Wissenschaft im Grünen - Dahlem 1930 bis 1960


Um 1930 hatte Dahlems Berühmtheit als Zentrum der Wissenschaften von Weltgeltung ihren Höhepunkt erreicht. Vor allem die Forschungsleistungen aus den Kaiser Wilhelm-Instituten hatten dazu beigetragen. Physikalische Chemie, Materialforschung und an der Spitze die Biochemie (Otto Meyerhof, Otto Warburg, Carl Neuberg) hatten wegweisende Ergebnisse erzielt und den Blick der gesamten wissenschaftlichen Welt auf Dahlem gerichtet. Doch dürfen auch die bemerkenswerten Leistungen der Dahlemer Institute der Friedrich Wilhelms Universität (Pflanzenphysiologie, Pharmazie, Botanik, Astronomisches Rechnen und später auch Höhenstrahlforschung) und der wissenschaftlichen Behörden (Biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Bakteriologische Abteilung des Reichsgesundheitsamtes, Wasser-, Boden- und Lufthygiene, Materialprüfung) nicht vergessen werden.


Die Entlassung jüdischer Wissenschaftler nach 1933 war mehr als nur ein Verlust an hochrangigen Forschern und talentiertem wissenschaftlichen Nachwuchs, es fand zugleich ein Exodus der Wissenschaften statt, und das natürlich nicht nur in Dahlem, sondern im gesamten Deutschland. Die Abkopplung von der internationalen Wissenschaft begann auch in Dahlem mit dem Jahre 1933 und führte im Laufe der Jahre zur totalen Isolierung.

Nach 1933 gab es in Deutschland keine gezielte Forschungs- und Hochschulpolitik; alle damit befaßten Partei-, Reichs- oder Landesdienststellen arbeiteten mit großem Engagement gegeneinander und versuchten ihren nicht selten völlig abstrusen Vorstellungen und Vorlieben zum Durchbruch zu verhelfen. Aber die so zersplitterten und verschwendeten Kräfte ermöglichten gerade auch in Dahlem, trotz aller politisch bedingten Einschränkungen, weiterhin auf hohem wissenschaftlichen Niveau zu arbeiten. Doch in zwei Punkten war der Unterschied zu den früheren Jahren eklatant: moderne, sich gerade herausbildende Disziplinen wie die Biochemie - deren Orientierung auf die molekulare Ebene gerade begonnen hatte und weite Bereiche der theoretischen Physik, aber auch der theoretischen Chemie und damit in Verbindung stehende Forschungsgebiete waren fast völlig verschwunden oder fristeten ein Nischendasein. Zweitens waren die Naturwissenschaften seit Beginn der dreißiger Jahre auf Grund wissenschaftsimmanenter Entwicklungen trotz aller revolutionärer Entdeckungen merklich von einem Konventionalismus geprägt, der - durchaus verständlich und verdienstvoll - das nun erriechte hohe theoretische Niveau experimentell und methodisch, aber auch anwendungsorientiert festigen wollte, sich aber gegen immer neue theoretische Ansätze sperrte.

Sich bedingungslos in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen, war nicht unbedingt erforderlich, um die Arbeit fortzusetzen. Aber es gab genügend wissenschaftliche Mitarbeiter in den Instituten, auch solche in nicht leitenden Stellungen, die ihre Arbeit, ob aus Überzeugung oder als Lippenbekenntnis sei dahingestellt, nationalsozialistisch auszurichten trachteten. Im nachhinein entsteht der Eindruck, daß weniger der direkte politische Druck von außen als das zerstörte Vertrauen untereinander zu ganz enormen Spannungen und Belastungen führte. Sicher war man sich der erlaubten Freiheiten nie, auch dann nicht, wenn das richtige politische Bekenntnis vorlag. Und die Befriedigung persönlichen Ehrgeizes durch besonders zur Schau gestellten politischen Opportunismus bis hin zur offenen Denunziation ist auch für Dahlem festzustellen.

Die den Nationalsozialismus völlig ablehnende Lise Meitner arbeitete bis zum Anschluß Österreichs unbehelligt am Kaiser Wilhelm-Institut für Chemie, erst dann blieb ihr als Jüdin Ende 1938 nur noch die heimliche Flucht, um ihr Leben zu retten. Carl Neuberg, Direktor des Kaiser Wilhelm-Instituts für Biochemie und gleichfalls Jude, selbst im Rahmen der nationalsozialistischen Gesetzgebung erst einmal nicht von Entlassung bedroht, sah sich schon 1934 eben wegen übler Denunziationen zum Rücktritt veranlaßt.

