Neues zu den Anfängen der sowjetischen Chinapolitik

Es war alles ganz anders...


Die seit wenigen Jahren begrenzt zugänglichen Moskauer Archive erweisen sich immer mehr als wahre "Schatztruhen" für die internationale Forschung. Ihre Bestände führten in jüngster Zeit zu aufsehenerregenden Entdeckungen; man denke zum Beispiel an die konkreten Pläne der Moskauer Re gierung zur Durchführung kommunistischer Aufstände 1923 in Deutschland oder an die massive Unterstützung der amerikanischen Kommunisten aus sowjetischen Quellen in den frühen fünfziger Jahren. Nun stellt sich auch die sowjetische Chinapolitik der zwanziger Jahre in einem neuen Licht dar. Dies zeigt ein soeben in deutscher Sprache erschienenes Werk, das erste spektakuläre Ergebnis einer 1992 zwischen dem Moskauer Institut für den Fernen Osten und der FU Berlin abgeschloss enen Kooperationsvereinbarung zur gemeinsamen Erschließung, Übersetzung und Herausgabe von Dokumenten aus Archiven der KPdSU und der Komintern. Die wissenschaftliche Leitung auf russischer Seite liegt bei Professor Dr. Mikhail Titarenko, auf de utscher Seite zeichnen Prof. Dr. Kuo Heng-yü, Prof. Dr. Mechthild Leutner (Ostasiatisches Seminar der FU Berlin) sowie Prof. Dr. Roland Felber (Humboldt-Universität) verantwortlich.

Die FU-Forscher konnten erstmals belegen, daß bereits vor Lenins Tod (hier bei einer Rede in Petersburg 1917) die russische KP-Führung (und nicht die Komintern) Hauptorgan der russischen Chinapolitik war.


Die nun vorliegende Sammlung von 875 Seiten bisher größtenteils unbekannter Quellen aus den Jahren 1920-25 - Ende 1994 war sie unter großem Aufsehen zunächst in russischer Sprache erschienen - zeigt, daß insbesondere das im Wes ten gängige Bild einer gezielt von Moskau gesteuerten chinesischen Revolution der Korrektur bedarf. Besonders anschaulich wird, daß weder auf sowjetischer noch auf chinesischer Seite monolithische Gruppen die treibenden Kräfte waren. Die r ussische Politik gegenüber der nationalrevolutionären Bewegung in China war geprägt von unterschiedlichen Vorstellungen und Rivalitäten sowohl zwischen dem Politbüro, der Komintern und seiner Vertreter in China als auch innerhalb dieser Organisationen. Ausdruck solcher Differenzen war die Gründung einer "Chinakommission" aus Mitgliedern des Politbüros und verschiedenen Chinaexperten im Jahr 1925. Die Existenz dieser Kommission, die schnell zu einem Entscheidung sorgan der russischen Chinapolitik wurde, war bisher kaum bekannt.

Auf chinesischer Seite war die Situation noch vielschichtiger: Das zerrissene Land wurde von verschiedenen lokalen Militärmachthabern beherrscht, die sich gegenseitig bekämpften. Hinzu kam das nationalrevolutionäre Zentrum in Kanton, wo die Kommunisten und die nationalistische Kuomintang einerseits gemeinsame gesamtchinesische Ziele verfolgten, sich andererseits aber mißtrauten und gegenseitig auszunutzen versuchten. Zusätzlich kompliziert wurde die Situation noch dadurch, da&szl ig; sich auch innerhalb dieser Parteien verschiedene Flügel herausbildeten, die wiederum unterschiedliche Strategien verfolgten. Dieses beinahe unübersichtliche Macht- und Interessengeflecht in China war auch für die sowjetische Seite nicht immer leicht zu durchschauen. Der Quellenband bringt zahllose Beispiele für aus heutiger Sicht realitätsferne Analysen russischer Spitzenpolitiker. Auch wird deutlich, daß die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas keineswegs d er hauptsächliche Adressat Moskauer Unterstützung war, sondern die damals noch prosowjetisch geprägte Kuomintang unter Sun Yatsen und Tschiang Kaishek, die ab 1923 zur Vollendung der nationalen Revolution allein auf Rußland setzten. E inige Dokumente zeigen sogar erstmals das konkrete Ausmaß der finanziellen und militärischen Hilfen aus Moskau für die chinesische Befreiungsbewegung.

Der Band widerlegt zudem zahlreiche der gängigen Stereotypen über die damaligen Hauptpersonen auf beiden Seiten. Beispielhaft seien im folgenden Sun Yatsen, Tschiang Kaishek und Trotzki genannt. Der "Bürgerliche" Sun Yatsen bat um den Einzug sowjetischer Truppen in China, um gegen die ausländischen Imperialisten und die örtlichen Warlords vorzugehen: Nach Berichten des russischen Beraters in China, Joffe, aus dem Herbst 1922, schlug Sun Yatsen vor, "daß in sei nem Namen, d.h. unter seinem direkten Befehl, seiner Bitte entsprechend eine der sowjetischen Divisionen die Provinz Xinjiang in Ostturkestan einnehmen sollte". Sun verwies dabei auf den Mineralien-Reichtum der Provinz Xinjiang. Zudem befänden s ich nur 4.000 chinesische Soldaten dort, so daß Widerstand ausgeschlossen sei. Joffe erläutert Sun Yatsens Plan, der unter anderem vorsieht, eine russisch-deutsch-chinesische Gesellschaft für die Ausbeutung der Mineralien zu gründen s owie eine Stahlgießerei und ein Arsenal zu schaffen. Jaffe schreibt: "Sun fügt hinzu, er selbst würde nach Xinjiang reisen, und dort könnte jedes beliebige Regime, sogar ein sowjetisches, errichtet werden. Offensichtlich läu ft sein Plan darauf hinaus, mit der Provinz Xinjiang ein Gebiet für die Organisierung seiner Armee zu haben. Die Fabrik und das Arsenal würden dann viele Materialien liefern."

