Brief aus London


Grafik1 Blick über die Themse auf die Houses of Parliament

Die Wochen sind gezählt: Noch bis Juni studiere ich innerhalb des Erasmus-Studentenaustauschprogramms der FU an der 1916 gegründeten, zur University of London gehörigen School of Oriental and African Studies (SOAS), die im Zenrum Londons liegt, nur wenige Schritte vom British Museum entfernt. Die weltweit als ein geistes- und sprachwissenschaftliches Zentrum der Asien- und Afrikaforschung anerkannte SOAS (immatrikuliert waren hier etwa bekannte Persönlichkeiten der Politik wie die burmesische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi; der berühmte chinesische Schriftsteller und Dichter Lao She unterrichtete hier in den 20er Jahren Chinesisch) bietet mit ihren vielfältigen Lehrveranstaltungen sowie ihrer in Europa einmalig vorhandenen Literaturbestände optimale Studienmöglichkeiten.


Von Martin Schwedes/ z. Zt. in London


Den etwa 3.000 Studierenden an der SOAS stehen über 200 Lehrkräfte zur Verfügung. Viele Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes mit offener Tür. Studenten haben somit die Möglichkeit, intensive Kontakte mit ihren Dozenten aufzubauen. Viele Fachbereiche an der SOAS arbeiten interdisziplinär. So kann ich neben Ethno-Kursen zum Beispiel auch an Kursen über materielle Kultur Chinas und Südostasiens am Department of Art und Archeology, das mit dem SOAS-eigenen Büro von Sotheby's sowie dem Britischen Museum kooperiert, teilnehmen. Die Sinologie läßt sich hier besonders gut mit der Ethnologie kombinieren.

Aufgrund des hervorragenden Rufes der SOAS in der Fachwelt ist sie auch für Gastdozenten attraktiv, und somit finden jede Woche viele zusätzliche, oft praxisrelevante Seminare und Vorträge statt. Der 'career service' (Berufsinformationsdienst) der University of London lädt regelmäßig zu Berufsinformationsveranstaltungen ein. Berichtet etwa ein studierter Theologe von seinem Berufsalltag in verschiedenen Referaten der Britischen Botschaft in Peking, so ist das ein Zeichen für die Studierenden, daß viele Arbeitgeber in Großbritannien die Notwendigkeit erkannt haben, gerade Geisteswissenschaftler verschiedenster Fachbereiche in Berufe einzubeziehen, für die man in Deutschland immer noch bevorzugt auf Juristen oder Wirtschaftswissenschaftler zurückgreift - wie etwa in der Politik.

Das Studium hier ist recht verschult: Aufsätze müssen pünktlich abgegeben werden, ansonsten gibt es zwei Prozent Abzug von der Gesamtnote pro verspäteten Tag. Bei unregelmäßiger Anwesenheit kommt ein Brief des Sekretariats ins Haus der betroffenen Studierenden. Trotz seitenlanger Literaturlisten - kein Wunder bei der Ausstattung der SOAS-Bibliothek mit 850.000 Büchern, 170.000 davon allein mit Bezug zu China, und Zeitschriften aus der ganzen Welt - wird den Studenten nahegelegt, sich kurz zu fassen. Nicht länger als 30 Seiten soll hier z.B. in vielen Fächern die Abschlußarbeit zur Erlangung des Master of Arts (M.A.) sein. Dieser Studiengang dauert -Voraussetzung ist hier der erfolgreiche Abschluß des Studiengangs zur Erlangung des Bachelor of Arts (B.A.), was drei Jahre Studium voraussetzt- noch ein weiteres Jahr.

Auf den M.A.-Studiengang baut der Promotionsstudiengang Ph.D. (Doctor of Philosophy) auf, der in der Regel drei Jahre dauert. Manche Studenten machen aber auch in einem oder mehreren Fächern lediglich einen B.A. Insgesamt sind die Studiengänge in Großbritannien -auch in den Geisteswissenschaften- um einiges kürzer, und viele der Studenten jünger als in Deutschland.

Grafik1
Big Ben

Das Leben in London ist teuer. Ein Einzelzimmer mit Bad im SOAS-eigenen Studentenwohnheim im Zentrum der Stadt kostet umgerechnet fast 800 DM - allerdings mit hauseigenem Internet-Anschluß im Zimmer inklusive. Andere Wohnungen in Innenstadtnähe sind für Studenten nicht zu bezahlen, auch außerhalb sind sie sehr teuer. Manche Studenten teilen sich eine Wohnung. Lebensmittel und andere Dinge des Alltags sind mindestens um ein Drittel teurer als in Deutschland, für die U-Bahn gibt es keine Studentenermäßigung, wohl aber in vielen Theatern, Kinos und sogar in manchen Geschäften. Auf jeden Fall ist es ratsam, sich schon vor der Abreise nach Großbritannien um die Finanzen zu kümmern, denn viele der typischen Studentenjobs werden miserabel entlohnt.

In London trifft sich die Welt. Allein an der SOAS studieren Menschen aus über 80 Nationen. Und so erfahre ich in Gesprächen mit Kommilitonen auch viel über das Bild Deutschlands in verschiedenen Ländern. Den Briten selbst wird leider ein einseitiges und sehr verzerrtes Deutschlandbild durch die zahlreichen Medien im Lande vermittelt. Ständige Anspielungen auf den Nationalsozialismus sind nicht selten - vor allem in den britischen Printmedien, die großen und international bedeutenden Zeitungen nicht ausgenommen. Als beispielsweise im Februar bekannt wurde, daß die Arbeitslosenzahl in Deutschland im Januar 1997 so hoch war wie seit 1933 nicht mehr, brachte die Sunday Times eine Fotomontage, die ein zwischen Häuserbaracken aufgehängtes Schild zeigt, auf dem eine Menschenschlange und das Wort 'Arbeitsamt' zu sehen ist und ein Foto Adolf Hitlers. Die Auflösung für die Leser: Die vielen Arbeitslosen brachten Hitler an die Macht.

Da bleibt nur zu wünschen daß Begegnungen wie die mit Studenten im jeweils anderen Land, dazu beitragen, viele Stereotypen und Vorurteile abzubauen. Man wundert sich auch, daß selbst in den größten und etabliertesten Londoner Buchhandlungen unter der Sektion "German History" zum allergrößten Teil Bücher über die Naziherrschaft, aber so gut wie keine etwa über den ja nun schon acht Jahre andauernden Wiedervereinigungsprozeß zu finden sind. Andererseits jedoch ist die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts ein fester Bestandteil des Unterrichts in den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen der Hochschulen.

Stünde ich erneut vor der Wahl, wo im europäischen Ausland ich studieren sollte, ich würde mich sofort wieder für London und die SOAS entscheiden. London mit seinen zahlreichen Bildungseinrichtungen, den einmaligen Museen, Archiven und Bibliotheken ist für mich die Stadt der Bildung schlechthin.

Grafik4
Martin Schwedes studiert an der FU Sinologie im 6. Semester und Ethnologie im 8. Semester. Im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms studiert er seit September 1996 an der SOAS in London. Im Juni kehrt er nach Berlin zurück


Ihre Meinung: Grafik3

[vorherige [Inhalt]