Brief aus Toulouse


Place du Capital mit Wochenmarkt

"Was, um Himmels Willen, hast du denn in Toulouse verloren?" Spontan und fast einhellig kam es Pariser Freunden über die Lippen, als ich ihnen im Frühjahr einen kurzen Besuch abstattete. Ich war gerade unterwegs nach Toulouse und legte den in Frankreich obligaten Zwischenstop in Paris ein. In Paris - und nirgendwo sonst - spielt sich das Leben ab. So war es schon zu Zeiten des Sonnenkönigs Ludwig XIV, als nur jene Aristokraten Ansehen genossen, die sich pompös am Versailler Hof zu präsentieren wußten. Alle Versuche, Paris den Platz an der Sonne streitig zu machen, schlugen fehl: Das gelang weder der französischen Revolution, noch einer bewußten Dezentralisierungspolitik in den 70er Jahren. Auch heute noch muß jeder nach Paris, der in Kultur, Kunst , Politik oder Wirtschaft reüssieren will. Kein Wunder, daß dort die Ignoranz und Arroganz der Metropolisten herrscht, jener Kultursnobs, die zu einem Großteil selbst ehemalige Provinzler sind.
In Toulouse, der Hauptstadt der Region Midi-Pyrenées, wundert sich niemand, daß ich ausgerechnet dort an einem biochemischen Forschungsinstitut meine Diplomarbeit anfertigen möchte. Im Gegenteil - den Toulouser zieht es nicht in den Moloch Paris; er weiß sich in einem Eldorado am Fuße der Pyrenäen, in ¥quidistanz zu beiden Meeren: Okzitanien - Heimat eines für Schulfranzösisch-Gebildete kaum verständlichen Akzents, dem Occitain; Heimat der Gänseleberpast ete, der "Foie gras", einer nach alter Manier hergestellten Spezialität, die sich ihren Namen (und für meinen Geschmack nur ihren Namen) mit knapp 30 Mark pro 100 Gramm bezahlen läßt; Heimat delikater Rotweine, wie Cahors, F ronton oder Corbières (mit denen mein Gaumen sich schon viel eher anfreunden kann); Heimat des roten Backsteins, der Toulouse den Namen "Ville rose" gab. Nicht zuletzt war Okzitanien im 12. und 13. Jahrhundert Heimat der Katharer, einer als ketz erisch gebrandmarkten Glaubensgemeinschaft. Wegen ihrer noch heute liberal anmutenden Ansichten wurden die Katharer Opfer der kirchlichen Inquisition. Die Katharer gewährten Frauen den Zugang zum Priesterberuf, kannten keine Strafen außer denen des eigenen Gewissens, verurteilten Ablaß und Absolution und erlaubten vorehelichen Beischlaf. Der Reinkarnationsglaube machte sie zu Vegetariern und dadurch leicht als Ketzer identifizierbar. Wer selbst dem Hungertod nahe kein Fleisch anrührt e, landete auf dem Scheiterhaufen. Dem Herzog von Toulouse, Raymond IV, gelang es nicht, die zahlreichen Anhänger vor dem Zorn von Papst Innozenz III zu schützen. Schließlich mußte er selbst für diese Bemühungen sein Leben lassen.

