Brief aus Shanghai


Man benötigt nicht viel Phantasie und Einblick in das Denken der chinesischen Welt, um den gegenwärtigen Zeitgeist der 14 Millionen-Stadt Shanghai zu spüren. Steigt der Besucher nach seiner Ankunft am Flughafen Hongqiao in eines der 50.000 Taxis vom Typ "Santana", kommt er zunächst in den Genuß der jüngsten Errungenschaften dieser Stadt.

Der Weg führt in jedem Fall über die seit 1996 z.T. auf drei Etagen durch die Stadt sich ziehende Hochautobahn, vorbei am neuen Messezentrum, einigen Hochhäusern, dem soeben fertiggestellten Sportstadion mit seinen 80.000 Sitzplätzen sowie den -oftmals leerstehenden- Luxusvillen für ausländische Gäste, Facharbeiter und neureiche Chinesen. Auf der zweiten Ebene fährt man weiter in Richtung Innenstadt. Die Trennung zwischen Alt und Neu ist deutlich zu sehen, zwischen dem, was für den Abriß vorgesehen ist und dem, was energisch dem Himmel entgegenwächst. Schließlich ist der Sockel einer der längsten Hängebrücken der Welt erreicht, und es geht nun auf der unteren Ebene in die Stadt, genauer gesagt, in die ehemalige französische Konzession Shanghais. Plötzlich steht man im Stau, und der bisher von all dem Gesehenen verzückt schwärmende Taxifahrer reduziert nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die Probleme Shanghais auf eine markige Formel, wie ich sie später von vielen Shanghaiern höre: "Zu viele Menschen" (ren tai duo) und "Der Straßenverkehr funktioniert nicht." (jiatong bu xing). Dennoch, so gibt er mir zu verstehen, seien die Shanghaier optimistisch und wollten heute nicht mehr unbedingt ins Ausland. Die Stadt selbst biete ausreichend Gelegenheit, um reich zu werden und ein angenehmes Leben zu führen. Dabei betont er die Weitsichtigkeit Deng Xiaopings, der 1992 den Startschuß für diese Entwicklung gab, die heute unter der Regie von Jiang Zemin, dem Regierungschef und ehemaligen Bürgermeister der Stadt Shanghai, entschieden vorangetrieben wird. Kaum verwunderlich also, daß die Shanghaier die Wahlen zum 15. Parteitag im Oktober dieses Jahres mit Spannung verfolgten.


Von Andreas Steen/ z. zt. in Shanghai


Da diese ehemals als "Paris des Ostens" bekannte Stadt derzeit auf ca. 20.000 großen und kleinen Baustellen in eine Art "Manhattan des Ostens" umgestaltet werden soll, ist es nur konsequent, daß eine jede chinesische "Arbeitseinheit" an diesem Aufschwung t eilzuhaben versucht und Geldquellen unterschiedlichster Art und Währung herzlich willkommen sind. Und tatsächlich gibt es kaum einen Ort ohne die entsprechende Kulisse des Baulärms, der hier so normal ist, daß er irgendwann kaum noch auffällt. So auch im M usikkonservatorium, wo dem neuen, mehr als 15 Stockwerke umfassenden Hauptgebäude zur Zeit der letzte Schliff gegeben wird. Der (noch) schneeweiße Riese wächst direkt hinter dem alten Verwaltungsgebäude, dem ehemaligen "Jewish Club", der ebenso wie viele a ndere Gebäude aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit dem Schild "Municipal Preserved Building" versehen wurde. Das Gebäude wird also erhalten bleiben, aber sein Überleben verkommt zu einem optischen Witz, wenn die noch abzureißenden Gebäude aus den 50er Jahren der modernen und mit Hongkonger Geldern finanzierten Konzerthalle gewichen sind, die unmittelbar daneben entstehen soll. Gespannt darauf, was sich innerhalb der letzten fünf Jahre noch verändert haben mag, fahre ich zunächst zum 7-stöckigen Kau fhaus Nr. 1 in die berühmte Nanjing Road. Das Fahrrad Marke "Phoenix" kostet dort nach wie vor 410 Yuan (ca. DM 100,-), nur mit dem kleinen Unterschied, daß ich diesmal einen "Bibiji", das Äquivalent zum Europieper gratis dazubekomme. Dieses Kommunikations medium, das in diesem Fall sogar täglich die Tagestemperatur und die aktuellen Börsenkurse anzeigt, scheint zur Grundausstattung eines jeden Shanghaiers zu gehören. So zögere auch ich nicht lange, zahle lediglich die Jahresgebühr von 360,- Yuan und finde m ich plötzlich mit Fahrrad und Pieper ausgestattet im Gewühle der Nanjing Road wieder. Stolz rufe ich einen alten Shanghaier Freund an und berichte von meinem Kauf. Wie selbstverständlich notiert er sich die Nummer und sagt, er müsse erst noch ein paar Kund en seiner Werbeagentur treffen, würde mich dann aber abends "anpiepen", so daß wir uns irgendwo verabreden könnten. In einem kleinen Restaurant sprechen wir später über die Veränderungen der letzten Jahre und auch er hebt hervor, daß dem Geldverdienen in S hanghai höchste Priorität eingeräumt wird und die Möglichkeiten hervorragend seien - auch für Chinesen. Wie die unterschiedlichsten Lebenswelten hier miteinander harmonieren, illustriert er am Beispiel seiner Eltern, die bereits Rente beziehen: Der Vater, ehemals Kader eines staatlichen Betriebs, gibt sich jetzt voll und ganz dem Studium von Buddhismus, Qigong und Taiqi hin, während seine Mutter, die früher Grundschullehrerin war, heute an der Börse spekuliert und mit Vergnügen die Aktienkurse verfolgt. Ähn liche Geschichten werden mir noch oft erzählt, ob von Taxifahrern, die sich zu zweit ein Auto teilen, von engagierten Hochschulabsolventen, Professoren oder chinesischen Geschäftsleuten. Zweifellos symbolisieren die gewaltigen Bauprojekte in der neuen Wirt schaftszone Pudong die Entwicklung ebenso beeindruckend wie das neue Rathaus, das Shanghaier Geschichtsmuseum (neben dem in Kürze die pompöse "Philharmonie" fertiggestellt wird) oder die neue servicefreundliche und wohlgeordnete "Shanghai Library". Die bes tändig zunehmende Arbeitslosigkeit können diese Projekte jedoch nicht aufhalten.

