Brief aus Stockholm


Es ist der 1. Mai, und auch in Stockholm hat mit Valborg offiziell der Frühling begonnen. Valborgsmässafton (= Walpurgisnacht) wird als großes Volksfest gefeiert. Am 30. April geht man zu einem der vielen Feuer, die überall entzündet werden und am 1. Mai d emonstriert man; so sollte es zumindest sein. In erster Linie ist Valborg aber ein Studentenfest. Überall sieht man weiße Studentenmützen, und die Auswahl an Feten ist groß. Alle freuen sich, daß der lange, dunkle Winter jetzt endlich vorbei ist. Auch wenn Natur und Temperaturen noch nicht auf dem Stand von Berlin sind, entdeckt man inzwischen die ersten Osterglocken zwischen den letzten Schneeresten.


Von Constanze Reutlinger/
z.Zt. in Stockholm


Wie bin ich in diesen Winter geraten? Ich studiere momentan als Erasmusstudentin am Karolinska-Institut, der Stockholmer Medizinischen Universität. Meine Erwartungen hier, vor meinem zweiten Staatsexamen noch einmal eine sehr praxisorientierte Ausbildung m itzuerleben, haben sich bestätigt. An unser deutsches Studiensystem gewöhnt, erstaunt einen der von Montag morgens um acht bis freitags um fünf vollgepackte Stundenplan doch zunächst etwas. Darin enthalten sind aber vor allem viele Stunden wirklich praktis cher Arbeit. Besonders in der Notaufnahme - wo man in der Regel der erste ist, der den Patienten untersucht - merkt man, daß sich die viele deutsche Theorie auch anwenden läßt. Wenn dann der erste Aufnahmebefund auf schwedisch diktiert ist, freut man sich auch noch über die sprachliche Leistung.

An alle, die sich eventuell für Schweden interessieren: Die Sprache ist lernbar. Oft ist die Ähnlichkeit mit dem Deutschen schon frappierend. Wenn man sich erst einmal an Schreibweise und Aussprache gewöhnt hat, kommt man mit einer Mischung aus deutschen und englischen Begriffen mit schwedischem Zungenschlag sehr gut zurecht. Englisch spricht hier fast jeder perfekt. In der Uni werden viele englischsprachige Kurse angeboten, so auch mein Chirurgiekurs im letzten Semester. Dieser trug zwar die Überschrift "international", setzte sich aber überwiegend aus Deutschen zusammen und von ihnen wiederum kam die Hälfte aus Berlin. Viele Austauschstudenten oder Gastforscher verlassen sich, so finde ich, zu sehr auf die englische Sprache. Ich allerdings halte es nicht für angemessen, mit den Patienten nicht in ihrer eigenen Sprache reden zu können. Nicht nur sie freuen sich, wenn man sich - wenn auch unvollkommen - im Schwedischen versucht.

Die meisten Menschen verbinden mit Schweden weite Natur, Elche und einen vorbildlichen Sozialstaat. Diese Vorstellungen stimmen nur teilweise. Es ist tatsächlich so, daß Schweden - verglichen mit Deutschland - ein großes, wenig bevölkertes Land ist und sich die Bevölkerung hauptsächlich auf die drei großen Städte Malmö, Göteborg und Stockholm verteilt. Stockholm ist eine wunderschön auf mehreren Inseln gelegene Stadt zwischen Ostsee und Mälarsee. Selma Lagerlöfs Graugänse nennen sie "die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt". Als spannende und anschauliche Landeskunde sei jedem Schwedenreisenden Lagerlöfs Nils Holgersson empfohlen.

Je wärmer es wird, desto mehr reizt es, der Stadt den Rücken zu kehren und sich mit dem Boot in die sich zur Ostsee erstreckenden Schären zu begeben. Hier hat fast jeder Schwede seine Stuga, d.h. sein Sommerhaus und am besten noch ein Segelboot. Auch als Medizinstudentin kommt man schon in den Genuß der fachschaftseigenen Stuga. Ein Tag am Meer mit anschließendem Saunagang und Sprung in ein Loch im zugefrorenen See vergißt man nicht. Wenn man Glück hat, sieht man sogar einen Elch, ansonsten muß man sich mit den eingezäunten Exemplaren im Skansen, dem Stockholmer Freilichtmuseum begnügen. Ein Besuch dort "ersetzt" eine mehrere tausend Kilometer lange Rundreise durch Schweden. Hier sind Originalhäuser (Hütten, Höfe, Kirchen) aus dem ganzen Land aufgebaut. In d en liebevoll eingerichteten Interieurs geben traditionell gekleidete "Bewohner" gerne Auskunft und laden zu einem Kaffee ein.

