Wo bleiben die spannenden Fragen des Rechts?

Jura gilt als trocken, das Studium der Rechtswissenschaft eher als Durststrecke denn als geistiges Abenteuer. Organisatorische Fragen bestimmen den studentischen Alltag: Noch eine Übung in diesem Semester, um bald _scheinfrei" zu sein? Ab wann zu welchem Repetitor? Wenn der Freiversuch klappt, kann in acht Semestern alles vorbei sein. Durchatmen.

Nichts gegen den Freiversuch, nichts gegen ein zügiges Studium. Im Gegenteil. Vom ersten Tag des Studiums an muß sich ein überschaubarer Bogen zum Examen spannen. Das zeitliche Ziel ist wichtige Hilfe zur Motivation, reicht aber allein nicht aus. Freude am Fach zu vermitteln, in neuartige Gedanken und Gedankenspiele einzuführen, Ratlosigkeit und Erkenntnis zugleich weiterzugeben, ist Aufgabe der Lehre, und die Jurisprudenz gibt dafür wahrlich eine Menge her. Man vergleiche die Lehre von den Strafzwecken mit den Realitäten des Strafvollzugs, denke darüber nach, ob Gesetze für den Bürger gemacht, aber nur für Fachleute verständlich sind, man entschlüssele die raffinierten Selbststeuerungsmechanismen, die im Recht angelegt sind. Fragen über Fragen: Wie gelingt es den Gerichten heute, aus einem vor über 100 Jahren geschaffenen Gesetz komplizierte Fragen moderner Vertragstypen wie des Finanzierungsleasing und des Factoring zu lösen?

Umgekehrt: Was hat man alles dem gleichen Gesetzestext mit Hilfe schulmäßiger Methodenargumente unter verschiedenen politischen Systemen entnommen! Wenn die juristischen Methoden nicht vor dem Weg ins Unrecht bewahren, welche Kontrollinstanz gibt es dann?

Nicht, daß die akademische Ausbildung an diesen Fragen vorbeiginge. Die Grundlagenfächer Rechtsgeschichte, Rechtstheorie, Rechtssoziologie sind fester Bestandteil des Lehrangebots, und auch die dogmatischen Fächer (Strafrecht, Öffentliches Recht, Bürgerliches Recht) setzen typischerweise bei den allgemeinen Lehren ein. Didaktisch ist problematisch, daß diese Veranstaltungen an den Studienanfang gesetzt sind. Ohne Kenntnisse im geltenden Recht bleibt vieles unverständlich, und so wendet sich das studentische Interesse rasch den Veranstaltungen zu, in denen das nötige Grundwissen für die Scheine erworben werden kann.

Sind alle Übungen geschafft, beginnt die Examensvorbereitung, und die findet weitgehend außerhalb der Universität beim kommerziellen Repetitor statt. Wieder steht Wissensakkumulation und die Erlernung technischer Fähigkeiten im Vordergrund. Wo bleiben die spannenden Fragen des Rechts?

Sie gehören nach meiner Überzeugung nicht in die erste, sondern in eine zweite Phase des Studiums. Die Zeit, die Durchschnittsstudierende beim Repetitor verbringen, könnte und müßte an die Universität zurückgeholt werden zugunsten eines Vertiefungsstudiums, das den komplexen Fragestellungen und der Spezialisierung in einem Wahlfach gewidmet ist. Jede Ausbildungsphase wird mit einer Prüfung abgeschlossen. Der erste Teil des Staatsexamens findet als Klausurexamen nach dem Erwerb der großen Übungsscheine statt. Im Vertiefungsstudium sollte die Anrechnung von Universitätsleistungen auf die Gesamtnote der Staatsprüfung möglich sein. Den Abschluß bildet ein mündliches Examen, das beide Abschnitte umfaßt und verbindet.

Im ersten Teil der Ausbildung ist der Prüfungsstoff gegenüber heute reduziert, im zweiten Teil um das erweitert, was derzeit zu kurz kommt. Die Ausbildung der zweiten Phase kann nur von der Universität geleistet werden. Das Angebot an akademischer Lehre in diesem Bereich zu verstärken und attraktiver zu gestalten, halte ich für sinnvoller als die Konkurrenz mit dem Repetitor zu suchen, um die Studierenden an die Universität zurückzuholen. Schließlich wird durch die Aufteilung des Examens der Prüfungsdruck für die Studierenden verteilt und damit erleichtert.

Detlef Leenen


Detlef Leenen ist Professor für Bürgerliches Recht und Rechtshistorie am Fachbereich Rechtswissenschaft der FU


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