Von all diesem geschäftigen Treiben ist auf dem Universitätscampus wenig zu spüren. Noch immer dürfen sich die Studenten der mehr als 50 Fachhochschulen und Universitäten Shanghais offiziell kein Geld dazuverdienen, d.h. die Eltern kommen für Studiengebühr en wie auch Unterhalt auf, und der Student holt sich sein Mittagessen entweder in der Mensa oder - sollte er sich das nicht leisten können - eine Styroporschachtel mit etwas Reis, Gemüse und Fleisch für umgerechnet ca. DM 1,- an der nächsten Sraßenecke. Di e meisten Studenten sind sehr gewissenhaft, wollen den Geldbeutel ihrer Eltern nicht länger als nötig in Anspruch nehmen und hoffen, nach dem Studium in einer der zahlreichen ausländischen Firmen unterkommen zu können, sofern der Staat keine Verwendung für sie hat. Immer wieder und von allen Seiten wird der Faktor "Geld» als Motor und anzustrebendes Ziel hingestellt . Daher kritisieren meine älteren chinesischen Gesprächspartner nicht zu Unrecht die verschwindende Bedeutung von Moral und Tugend sowie die um sichgreifende Korruption, deren Bekämpfung in ihren Augen eine der zukünftig wichtigsten Aufgaben der Kommunistischen Partei Chinas sein sollte. Ähnliches erfuhr ich von dem Redakteur einer Shanghaier Musikzeitschrift. Noch immer gäbe sich die Jugend hier den musikalischen Idolen aus Taiwan bzw Hongkong hin, lamentierte er, eifere ihnen nach und habe nichts vergleichbar Populäres aus eigener Feder entstehen lassen. In einer pragmatischen (Übergangs-) Situation wie dieser, wo alles der Maxime des Geldverdien ens und dem Erhalt wichtiger Beziehungen unterzuordnen ist, können innovative Gesten in Kunst und Kultur nur mit finanziellem Risiko verbunden und damit von sekundärer Bedeutung sein. Anders gesagt, man muß schon ein echter Idealist sein, um seine kostbare n Jahre auf diesem politisch immer noch heiklen Boden dem Erlernen einer entsprechenden Fähigkeit zu widmen. Dasselbe gilt auch für die Musikstudenten am Konservatorium, von denen die meisten froh sein werden, wenn sie nach Absolvierung des Studiums einer egelmäßige "Mukke" in einem der großen Hotels oder einer Bar bekommen. Aber vielleicht sind all diese Worte auch übertrieben, denn draußen auf dem Campus, vor meinem Fenster und vor der großen Baustelle, übt manchmal ein hoffnungsvoller Student leidenschaf tlich auf seinem Saxophon. Er spielt Melodien von Charlie Parker und manchmal eben auch etwas Eigenes.

Andreas Steen studierte Sinologie und Anglistik an der FU, chinesische Schrift und Sprache sowie Moderne Literatur an der Fudan-Universität in Shanghai. Zur Zeit hält er sich als Forschungsstipendiat des DAAD am Musikkonservatorium in Shanghai auf. Er ist Autor des Buches: Der Lange Marsch des Rock 'n Roll: Pop- und Rockmusik in der VR China, 1996.


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