Brief aus Philadelphia


Grafik1Philadelphia ist bescheiden. Es ist weder so elegant wie Boston, noch so schillernd, aufregend und temporeich wie New York

...schon März! Ich kann kaum glauben, daß ich in ein paar Wochen meine Koffer packen und wieder in Richtung Berlin fliegen werde. In den letzten sieben Monaten ist Philadelphia wirklich eine zweite Heimat für mich geworden. Erinnere ich mich an die ersten Tage hier, muß ich sagen, daß es eher Liebe auf den zweiten Blick war. Bei meinen Erkundungen hatte ich anfangs so gar nicht den Eindruck, in einer Millionenstadt gelandet zu sein und dachte mit etwas Neid an die Teilnehmer unseres Programms, die acht Mon ate in Washington, Boston oder New York verbringen würden.


Von Angela Pietsch/ z. Zt. in Philadelphia


Philadelphia ist bescheiden. Es ist weder so elegant wie Boston, noch so schillernd, aufregend und temporeich wie New York. Großzügig angelegt mit weiten Straßen, großen Grundstücken, vielen Parks und Plätzen entspricht auch das heutige Center City im wese ntlichen noch dem Philadelphia von vor 300 Jahren. Gegründet wurde es 1682 von William Penn, einem englischen Quäker. Er wollte mit der "City of Brotherly Love", was Philadelphia aus dem Griechischen übersetzt bedeutet, eine Zuflucht für Religionsgemeinsch aften wie Amish, Mennoniten und Quäker schaffen, die in Europa zur damaligen Zeit verfolgt wurden.

In Center City befindet sich auch die Thomas Jefferson University, bestehend aus College of Graduate Studies, College of Allied Health Services und Jefferson Medical College (JMC). Das JMC wurde bereits 1824 gegründet und ist heute mit etwa 230 Absolventen pro Jahr das größte private Medical College der USA. Seine Stärke besteht vor allem in der klinischen Ausbildung. Doch spielt die Forschung seit den letzten 10 Jahren eine immer größere Rolle, und die Jeffersonians sind stolz, im U.S. Vergleich konstant w eiter nach vorne zu rücken.

Jefferson Campus ist klein, nicht unbedingt das, was man von großen Universitäten wie Temple oder der University of Pennsylvania kennt und erwartet. Viele der Universitätsgebäude stammen aus der Blütezeit Philadelphias Mitte des 18. Jahrhunderts, so z.B. d as Benjamin Franklin House - früher ein Luxushotel - dessen prunkvolles Marmorfoyer alles andere als ein Krankenhaus vermuten läßt.

Die meisten Studierenden leben in der unmittelbaren Nachbarschaft der Uni. Von hier aus erreicht man innerhalb von Minuten die gutausgestattete fünfstöckige Bibliothek, Labor- und Krankenhausgebäude und - wichtiger Bestandteil des amerikanischen Studentenl ebens - das "Gym", das zum College gehörende Sportzentrum.

Ich selbst habe die ersten vier Monate im Labor von Prof. D.M. Kochhar, Kollege meines Doktorvaters Prof. H.J. Merker, im Department of Anatomy, Pathology and Cell Development verbracht. Schwerpunkt seiner Forschung sind die Retinolde, Vitamin A-Abkömmling e, ihre Rezeptoren und deren Bedeutung für die Embryonalentwicklung. Kochhars Gruppe arbeitet zur Zeit an einem neuen Tiermodell, mit dem sich die molekulare Rolle des Vitamin A besser analysieren läßt als es mit der klassischen Mangeldiät oder den moderne ren Rezeptor-"knockout"-Mäusen möglich ist. Mäuseembryonen werden dabei synthetischen Rezeptorantagonisten exponiert, die speziell für einen Rezeptor oder für alle Rezeptoren entwickelt worden sind. Erlernt habe ich dort die Methode der Whole-mount-in-situ -Hybridisierung, mit der es möglich ist, Expressionsmuster bestimmter Gene dreidimensional nachzuweisen.

Zur Zeit absolviere ich den letzten meiner drei Monate klinische Praktika. Eingestuft bin ich hier als 4th year medical student, also Student im letzten Studienjahr, das etwa zur Hälfte aus Wahlkursen in Blöcken von vier bis sechs Wochen besteht. Wie erwar tet ist die Ausbildung sehr klinisch-praktisch orientiert, das theoretische Wissen eignet man sich im Wesentlichen aus Büchern und kleinen Vorlesungen innerhalb des Fachbereiches an.

Im Moment arbeite ich in der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie scheint mir diejenige zu sein, die am meisten Zeit und Engagement erfordert. Mein Tag beginnt um 6.00 Uhr. Ich sehe nach meinen Patientinnen und sammle alle nötigen Informationen für die anschließende Visite. Nachmittagsvisite ist gegen 16.30 Uhr, so daß ich selten vor 17.00 Uhr die Klinik verlasse. Ein- bis zweimal die Woche bin ich "on call" und muß über Nacht im Krankenhaus bleiben. Die Studierenden sind hier fest in den Stationsabl auf eingebunden und arbeiten eng mit Schwestern und Ärzten zusammen, was für mich neu und erfreulich ist. Ein bißchen neidisch war ich schon darauf, wie souverän die einheimischen Studenten Patienten bei der Visite vorstellten, Notizen in die Patientenkart eien schrieben, Therapiepläne entwickelten oder mit den Ärzten diskutierten. Besonders interessant und spannend fand ich, Themen, die sich an jeweils aktuellen Fällen orientierten, in der Bibliothek zu recherchieren und dann meine neu gewonnenen Erkenntnis se nach der Visite vor dem Team zu referieren. Hat man das System erst verstanden, macht es viel Spaß, da es unheimlich motivierend ist, so patientennah zu studieren.

