gesagt ist der Übergang vom Studium in die Praxis weich gepolstert, denn man trägt ja keine Verantwortung, wie beispielsweise die nette Ärztin, die den zweiten Dienst in der Rettungsstelle hat und der schon nach vier Monaten AiP (Arzt im Praktikum) der Ernst des Lebens ins Gesicht geschrieben steht. Man hat regelmäßig Fortbildungen bei meist freundlichen Klinikern, denen man hemmungslos Löcher in den Bauch fragen darf. Und fast alle reagieren erfreut und hilfsbereit, wenn man seine neugierige PJ-Nase irgendwo reinsteckt.

Sicher gibt es auch den bauernschlauen Assistenten, der einen am liebsten mit Dackeldiensten beschäftigt, um in aller Ruhe seine Drei-Stunden-Visiten machen zu können. Oder die gestrenge Oberärztin, die ausnahmslos alles, was der PJ-Student beisteuert für lästig und irrelevant hält. Aber die sind die Ausnahme.

Solange unser Studium derart theoretisch angelegt ist, brauchen wir das Praktische Jahr, das vieles relativiert und uns in schönen Momenten sogar die Einsicht verschafft, daß nicht alles umsonst war, was wir in den letzten Jahren gelernt haben.

Dietmar Krähmer


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