Als die Evolution das Laufen lehrte

FU-Biologin beschreitet neue Wege in der Erforschung des Gehens


Ob auf Pumps oder barfuß, ob schleichend wie ein Sioux, ob o-beinig, schwankend wie ein Betrunkener oder stolz wie Naomi - die Gangart unserer Spezies mag viele Varianten haben. Doch immer gehen wir zweibeinig - biped - das ist die charakteristische Fortbewegungsweise des heutigen Menschen rund um den Globus. Der Mensch mag zwar mit seiner Fortbewegung auf zwei Beinen in der Evolution das Rennen allein gemacht haben, doch der Trend zum Aufrichten des Körpers kündigt sich schon bei den ursprünglichen Primaten an. Und das lange bevor die "Krone der Schöpfung" vor etwa 3,8 Millionen Jahren auf die Beine kam.

Besonders der Blick auf unsere haarigen Verwandten, die Menschenaffen, relativiert die Theorie vom aufrechten Gang als dem Schlüsselereignis der Menschwerdung. Gorillas oder Schimpansen bewegen sich zwar in der Regel auf dem Boden quadruped, vierf üßig also. In bestimmten Situationen aber - beim Futtertransport oder in sozialen Rangeleien -legen sie eine andere Gangart ein: sie laufen über kleinere Strecken biped, das heißt wie der Mensch, auf zwei Beinen. Das sieht nicht beso nders leichtfüßig oder elegant aus und der Schimpansengang gleicht eher dem eines schwankenden Seemanns.


Laufen für die Wissenschaft: Wenn der Gorilla "Dufte" auf zwei Beinen durch sein Gehege im Berliner Zoo marschiert, wird er von vier Kameras aus unterschiedlichen Blickwinkeln gefilmt. Aus diesen zweidimensionalen Videosequenzen werden die Koordinaten der Bewegung im Raum berechnet und mit dem menschlichen Gang verglichen.

Dennoch finden sich in der bipeden Gangart der Menschenaffen weniger Ähnlichkeiten mit dem aufrechten Gang des Menschen, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Vielmehr ist es ihre Fortbewegung auf allen Vieren, die die Eigenarten des menschlichen Ganges widerspiegelt. Dies ist eines der ersten Ergebnisse der Doktorarbeit der Biologin Angelika Hofstetter. Unter der Leitung von Prof. Carsten Niemitz geht sie am Institut für Anthropologie und Humanbiologie der Freien Universität Berlin der Frage nach, inwieweit unsere enge Verwandtschaft mit den Menschenaffen auch beim Gehen sichtbar wird. Schimpansen, so erklärt sie, werden heute, gemeinsam mit Gorillas, Orang-Utans und dem Menschen, in eine sogenannte Superfamilie gestellt: die Hominoidea. Und Menschen affen gelten als Modell für unsere gemeinsamen Vorfahren. Auch für die Klärung von weitergehenden Fragen zur Evolution unserer aufrechten Gangart erhofft sich Angelika Hofstetter von den Gehversuchen unserer wilden Verwandten gute Dienste: Wie ging der Schritt von unseren, sich auf allen Vieren fortbewegenden Vorfahren zu uns Aufrechtgängern vor sich?

"Bei Fragen nach Übergangsformen setzt in der Regel unser menschliches Vorstellungsvermögen aus", sagt Angelika Hofstetter, die mit ihrer Doktorarbeit etwas Licht in das Dunkel unserer Millionen Jahre alten Vergangenheit bringen will. "Vielleicht", vermutet die Diplombiologin, "gab es schon andere funktionsmorphologische Gegebenheiten an den Gelenken unserer Vorfahren, die an den Fossilien nicht sichtbar sind". So sind zwar Muskelansätze auch an fossilen Knochen grundsätzlich erkennbar, die genaue Funktion der Muskeln bei einer Bewegung geht aber daraus nicht hervor. Deswegen können die fossilen Überbleibsel unserer Ahnen nur eine vage Vorstellung von ihrer realen Fortbewegung geben. Zudem ist es eine mühselige Aufgabe, anhand dieser Fragmente die Entwicklung der Menschheit nachzuzeichnen. Sie gleicht in etwa dem Versuch, die Geschichte eines Romans anhand von ein paar Dutzend herausgerissenen Seiten richtig nachzuerzählen.

In ihrer Dissertation "Vergleichende Untersuchung der Fortbewegung verschiedener Primatenarten mittels computergestützter Ganganalysen" nähert sich Angelika Hofstetter auf eine ganz andere Weise der Frage, wie der Mensch auf beide Beine kam. Hierbei setzt sie das bisher in Sport, Orthopädie und Ergonomie angewandte Bewegungsanalyse-System Peak5 gezielt zur Erforschung des menschlichen Ganges ein. Peak5 übernimmt die Digitalisierung dreidimensionaler Bewegungen und ermöglicht die vielfältigsten Analysen - von der Stellung der Gelenkwinkel über die Berechnung der Beschleunigung bis hin zur Frage, wie sich Gewicht oder Schuhwerk auf das Gehen auswirken.