1996, knapp 800 Jahre später, am selben Ort, suche ich nach den Spuren der Katharer, nach dem freiheitlich-mutigen Geist, der einst über Okzitanien wehte. Ich finde ihn im Antlitz der Stadt, ihrer unprätentiösen Archi tektur, ihren romanischen und gotischen Kirchen, sonntagmorgens in der alten Bäuerin, die ein paar Kilo saftige Tomaten und selbstgemachten Ziegenkäse verkauft, im Quartier Saint Aubin. Auf meiner Spurensuche überquere ich die Garonne, die gemächlich aber zielstrebig unter meinem Fenster vorbei in Richtung Atlantik fließt. Ich bin nicht die einzige, die hingerissen ist vom Charme dieses Flusses. Ganz Toulouse wird nicht müde, seine Garonne zu feiern: Da gibt es das Festival de la Garonne mit Spektakeln aller Art, la Garona (Wettfahrt auf möglichst originellen selbstgebauten Flößen), die Fête de la musique und selbstverständlich werden die Feuerwerke an den Nationalfeiertagen 14. Juli und 15. August eben dort gezündet. Allabendlich ist die Place de la Daurade mit Blick aufs Wasser Treffpunkt für Studenten, Jogger, zeitungslesende Geschäftsleute, Flirter, Drogenhändler und Hunde.
Man kann sich allerdings auch "Chez Marcel" treffen, im einzigen 24-Stunden-Tabakladen in der Altstadt, dessen Besitzer mindestens so bekannt ist wie der Bürgermeister Monsieur Baudis. Marcel verdankt seine Popularität nicht nur se iner Eloquenz beim Aufaddieren von Zahlen, Rausgeld abzählen und Zigarettenmarkenrezitieren, sondern hauptsächlich seiner farbenprächtigen Süßwarenkollektion. All die Weingummifiguren, Lakritzstangen, Toulouser Anispastillen und Veilchenbonbons zwingen auch Nichtraucher zu einem Besuch.
Toulouse ist nach Paris, Lyon und Marseille zwar "nur" viertgrößte Stadt Frankreichs, ist mit 100.000 Studenten jedoch die zweitgrößte Universitätsstadt. Weil die meisten Franzosen luxuriöse Wohnungen im moder nen Einzugsgebiet der Altstadt vorziehen, (in den kleinen verwinkelten Gäßchen gibt es ja nie Parkplätze!), haben unmotorisierte Studenten wie ich, die außerdem gerne auf einen TV-Kabelanschluß verzichten, reichlich Altbauwohnr aum zu erschwinglichen Preisen inmitten des Zentrums zur Verfügung. So kann ich Toulouse, ein verwirrendes Netz kleiner Gassen, zu Fuß erkunden und dabei über wunderschöne Renaissance-Villen und Innenhöfe staunen. Diese sogenannt en "hotels particuliers" verkünden den Reichtum des goldenen 15. Jahrhunderts, des Siecle dâor. Toulouse verdankte seinen damaligen Wirtschaftsboom einer Pflanze, aus der sich blauer Farbstoff gewinnen läßt, dem Färberwaid. Doch bald schon ließ sich mit dem Anbau und Handel von Färberwaid kein Geschäft mehr machen. Mitte des 16. Jahrhundert ersetzte das billigere Indigo aus dem Orient den südeuropäischen Farbstoff und ließ Toulouse zurück fallen in den Status wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit. Soviel zum alten Toulouse.