Wissenschaftliche Spitzenleistungen gab es trotz aller Einschränkungen und Repressionen auch weiterhin, ja gerade auch in der so ausgedünnten Biochemie, wo in seinem "Einmanninstitut", dem Kaiser Wilhelm-Institut für Zellforschung, Otto Warburg vorerst relativ ungehindert weiter arbeiten konnte und Adolf Butenandt - Nachfolger Neubergs - mit einigen Mitarbeitern und in Zusammenarbeit mit dem Kaiser Wilhelm-Institut für Biologie neue Wege in der Virusforschung und Molekularbiologie beschritt. Doch im eigenen Lande blieb dies ohne große Resonanz, und bald drang nichts mehr nach außen. Unbemerkt blieben so die ersten großen Erfolge der Elektronenmikroskopie, deren Wegbereiter Ernst Ruska nach dem zweiten Weltkrieg auch in Dahlem wirkte: z.B. die Sichtbarmachung eines Bakteriophagen - ein wichtiges, die Molekularbiologie förderndes Ergebnis, wie die Resonanz der etwas später in den USA gemachten gleichartigen Ergebnisse zeigte. Die Entdeckung der Kernspaltung im Kaiser Wilhelm-Institut für Chemie und die darauf fußenden Versuche zum Bau eines Kernreaktors am Kaiser Wilhelm-Institut für Physik sind der Spitzenforschung zuzurechnen. Dabei scheint es mir gerade nach den neuesten Veröffentlichungen müßig, darüber zu spekulieren, ob die Beteilgten auch den Bau einer Atombombe im Blick hatten oder nicht. Selbst der "nationalsozialistische Musterbetrieb", so Otto Hahn, des Kaiser Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie, dem eine stattliche Zahl überzeugter und aktiver Nationalsozialisten angehörte, blieb in seinen Leistungen weiterhin überdurchschnittlich, wenn auch nichts mehr von dem Geiste der Ära Haber geblieben war. Gerade die Abteilungsleiter dieses Instituts besetzten nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik zahlreiche Ordinariate und waren in ihren Dahlemer Jahren Begründer einer Reihe später erfogreicher Forschungsgebiete.

Bedingt durch die Besoldungsstruktur der Kaiser Wilhelm-Institute war deren personelle Verzahnung mit den Berliner Hochschulen recht eng, damit aber auch die Einbindung in Staatsaufgaben leicht möglich. Standen Biologen und Mediziner generell in der Gefahr, ihre Erkenntnisse dem Naziregime im Übermaß zur Verfügung zu stellen, so konnte dies auch in Dahlem nicht ausbleiben. Vor allem das Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, Eugenik und menschliche Erblehre stellte sich unter seinen Direktoren Eugen Fischer und Otmar v. Verschuer in den Dienst der menschenverachtenden Rassenpolitik des Nationalsozialismus und lieferte Rüstzeug zur Erbgesundheitspolitik des Regimes. Dem KZ-Arzt Mengele, zwar kein Angehöriger des Instituts, wurden letztlich durch die Gutachten v. Verschuers seine Forschungen und damit auch die Menschenversuche ermöglicht. Und daß nach Dahlem menschliche Präparate aus derartigen "Versuchen" an KZ-Häftlingen zur Auswertung gelangten, ist bekannt. Auch Robert Ritters am Dahlemer Bereich des Reichsgesundheitsamtes angesiedelte "Zigeunerforschung" gehört zum unrühmlichen Teil der Geschichte dieses Berliner Ortsteils. Kaum einer dieser Wissenschaftler ist nach dem Kriege strafrechtlich verfolgt worden, keiner von ihnen hat jemals moralische Schuld eingestanden. Und einige der Wissenschaftler hatten das Glück, daß der Zusammenbruch erfolgte, bevor sie geplante Menschenversuche beginnen konnten.



Doch eine differenzierte Beurteilung der gesamten Verkettung mit dem Nationalsozialismus ist bis heute kaum möglich gewesen und wird es wahrscheinlich auch nicht sein; dennoch ist auch zu bemerken, daß selbst in "gut nationalsozialistisch" ausgerichteten Instituten vereinzelt Regimegegner und Kommunisten - diese nach den Juden der zweite Hauptfeind, den es zu bekämpfen galt - bleiben konnten, sich stramme Nazis für die Freiheit der Forschung und für den Verbleib auch solcher Kollegegen einsetzten.

