Zur Brauchbarkeit der Ausstellung "Kino * Movie * Cinema"

Großer Irrtum - kleine Sehhilfe


Als "kinematographische Illusion" der Wahrnehmung bezeichnete der Philosoph Henri Bergson vor rund hundert Jahren die Vorstellung, Bewegung sei zerlegbar in diskrete Einheiten eines unendlich teilbaren homogenen Raumes. Das Kino: Materialisation dieses Trugs. Sichtbar geworden schien umgekehrt die Evidenz dieser Vorstellung mit der Phasenfotografie Edward Muybridges und deren synthetischer Verkehrung im Film. Daß dieser ein 'realistisches' Bild der Bewegung und damit der Wahrnehmung hervorbringt, das ist bis heute der Mythos des Films: Er rumort in der Filmwissenschaft und gilt so für die Konzeption der Ausstellung.

Stolz, und wie um vor diesem Befund zu warnen, stellen die ältesten Projektoren die Funktionselemente der Illusion mechanisch in Bewegung gesetzter Bilder, Flügelblende und Malteserkreuz, aus. Mit der Entwicklung immer perfekterer Gehäuse scheint aber das Trügerische der 'realistischen' Bewegung auf den technischen Trick reduziert.

Daß das Potential des Kinos jedoch etwas anderes als technischer Trick zur Wahrnehmungssimulation ist, diese Möglichkeit wird sichtbar durch das diskontinuierliche und mitunter daher dialektische Aufbauprinzip der Ausstellung.

Gleich im Anschluß an den, den Rundgang eröffnenden Raum zu den Anfängen des Films, werden großformatige Fotos des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau gezeigt: durch die architektonische Gestalt New YorkÍs und Los Angeles' streng gegliederte Aufnahmen aus den Jahren 1926 bis '29.

Sie wirken nicht aufgrund ihres dokumentarischen Charakters, sondern durch eine räumliche Dynamik, die die Aufnahme erst schafft.

Parallel dazu sind kleine Standfotos aus Murnaus Filmen dieser Zeit gehängt: "Sunrise" USA 1926/27, "City Girl" USA 1929/30, "Der letzte Mann", Deutschland 1924. Aufnahmen, deren motivische Ähnlichkeit mit den späteren Städtefotos um so erhellender ist, als sie den Mythos der Realitätsabbildung durch den Film unterlaufen.

Vielmehr muß es die Idee der Gestaltung des Raumes aus dem Gegensatz von Licht und Schatten in den Filmen gewesen sein, die den Blick auf die amerikanischen Städte vorgeformt hat. Nicht Abbildung der Realität, nicht technische Rekonstruktion der Wahrnehmung, sondern die Möglichkeit, Bewegung ganz neu, als eine nicht auf Wahrnehmung und Konstanz der Kategorien Raum und Zeit zentrierte Modulation miteinander agierender Bilder zu denken, ist das Ästhetische des Kinos; und als Kunst wird es in der Ausstellung in vielen Facetten gefeiert.

Für diese eine Erfahrung kann man einen Moment die Augen schließen vor den filmhistorischen und -geographischen Löchern, die "Kino * Movie * CinÚma" aufreißt; doch beim erneuten Öffnen der Augen sieht man nur noch Details der Liebe zum Film, vom Kino sieht man wenig mehr.

Bernhard Groß

Der Autor studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der FU. Seine Magisterarbeit hat er über die kinotheoretischen Schriften Pier Paolo Pasolinis geschrieben.


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