Im Westen und Südwesten befindet sich das neue Toulouse, in Ramonville, Blagnac und ein paar anderen Vororten. Hier in Technopolis arbeite ich im Institut de Pharmacologie et Biologie Structurale, das dem Centre National de la Reche rche Scientifique (CNRS) angehört. Hier versuche ich täglich, den Mechanismen der DNA-Reparatur und beteiligter modulatorischer Proteine beispielsweise infolge von UV-Bestrahlung Geheimnisse abzuringen. Meinen Kollegen imponiert sehr, daß ich diese für Berliner Verhältnisse läppischen sechs Kilometer mit einem alten klapprigen Second-Hand-Fahrrad zurücklege. Kaum ein Student, kaum ein Diplomand oder Doktorand, der nicht mit einem kleinen Peugeot 205 oder R5 zum Labor f& auml;hrt.
Ramonville gilt als "intellektuellste Stadt" Frankreichs. Ein überdurchschnittlich großer Anteil der Bewohner gehört zur Bildungselite Frankreichs, den sogenannten "Cadres Superieurs". Acht Prozent der Bewohner von Ramonville sind Wissenschaftler, vier Prozent Ingenieure, 16,5 Prozent Studenten, null Prozent Priester, Pater, Pastoren. Warum zogen so viele hervorragend ausgebildete Menschen in dieses 12.000-Seelen-Dorf, das vor zwanzig Jahren gerade einmal 2.000 Ein wohner zählte? Neben den naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universität Paul Sabatier, der Ecole de Medicine und der Ecole de Pharmacie, siedelten sich hier seit Beginn der 70er Jahre infolge der gaullistischen und von Pompidou fortgese tzten Dezentralisierungspolitik, das Centre National des Etudes Spatiales (CNES, seit 1974), einige CNRS sowie die Satellitenhersteller Matra und Alcatel an. Diese machten aus den Jagdgründen des Grafen Raymond IV, aus Raymondville, das europäis che Zentrum für Luft-und Raumfahrt.
Ab und zu sehen die Toulouser an ihrem Himmel den Superguppy. Der Superguppy ist ein Riesenvogel von Flugzeug, mit aufgeblasenem Rumpf, der auf den ersten Blick recht ungelenkig in den Höhen wirkt, aber dennoch fähig ist , bei Bedarf ganze F lügel für das Großraummodell des Airbus A340 aus Filton/England nach Blagnac zu transportieren. Hier sitzt das internationale Konsortium Airbus, dessen Anteile zu je einem Drittel von Aerospatiale und Daimler-Benz-Aerospace gehalten wird. Zwanzig Prozent gehören der British Aerospace und vier Prozent einer spanischen Gesellschaft. Diesen Sommer hieß das Konsortium Li Peng samt Devisen herzlich willkommen, denn China ist potenter Abnehmer der Airbus- und Aerospatiale-produkte. An ders als in Berlin erregte der Besuch in Blagnac kaum Aufsehen.
Der Flugzeug-Boom schuf neue Arbeitsplätze und kurbelte den Wohnungsbau an. So wurden vor allem in Ramonville in den 70ern und 80ern ganze Siedlungen, monotone Aufreihungen von Einfamilienhäusern aus dem Boden gestampft. Man hat dort den Ein druck, in einer verschlafenen Universitätsstadt im Nordwesten der USA zu sein. Einzig die authentischen französischen Bäckereien, in denen krustige Baguettes verkauft werden, lassen mich daran glauben, in Südfrankreich zu sein. Ramonvi lle, die Techno-Stadt, floriert zweifelsohne, denn eine zweite Investitionswelle hat mittlerweile eingesetzt. Die Mikroelektronik- und Informatikbranche hat sich dank der qualifizierten Arbeitskräfte hier niedergelassen. Aus Raymondville wurde Ramonv ille. Wird aus Ramonville schließlich Ramon-valley und dann Silicon-ville?
Nach so viel High-Tech tut es abends gut, mit dem Rad einen Umweg über den Canal du Midi in Kauf zu nehmen, der seit dem 17. Jahrhundert Atlantik und Mittelmeer verbindet. Die endgültige Heimkehr in meine gute alte Ville Rose verzögere ich dann so oft wie möglich, indem ich einen "Sorbet ‰ la Pamplemousse" oder einen "Glace ‰ la creme aux miel et noix" bei Octave schlemme - übrigens dem besten Glacier der Stadt. Octave befindet sich am meisterhaften Place du Capitol. Dort genieße ich die die backsteinroten Barockfassaden des Rathauses und der Arkadenhäuser und denke manchmal an die Borniertheit meiner Pariser Freunde, die mir mehr denn je fehl am Platz erscheint. Ich bin gespannt, wer sich eines besseren belehren läßt.
Heike Rebholz studiert seit 1990 an der FU Biochemie. Seit Anfang März forscht sie am Institut de Pharmacologie et Biologie Structurale in Toulouse. Sie schreibt dort ihre Diplomarbeit Über Proteine, die an der DNA-Reparatur beteiligt sind.

Heike Rebholz


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