Patientengeschichte

Kaum mehr als ein Flüstern...


Die junge, blonde Frau redet und redet. Wörter und Sätze sprudeln aus ihr heraus. Sie erzählt gerne, hat das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Ihre Stimme hat einen weichen, etwas kindlich-nasalen Klang. Diese Stimme verrät, wenn Ulla Schmidtke* von Dingen spricht, die sie bewegen. Dann wird sie dunkler, rauh, ein bißchen spröde. Die heute 29jährige erinnert sich, wie sie zu Ostern 1993 ganz plötzlich nicht mehr sprechen konnte.


Nach wiederholtem Stimmverlust kam Ulla Schmidtke (r.) zur stationären Psychotherapie ins Klinikum, wo sie von Dr. Bettina Kallenbach betreut wurde.

"Es kam nur ein Flüstern und Krächzen und manchmal ein Kieksen und Piepsen, aber es tat überhaupt nichts weh." Nach einigen Wochen war ihre Stimme dann plötzlich wieder da. In den folgenden Jahren wiederholte sich diese Heiserkeit drei -bis viermal jährlich. Zahlreiche Therapieversuche verschiedener Hals-Nasen-Ohrenärzte blieben erfolglos. Auch die Behandlung mit Antibiotika bewirkte nichts. Nachdem sie im Mai 1996 über acht Wochen stimmlos blieb, vermutete ihr HNO-Arzt, mit dem Ulla Schmidtke auch über ihre persönlichen Probleme sprach, daß ihr Stimmverlust seelische Ursachen haben könnte. Er überwies sie an die Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Benjamin Franklin.

"Ich war zu dieser Zeit fast immer sehr traurig und habe viel Zeit Süßigkeiten essend vor dem Fernseher verbracht", erzählt die gelernte Hauswirtschafterin. Nach zwei Gesprächs- und Untersuchungsterminen wurde sie zur stationären Psychotherapie in der Klinik aufgenommen. Schon in den Vorgesprächen wurde Ulla Schmidtkes problematische Beziehung zu ihrer Mutter deutlich.

Die passionierte Tagebuchschreiberin, die heute relativ unbefangen über ihre Vergangenheit und ihre seelischen Probleme reden kann, hatte keine leichte Kindheit. Als sie zwei Jahre alt war, verließ ihre alkoholkranke Mutter die Familie. Ulla wuchs bei Vater und Stiefmutter auf und fühlte sich gegenüber dem Halbbruder vernachlässigt. Mit neun Jahren kehrte sie zu ihrer Mutter zurück, die sie schlug und mißhandelte. Nach einem Jahr des Leidens fand sie in einem Kinderheim im Grunewald schließlich ein Zuhause. Dort blieb sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Als Ulla Schmidtke 1987 in der Küche eines Krankenhauses zu arbeiten beginnt, trifft sie auf ihre Mutter, die ebenfalls dort angestellt ist und die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

"Daß ihre Mutter dann 1993 auf einen ihr zum 50. Geburtstag geschickten Blumenstrauß nicht reagierte und sie als Tochter trotz zahlreicher Annäherungsversuche auch am gemeinsamen Arbeitsplatz ignorierte, hat ihr damals zum ersten Mal buchstäblich die Stimme verschlagen", erklärt Dr. Bettina Kallenbach. Sie betreute die Patientin als Psychotherapeutin während ihres dreimonatigen Aufenthaltes im Universitätsklinikum Benjamin Franklin. Ziel der stationären Psychotherapie ist es, die Patienten aus ihrem fatalen Kreislauf von Schmerzen, Leiden, erfolglosen Arztbesuchen und Depressionen herauszuholen.

In der mit 13 Betten ausgestatteten Abteilung für Psychosomatik wird ein breites Spektrum von Behandlungsformen angeboten. Dazu gehören neben der Einzel- und Gruppengesprächstherapie auch die Bewegungs- und die Gestaltungstherapie, autogenes Training, Yoga und Sport. Wichtigste Voraussetzung für den Erfolg eines Aufenthaltes ist es aber, daß die Patienten ihre seelischen Probleme erkennen und motiviert sind, ihnen auf die Spur zu kommen. Ulla Schmidtke hat das gute Gefühl, mit Hilfe dieser verschiedenen Therapien sehr viel für sich getan und geschafft zu haben: "Ich habe jetzt ein ganz anderes Selbstbewußtsein und kann auch mit meinen Gefühlen meiner Mutter gegenüber besser umgehen. So hat für mich - seit ich wieder zu Hause bin - ein ganz neues Leben angefangen.Und meine Stimme hat mich bis jetzt auch nicht mehr im Stich gelassen", sagt sie und lächelt dabei verschmitzt.

Betina Meißner

*Name von der Redaktion geändert


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