Das Januar-Porträt

Pädaudiologe mit Pilotenschein


Leicht erschöpft von den Einsätzen des mittwöchlichen "OP-Tages" rückt Prof. Manfred Gross drei noch nicht ausgepackte Umzugskisten beiseite, um seinem Gast Platz zu schaffen. Achtet er eigentlich auf seine Hände? "Also, Gartenarbeit - bitte nur mit Handschuhen!"

Daß Manfred Gross eine Überdosis an Arbeit zu verdauen hat - als Boss eines 50-Mann-Betriebs mit "90-Stunden-Woche" - ist ihm nicht anzumerken. Er ist ein allzeit aufmerksamer Gesprächspartner mit jungenhaft-nonchalantem Charme und angenehmer 'Sprecherstimme'. Kommunikationsqualitäten, die für ihn auch berufsnotwendig sind: Gross, Leiter der Abteilung für Audiologie und Phoniatrie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin, ist Experte für hör- und sprachbedingte Verständigungsprobleme.

Berufsfremde Ambitionen und Hobbies verbieten sich bei der Vielschichtigkeit dieses Faches von selbst - fünf weitere medizinische* und sechs nicht-medizinische Gebiete** gehören in das Spektrum. Auch für Freundschaften, etwa mit interessanten Patienten aus dem Schauspiel- und Opernfach, ja selbst für eine normale Ehe, "ist in unserem Job keine Zeit", so das nüchterne Fazit von Prof. Gross.


Professor Manfred Gross

Schon der Abiturient zeigte den Hang zur Komplexität. Da er sich nicht gleich entscheiden wollte, hat der Bankierssohn "konsequenterweise" alles gemacht: kaufmännische Lehre, Pilotenschein und Medizinstudium. 1988, nach der Facharztausbildung in Mainz, liegen zwei Angebote auf dem Tisch: eins aus Frankfurt, das andere aus Berlin. Nur weil das Klinikum Steglitz mit besser ausgebildeten Mitarbeitern aufwartete, entschied sich Gross für die "Un-Stadt" Berlin.

Seine Doktorarbeit weist auf großen Handlungsbedarf . An Schulen für Hörbehinderte etwa war die "Effektivität der Hörgeräteversorgung von Kindern" bis in die 80er Jahre gleich Null. "Die Lehrer haben die Geräte während des Unterrichts einfach weggeschlossen!" wundert sich Gross noch heute. Mittlerweile "ziehen die Pädagogen mit uns Pädaudiologen am gleichen Strang." Während ein Fach 'Audiologie und Phoniatrie' schon lange existierte, haben sich Facharzt und Lehrstuhl für 'Phoniatrie und Pädaudiologie' erst vor zehn Jahren gegenüber der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde verselbständigt. Dabei schließt die medizinische Qualifikation für Hörstörungen von Kindern auch die Erwachsenenaudiologie ein. Zudem haben viele Sprach- und Stimmdefizite ihre gemeinsame Wurzel in einer Hörschwäche des vorsprachlichen Kindesalters, sind also audiogen.

,Reicht es Ihnen nicht, zwanzig Kugeln anzustoßen und zu erleben, daß neun davon ins Ziel kommen?" wird Gross von seinem "gescheiten Oberarzt" oft gefragt. "Nein. Ich habe einen pathologischen Ehrgeiz", gesteht er treuherzig, "ich will immer alles auf einmal." Seinen Doktoranden gibt er die Devise "Nahziele setzen!" mit auf den Weg. Er selbst hat eindeutige Pioniers-Visionen: Schließlich "braucht ein so junges Fach eine beschleunigte Entwicklung". Ein Schritt in diese Richtung ist der Aufbau eines bundesweiten Zentralregisters für kindliche Hörstörungen. Das bedeutet 20 Minuten zusätzliche Schreibtischarbeit pro Kind. Doch da kommt er sich im Moment vor "wie ein Ochsentreiber", entgegen aller Lippenbekenntnisse stößt er bei den Kliniken auf taube Ohren.

Was wäre für den 44jährigen das größte Unglück? "Wenn alles, was ich in meinem Leben investiert habe, umsonst gewesen wäre." Seine gegenwärtige Geistesverfassung? "Optimistisch." Mit einer positiveren Erwartungshaltung überliste er sich selbst, "denn damit geht vieles einfacher." Zur guten Stimmung trägt der Umzug ins ehemalige US-Hospital bei. Gross: "Da war für mich die Welt wieder in Ordnung!" Vergessen sind die Unarten der selbstgefälligen Berliner oder die Arztschelte so mancher Patienten. "Es hat mich bewegt", gesteht er dankbar, "daß so viele Leute diesen Umzug durch persönliches Engagement unterstützt haben, daß die Techniker hier abends um neun noch die Telefone installierten, obwohl sie schon lange Feierabend hatten...."

Sylvia Zacharias

* Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Neurologie, Psychiatrie, Kinderheilkunde und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie
** Psychologie, Linguistik, Kommunikationswissenschaften, Pädagogik, Akustik und Phonetik


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