Grafik2Jefferson Campus ist klein, nicht unbedingt das, was man von großen Universitäten wie Temple oder der University of Pennsylvania kennt

Von der Universität angeregt gibt es außerdem Programme, die speziell die vorklinischen Studenten an die Praxis heranführen sollen und sich großer Beliebtheit erfreuen: Da gibt es JeffMOM, das Erstsemestern die Möglichkeit gibt, den Werdegang einer Schwang erschaft vom ersten Arzttermin über alle notwendigen Tests bis zur Geburt mitzuerleben und zu betreuen. Oder JeffHOPE, ein Programm, bei dem Studenten und Ärzte einmal pro Woche zu einem Obdachlosenheim fahren und vor Ort medizinische Hilfe leisten. Jeweil s ein Student des vorklinischen und des klinischen Semesters erheben gemeinsam die Krankengeschichte und untersuchen die Patienten. Mit einem Arzt werden dann, soweit möglich, die erforderlichen Therapien eingeleitet oder Medikamente verabreicht. Das kann man auf der einen Seite als humanitäre Hilfe betrachten, auf der anderen Seite spiegelt JeffHOPE das marode Versorgungssystem der USA wider, wo ein Sich-den-Studenten-zur-Verfügung-stellen unter Umständen die einzige Möglichkeit ist, ärztliche Hilfe zu bek ommen.

Der Studienbetrieb ist also sehr intensiv. Die Studierenden leben vor allem für die Uni und in der Uni. Trotzdem habe ich nie den Eindruck gehabt, daß die Studenten ihr Leben weniger genießen oder sich weniger dafür interessieren, was um sie herum geschieh t, als wir es tun. Das studentische Leben spielt sich hier hauptsächlich in Center City ab, einem Stadtteil, der sich bequem in 20 Minuten von Nord nach Süd und in einer Dreiviertelstunde von West nach Ost zu Fuß durchqueren läßt. Hier gibt es die besten R estaurants und Klubs, Theater, die Academy of Music (Philadelphias Philharmonie), Museen und alle wichtigen großen und kleinen Geschäfte.

Das moderne Leben in "Philly" findet auf geschichtsträchtigem Boden statt. Hier wurde der Grundstein für die Gründung der USA gelegt. Wer durch die historischen Viertel streift, in denen erstaunlich wenig Touristen unterwegs sind, stößt auf die erste Bank, das erste Krankenhaus, die erste Börse der Vereinigten Staaten. Und es taucht immer wieder ein Name auf: Benjamin Franklin, Staatsmann, Wissenschaftler, Geschäftsmann und Namensgeber des FU-Klinikums.

Betrachtet man William Penn als den Architekten Philadelphias, so muß man Benjamin Franklin wohl seinen Erbauer nennen. Der gebürtige Bostoner gründete unter anderem das "Pennsylvania Hospital", das älteste Krankenhaus der USA, in dem auch ich Teile meiner Famulatur absolvierte, die Amerikanische Philosophische Gesellschaft, zu der Persönlichkeiten wie Thomas Jefferson, Marie Curie, Charles Darwin oder auch Albert Einstein gehörten und last but not least die University of Pennsylvania.

Gemeinsam mit Männern wie John Hancock und Thomas Jefferson hat Franklin vor mehr als 200 Jahren in der heutigen Independence Hall den Entwurf für die Unabhängigkeitserklärung debattiert, der am 4. Juli 1776 angenommen und einen Monat später unterzeichnet wurde. Independence Hall wurde 1748 als Pennsylvania State House gebaut und war zunächst Sitz der Regierung Pennsylvanias. Hier wurde später dann die amerikanische Verfassung verabschiedet und der Entwurf für die amerikanische Flagge angenommen. Congress H all, die sich gleich daneben befindet, diente als Regierungssitz während der Jahre 1790 bis 1801, in denen Philadelphia Hauptstadt der Vereinigten Staaten war. Hier wurde z.B. die "Bill of Rights" verabschiedet.

Philadelphia ist, wie wohl alle amerikanischen Großstädte, auch ein Ort der Kontraste. Jenseits der Grenzen von Center City ändert sich das Stadtbild schlagartig und ist geprägt von Vierteln, die von Armut, Obdachlosigkeit und Kriminalität gezeichnet sind. Nirgends in Amerika habe ich so viele Obdachlose gesehen wie hier. Immer wieder hört und liest man von Überfällen und Morden, und auch Center City ist nach Einbruch der Dunkelheit nicht unbedingt sicher. So richtig klar wurde mir das allerdings erst, nach dem meine Mitbewohnerin beraubt worden war und ich gesehen hatte, wie sich Studentinnen nachts von Sicherheitsbeamten nach Hause bringen liessen.

Trotz dieser Nachteile des "American way of life" werde ich viel davon vermissen, vor allem die kleinen Dinge: meinen Pappbecher Hazelnut Coffee auf dem Weg zum Krankenhaus, das unkomplizierte Umgehen miteinander oder den rund um die Uhr geöffneten Superma rkt - Dinge, die das Leben hier so anders machen. Am liebsten würde ich einfach einen Koffer aus Berlin hier lassen...

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Angela Pietsch studiert im 10. Semester Humanmedizin am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der FU. Sie ist Teilnehmerin des Biomedical Sciences Exchange Program 1996/97 der Thomas Jefferson University am Jefferson Medical College in Philadelphia.


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