Das war bis vor wenigen Jahren noch undenkbar, als WissenschaftlerInnen gezwungen waren, eine schlichte Bewegung wie das Gehen mühsam mittels Fotoserien und kompliziertester Apparaturen darzustellen. Mit modernem Werkzeug ausgerüstet, beobachtet die Diplombiologin den menschlichen und menschenäffischen Gang unter biomechanischem Blickwinkel. Angelika Hofstetter betritt in dreierlei Hinsicht Neuland: Zum ersten Mal werden dreidimensionale Daten zum aufrechten Gang des Menschen mit solchen von Menschenaffen verglichen. Zudem berücksichtigt die Biologin neben Schimpansen auch Gorillas und Bonobos, die sogenannten "Zwergschimpansen" in ihrer artspezifischen Gangart. Drittens ist es ein Plus ihrer Arbeit, daß die Affen nicht im Labor, sondern - dank der Zusammenarbeit mit dem Zoologischen Garten Berlin und anderen deutschen Zoos - im gewohnten Freigehege in experimentell unbeeinflußter Bewegung gefilmt werden. Gefilmt werden die Gangsequenzen mit vier Videokameras aus vier verschiedenen Blickwinkeln, damit der Rechner später aus den zweidimensionalen Videobildern Koordinaten für Bewegungen im Raum ableiten kann.

Für die Videos am Menschen bittet die FU-Biologin StudentInnen auf den "Laufsteg". Dort sollen sie nicht den "Mannequin-Gang" à la Claudia Schiffer demonstrieren, sondern ihren natürlichen Gang, der ihnen von Kinde sbeinen an eigen ist. Und Gehen will gelernt sein. Zwar existiert bei Säuglingen ein Schreitreflex. Trotzdem müssen Babys etwa ein Jahr lang gegen die Schwerkraft trainieren, um von allein auf die Beine zu kommen.

An alle wichtigen Körpergelenke der ProbandInnen heftet Angelika Hofstetter reflektierende Kugeln. Diese werden später vom Computer automatisch erfaßt. Die Analysesoftware verbindet diese Punkte zu groben Skelett-Modellen, die als Strichmännchen über den Monitor wandern. Sie geben die reale Bewegungsabfolge aus vielen verschiedenen Ansichten wider.

Auf den ersten Blick gleicht ein auf zwei Füßen spazierender Gorilla wohl am ehesten einem gehenden Menschen, erst auf den zweiten Blick zeigen sich eine Reihe grundsätzlicher Unterschiede. Ein ausgewachsener Gorillamann, der sich aufrichtet, bringt es auf imposante zwei Meter Größe und nimmt beim Gehen eine sehr aufrechte, steife Haltung ein - als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Seine Knie sind fast wie beim Menschen durchgedrückt. Die 3-D-Ganganalysen zeigen, daß diese "vornehme" Haltung durch die Bemühungen zustande kommt, den Körperschwerpunkt möglichst wenig aus der Bewegungsrichtung heraus zu verlagern. Dieser liegt zum einen höher als beim Menschen, zum anderen auch weiter von der Wirbelsäule entfernt. Dadurch ist das bipede Gehen für alle Menschenaffen ein Balanceakt. Für den Menschen stellt dies durch die Anpassungen ans aufrechte Gehen kein Problem mehr dar; sein Schwerpunkt ist weiter zum Becken hin verlagert. Die Beckenknochen sind ausladender, um das Gewicht aufzunehmen, die Beinmuskeln kräftig für schnelles Laufen, die Füße an bequemes Gehen und Stehen angepaßt.

Beim menschlichen Gang schwingen beide Extremitäten, Arme und Beine, mit gleicher Frequenz und Amplitude. Der Auslenkungswinkel nach vorne beträgt dabei 35 Grad, nach hinten -10 Grad. Damit werden die Kräfte ausgeglichen, welche durch die Beinbewegung auf den Körperstamm wirken. Ein Gorilla pendelt beim bipeden Gehen die Arme nur ansatzweise den Beinen vergleichbar. Bei ihm erfolgt die Kompensation der Kräfte auf eine andere Art: durch eine starke Verdrehung des Oberkörpers. Die Bewegungsanalyse zeigt, daß der Schulterbereich - weiter als beim Menschen - gegen die Hüfte verdreht wird, wobei die Hüfte als Drehlager für die Rotation des ganzen Körpers dient. Deshalb kommt es einem vor, als wuchte der Gorilla die Hüfte bei jedem Schritt über das Bein.

Interessante Entdeckungen machte die Humanbiologin bei der Analyse der Daten zu den Armbewegungen beim Gehen. Um eine ruhige Haltung zu bewahren, schwingen Menschen - diagonal zur Fußfolge - ihre Arme abwechselnd vor und zurück. Geht dagegen ein Gorilla biped, schwingt er zwar auch die Arme, aber parallel zum Schwungbein. Deshalb erinnert uns der aufrechte Gang des Gorillas wohl an einen um Balance bemühten Seiltänzer.

Erstaunlich jedoch ist: Geht ein Menschenaffe auf allen Vieren, setzt er seine Arme wie ein gehender Mensch diagonal zu den Füßen. Die Ergebnisse der Tier-Mensch-Vergleiche sind für Angelika Hofstetter ein Fingerzeig, daß die vormenschlichen Lebewesen Charakteristika der Fortbewegung auf allen Vieren beibehielten, als sie sich aufrichteten.

Anne Ariane Schneider


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