Der "Antikommunist" Tschiang sah in Rußland die Basis der kommunistischen Weltrevolution, für die er vehement eintrat, und wollte eine Union zwischen Rußland, Deutschland und China zum Kampf gegen den Kapitalismus in der Welt bi lden. Anläßlich seines Besuches in Moskau im November 1923 sagte er: "Wir glauben, daß das Fundament der Weltrevolution in Rußland liegen muß. Was Rußland selbst betrifft, so hat es natürlich viele Feinde, doch in seiner Revolution ist es seit mehreren Jahren siegreich".

Der Führer der Nationalchinesen räumte in seiner Rede jedoch ein, das es an der Westgrenze Rußlands noch Länder unter kapitalistischer Kontrolle gäbe und verweist explizit auf Deutschland und Polen. Er betont die Bedeutung einer Revolution in diesen Ländern: "Wenn die deutsche Revolution nicht erfolgreich sein wird, ist die Westgrenze Rußlands nicht sicher. Wir müssen der Intervention der kapitalistischen Länder an dieser Front widerstehen. Und für die russischen Genossen ist es notwendig, der deutschen Revolution zu helfen, damit sie Erfolg hat."

Im Namen der Kuomindang schlug Tschiang Kaishek ein Bündnis Rußlands, China und Deutschlands vor, das "natürlich" den Erfolg der deutschen Revolution voraussetzte. Ziel dieses Vorschlags war, "den kapitalistischen Einflu&szl ig; in der Welt zu bekämpfen." Weiter führte er aus: "Mit den wissenschaftlichen Kenntnissen des deutschen Volkes, mit dem revolutionären Erfolg Chinas und mit dem revolutionären Geist der russischen Genossen und den Agrarpro dukten dieses Landes könnten wir die Weltrevolution leicht zum Erfolg führen. Wir könnten das kapitalistische System in der ganzen Welt vernichten."

Tschiang Kaishek verlautbarte, daß er und seine Genossen glaubten, daß nach drei bis fünf Jahren der erste Abschnitt der chinesischen Revolution, also die nationalistische Revolution Erfolg haben würde. Danach wollten sie in einem zw eiten Schritt die propagandistische Arbeit unter kommunistischen Losungen durchführen. "Dann wird es dem chinesischen Volk leichter fallen, den Kommunismus zu verwirklichen", vermutete Tschiang. Er brachte sogar die Hoffnung zum Ausdruck, & quot;daß demnächst das befreite China Mitglied der sozialistischen Sowjetrepubliken Rußlands und Deutschlands wird."

Der "Weltrevolutionär" und "Internationalist" Trotzki zeigt sich als national denkender und nüchtern kalkulierender Interessenpolitiker, der auch aus zaristischer Zeit stammende russische Vorrechte in China nicht ohne weitere s abtreten will. So meinte er am 20.1.1923 in einem Brief an Joffe, der vorgeschlagen hatte, China die Eigentumsrechte an der Ostchinesischen Eisenbahn kostenlos zu überlassen: "Mir ist auch jetzt nicht ganz klar, warum der Verzicht auf Imperial ismus den Verzicht auf unsere Eigentumsrechte voraussetzt". Trotzki sah zwar in der Ostchinesischen Eisenbahn ein Instrument des zaristischen Imperialismus, die russisches Staatseigentum auf chinesischem Territorium darstellte. Doch mahnte Trotzki an : "Wenn nun diese Bahn in die Hände Chinas übergeht ist sie ein gewaltiger wirtschaftlicher und kultureller Wert. In diesem Sinne ist es mir absolut unklar, warum der chinesische Bauer die Bahn auf Kosten des russischen Bauern haben soll.&q uot;

Der jetzt in russischer und deutscher Sprache vorliegende Dokumentenband ist ein überzeugendes Beispiel dafür, daß inzwischen eine erfolgreiche und gleichberechtigte Kooperation zwischen deutschen und russischen Wissenschaftlern mögli ch ist. Die Dokumente und der wissenschaftliche Apparat des Buches mit erläuternden Einleitungen, Namensindex und umfangreicher Literaturliste werden die internationale Forschung auf eine neue Quellenbasis stellen und eine "Umschreibung" de r chinesischen Revolutionsgeschichte nötig machen. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu begrüßen, daß der zweite Quellenband zu den wichtigen Jahren 1926 und 1927 bereits in Arbeit ist.



Tim Trampedach


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