Aber auch im Winter, wenn die Kälte die Lust aufs Bootsfahrten vertreibt, kann man Stockholm genießen. Auf Schlittschuhen gelangt man ohne Verkehrsstau zu den einzelnen Inseln und wird bald im alten Zentrum, Riddarsholmen und Gamla Stan, landen. Die alte Stadt ist liebevoll restauriert. In ihren engen, im Mittelalter vor allem von deutschen Kaufleuten bewohnten Straßen ist es nicht schwer, bald sein Lieblingscafè zu finden; an Theatern, Museen und Konzerthäusern ist auch kein Mangel.

Aber es begegnen einem auch hier nicht nur die Annehmlichkeiten, sondern wie überall auch die Schattenseiten einer Großstadt, sprich im Hauptbahnhof die Obdachlosen. Was einem hier ins Auge fällt, zeigt sich bei näherem Hinsehen an vielen Stellen: der schwedische Sozialstaat, Folkhemmet, bröckelt. Am deutlichsten wird dies für mich als Medizinerin am Gesundheitswesen. Diskussionen um fehlende Gelder, Schließung von Krankenhäusern und Umstrukturierung von Uniklinika unterscheiden sich nur unwesentlich von de n Debatten in Deutschland. Trotz staatlichen Gesundheitssystems steigt die Selbstbeteiligung der Patienten immer mehr. Es mutet schon komisch an, wenn vor Betreten der Notaufnahme jeder Patient erst mal seinen Beitrag entrichten muß. Bei einem Systemvergle ist allerdings zu beachten, daß der Basisstandard hier sehr hoch ist.

Im zweiten großen Stockholmer Uniklinikum, Huddinge Sjukhus, in den südlichen Vororten gelegen, wird außerdem deutlich, daß auch Schweden Einwanderungsland ist. Häufig helfen die erworbenen Sprachkenntnisse des Schwedischen im Umgang mit Patienten gar nicht weiter, nützlicher wären Kenntnisse in Türkisch, Arabisch, Spanisch oder anderen Sprachen. Gelöst wird dieses Problem allerdings vorbildlich durch den Einsatz von Dolmetschern, die speziell auf medizinische Sprachkenntnisse geprüft werden. Generell unterscheiden sich aber auch hier die Auseinandersetzungen über die multikulturelle Gesellschaft und den leider auch vorhandenen Rassismus nicht grundsätzlich von Deutschland.

Für mich etwas erschreckend ist die sehr negative Einstellung zur EU. Viele Schweden scheinen den Eintritt zu bereuen. Auch wenn Einrichtungen wie das von der EU finanzierte Erasmus-Programm gerne genutzt und gefördert werden. Das aber sollte nicht mißverstanden werden, denn die Schweden, die ich kennengelernt habe, kommen Austauschstudenten sehr offen entgegen, freuen sich wirklich, daß man hier ist und helfen in jeder Hinsicht weiter.

Zum Schluß noch eine Besonderheit: das Verhältnis in diesem Land zum Alkohol. Ein Weineinkauf erinnert an einen Apothekenbesuch. Angesichts dieser hohen Preise "importiere" ich die eine oder andere Flasche Wein (samt Vollkornbrot) aus der Heimat.

Alles in allem ist die Zeit hier viel zu schnell verflogen und ich werde mich im Sommer, wenn ich in Berlin für mein zweites Staatsexamen lerne, sicher auf eine schwedische Schäre zurücksehnen.

Constanze Reutlinger studiert momentan als zusätzliches Studienjahr zwischen 10. Semester und 2. Staatsexamen in Stockholm. Sie ist Studentin am Universitätsklinikum Benjamin Franklin und arbeitet an einer Dissertation über Elektroenzephalographie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.


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