Die Angst vor dem Neuen ist in der Wissenschaft noch weit verbreitet

Der kreative Umgang mit der Information



,,Die konzentrierte Arbeitsatmosphäre einer Bibliothek tut der schöpferischen Tätigkeit des Wissenschaftlers gelegentlich ausgesprochen gut`` (Foto: Ausserhofer),

Der elektronische Brief an den Kollegen in Stanford erreicht sein Ziel in drei Sekunden. Manche Veröffentlichungen sind im Internet abrufbar, bevor das Heft der Zeitschrift in Druck gegangen ist. Die erste Recherche zum Thema einer Dissertation liefert nicht nur zügig eine Menge von Fundstellen, sondern direkten Kontakt zu Wissenschaftlern, die an ähnlichen Themen arbeiten. Andererseits: Die Hauspost zwischen benachbarten Fachbereichen der FU benötigt etwa zwei Tage. Die Universität kann die Kosten für wissenschaftliche Zeitschriften nicht mehr aufbringen. Das Ergebnis einer Recherche ist nicht selten eine Flut von irrelevantem Material. Ist das die schöne neue Welt der elektronischen Information?
Fest steht: Der sich vollziehende Umbruch der Kommunikation wissenschaftlicher Information ist in mancherlei Hinsicht problematisch. Die konzentrierte Arbeitsatmosphäre einer Bibliothek tut der schöpferischen Tätigkeit des Wissenschaftlers gelegentlich ausgesprochen gut. Die Beschleunigung des Kommunikationsprozesses endet nicht selten in hektischem Stillstand. Es wäre sicher kein Schaden, wenn die E-mail erst am nächsten Tag beim Adressaten einträfe. Wie geistiges Eigentum in den weltweiten Rechnernetzen technisch und rechtlich geschützt werden kann, ist weitgehend ungeklärt. Hat das copyright im Zeitalter des copy-Befehls überhaupt noch eine Bedeutung? (,,Jura online``) Nicht zu vergessen: Die Unterstützung des Wissenschaftsprozesses durch elektronische Medien kostet Geld ­ ob mehr oder weniger als der konventionelle Prozeß, ist bisher nicht eindeutig zu beantworten.
Fest steht aber auch, daß elektronische Informationsformen den Wissenschaftsprozeß bereichern. Die nahezu beliebige Verknüpfbarkeit von Daten nach unterschiedlichsten Kriterien oder die Visualisierung von Zusammenhängen gehören dazu. In 10 Jahren wird die elektronische Form der Information mindestens gleichberechtigt zur papiergebundenen sein. Manche sprechen von einer Revolution vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Die Hochschulrektorenkonferenz stellte 1996 fest: ,,In der ,Informationsgesellschaft` werden sich Methoden und Techniken der Erzeugung, Verbreitung und Vermittlung von Wissen grundlegend ändern.`` Damit wird die Wettbewerbsfähigkeit einer Hochschule in hohem Maße davon abhängen, ob ihre Mitglieder bereit und in der Lage sind, die neuen technischen Möglichkeiten produktiv zu nutzen. An vielen Universitäten ­ die Freie Universität ist keine Ausnahme ­ steht es damit nicht zum Besten. Im Kern geht es aber nicht um Digitalisierung, sondern darum, Information am Arbeitsplatz des Wissenschaftlers recherchieren, verknüpfen und gegebenenfalls visualisieren zu können. Eine Digitale Wissenschaftliche Bibliothek kann damit als eine verteilte elektronische Informations- und Kommunikationsstruktur verstanden werden, die die bisherigen Fachinformationsfunktionen integriert und um neue erweitert. (Vgl. ,,Die Buchmaschine``)
Zu den Vorteilen der digitalen Bibliothek gehört die Möglichkeit, ohne Zeitverzug die Literaturreferenzen eines Artikels zu beschaffen, die im Idealfall ebenfalls elektronisch verfügbar sind und per ,,Mausklick`` abgerufen werden können. Ähnlich nützlich wären Annotationen, die anderen Lesern der Arbeit oder nur dem Autor, zugänglich sind. Damit ließe sich ergänzend zu den herkömmlichen Formen der wissenschaftlichen Kommunikation eine ­ im Gegensatz zu news-groups - fokussierte Fachdiskussion führen. In vielen Disziplinen ist es wünschenswert, Zusammenhänge visualisieren zu können, ohne Spezialisten konsultieren zu müssen. In den Natur- und Ingenieurwissenschaften wäre es für den Leser einer Arbeit nützlich, direkten Zugang zu den Ausgangsdaten der Publikation zu haben. Diese und andere Funktionen können neben der klassischen Informationsrecherche Bestandteile einer Digitalen Bibliothek sein, die das wissenschaftliche Arbeiten  nennenswert unterstützt.
Die wichtigsten Hindernisse für den Aufbau einer angemessenen universitären Informationsinfrastruktur sind die schlecht ausgestatteten Wissenschaftlerarbeitsplätze und die mangelnde Koordination der erfreulicherweise an vielen Stellen zu beobachtenden individuellen Initiativen. Nicht zu unterschätzen ist die fehlende Bereitschaft vieler Wissenschaftler, sich auf Neues einzulassen. Diese Haltung ist verständlich, ist doch auf den ersten Blick nicht erkennbar, welche Chancen die neuen Techniken für die eigene Arbeit bieten. Um so wichtiger ist das Setzen angemessener Prioritäten im Rahmen der Entwicklungsplanung einer Universität.

Die Arbeit der Informatiker

Die Informatik ist bei der Entwicklung einer Informations- und Kommunikationsinfrastruktur naturgemäß besonders gefordert: Der Aufbau verteilter Datenverarbeitungssysteme mit vielen teilweise autonomen Subsystemen - in Fachbereichen, Zentralverwaltung, Hauptbibliothek, anderen Dienstleistungszentren der Universität und nicht zuletzt am Arbeitsplatz des Wissenschaftlers - ist noch mit ungelösten technischen Risiken behaftet. An der Frage, ob autonome und gegebenenfalls mobile Softwarekomponenten (agents) gewinnbringend eingesetzt werden können, wird derzeit weltweit intensiv geforscht. Gegenstand eingehender Forschungen sind auch Verfahren zur Verbesserung von Rechercheergebnissen. Die Klassifikation von Dokumenten und die Bestimmung einer Rangfolge nach Relevanz sind nur unzureichend gelöste Probleme. Selbst banal erscheinende Fragen erweisen sich als schwierig: Bisher gibt es etwa keine zufriedenstellende Lösung für das Entfernen von Dokumenten aus einer Dokumentmenge, die ,,fast`` gleich sind, etwa ein Vorabdruck und die endgültige Veröffentlichung.
Die Bedeutung einer Informationsinfrastruktur auf elektronischer Basis ­ verkürzt Digitale Bibliothek ­ wurde vielerorts erkannt. Es gibt offizielle Stellungnahmen der DFG und des Wissenschaftsrats zu diesem Thema. Der Autor ist Mitinitiator des Schwerpunktprogramms Verteilte Vermittlung und Verarbeitung Digitaler Dokumente der DFG. Das Forschungsministerium hat ein Programm Global Info zur Förderung der Erstellung und Nutzung Digitaler Dokumente aufgelegt. Die Freie Universität ist daran beteiligt.

Gelegentlich fehlt es noch an Transparenz, um die Vorteile neuer Techniken erkennen zu können. Nachweis: Ouwerkerk
Gegenüber amerikanischen Spitzenuniversitäten gibt es allerdings massiven Nachholbedarf. Der komfortable Online-Zugriff auf bibliographische Daten vom Arbeitsplatz aus ist etwa in Berkeley seit langer Zeit Routine. Heute geht dort die technische Weiterentwicklung und die Förderung der Nutzung digitaler Dokumente in eher ,,computer-fernen`` Fächern Hand in Hand. Das mag an den üppigen, nicht nur staatlichen Fördermitteln liegen. Eine wichtige Rolle spielt sicher die größere Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Techniken und die Kreativität, mit der sie eingesetzt werden.
In den in einigen Arbeitsgruppen im Fachbereich Mathematik und Informatik durchgeführten grundlegenden Forschungsarbeiten zu Verteilten Systemen und zur Visualisierung von Daten sind Digitale Bibliotheken nur ein Anwendungsgebiet unter vielen. In der Arbeitsgruppe Datenbanken und Informationssysteme werden Forschungsarbeiten zu Information Retrieval ­ etwa zu verteilter Recherche ­ mit unmittelbar nutzbaren Entwicklungen verbunden. Zu nennen ist besonders die Digitale Naturwissenschaftliche Bibliothek Darwin. (,,Mit Darwin durchs Dickicht``) Sie vereinfacht den Zugang zu Elektronischen Zeitschriften und macht Dissertationen, die in elektronischer Form vorliegen, recherchierbar.
Heinz Schweppe, Institut für Informatik

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