In den Dahlemer Universitätsinstituten gelang es weitgehend, der politischen Einflußnahme zu entgehen, und es spricht für sich, daß Lehrstuhlinhaber nach Kriegsende gebeten wurden, an der Berliner Universität - nun unter kommunistischem Vorzeichen - zu bleiben.

Infolge des Krieges reduzierte sich die Dahlemer Forschung immer mehr, selbst die "kriegswichtige" Forschung - das unverzichtbare Mittel zur Aufrechterhaltung des Wissenschaftsbetriebes und, gleichermaßen wichtig, zur "Uk-Stellung" möglichst vieler Nachwuchsforscher - verlor stetig an Umfang.

Nachdem sich die Angriffe im Berliner Raum verstärkten, begann die Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, alle Institute schrittweise zu verlagern, überwiegend nach Südwestdeutschland, nur dafür ungeeignete Restabteilungen blieben zurück.

Wenn sich auch die Kriegszerstörungen bei den Institutsgebäuden in Grenzen hielten, schien nach der Kapitulation die Fortsetzung der Institute kaum denkbar, zumal die sowjetische Besatzungsmacht innerhalb weniger Wochen bis zum Einzug der Amerikaner alles gründlich demontierte und die Amerikaner die meisten Dahlemer Institutsgebäude erst einmal enteigneten.

Einige der in Berlin verbliebenen ehemals in Dahlem wirkenden Wissenschaftler gingen nicht ganz unfreiwillig in die Sowjetunion, einige auch in die USA, die meisten jüngeren verhielten sich abwartend. Alle Blicke richteten sich auf das Kaiser Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie, das zum Sammelpunkt ehemaliger Angehöriger der anderen Kaiser Wilhelm-Institute und ihrer Restabteilungen wurde. Sein Überleben - zugleich der Wiederbeginnn Dahlemer Wissenschaft - war ein Politikum, wie die weitere Entwicklung in Dahlem dann auch. Denn auf die Verlagerung der Hauptverwaltung der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft von Berlin nach Göttingen reagierte nämlich die sowjetische Besatzungsmacht so, daß sie den Leiter des Instituts, P.A. Thiessen, zusätzlich zum Direktor der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft mit Sitz in Dahlem ernannte. Wenig später erhielt Robert Havemann diesen Posten. Wenn auch die Göttinger KWG-Verwaltung diese Berliner KWG nicht akzeptierte, gab es de facto kurzzeitig zwei Kaiser Wilhelm-Gesellschaften. Politisch opportun war damit auch, wenigstens Forschung auf Sparflamme zu ermöglichen, und wie vor dem Kriege blieb es auch nicht aus, enge personelle Verflechtungen mit der Universität und der Akademie - beide im sowjetischen Sektor - herzustellen.

Die Etablierung der vier Sektoren, die sich ja einige Zeit hinzog, schuf Existenzprobleme für das Institut, das im Westen ziemlich isoliert und mit unklarer Funktion dastand. Noch erheblich ungünstiger sah die Situation übrigens für die Reichs- und Staatsanstalten aus; gleich ob Biologische Reichsanstalt oder Reichsgesundheitamt, ob Materialprüfungsamt, Geheimes Staatsarchiv oder Museum, die einstigen Träger gab es nicht mehr. Der beginnende Kalte Krieg verschärfte die Lage. die Spaltung Berlins schuf zusätzliche Probleme. Auch die wissenschaftspolitische Abstinenz der englischen und der französischen Besatzungsmacht war dem Wiederaufleben wissenschaftlichen Lebens nicht gerade förderlich. Allein die amerikanische Haltung, den traditionsreichen wissenschaftlichen Einrichtungen im Ostsektor ein westliches Pendant entgegenzustellen, darin von der Mehrheit der Politiker des Westteils auch bestärkt, machte den Wiederaufbau Dahlemer Wissenschaft möglich. Letztlich hat die Weitsicht Friedrich Althoffs in den ersten Jahren des Jahrhunderts die Grundlagen für den Ausbau Dahlems nach dem zweiten Weltkrieg über den einstigen Stand hinaus geschaffen. Der Neubeginn in Dahlem erfolgte aber weniger der Tradition wegen als aus Gründen der räumlichen Gegebenheiten. Die Deutsche Forschungshochschule - eine 1948 ins Leben gerufene Länderstiftung - und die Forschungsgruppe Dahlem fingen die letztlich herrenlosen ehemaligen Kaiser Wilhelm-Institute auf, bis erstere 1953 in der Max-Planck-Gesellschaft, die die Nachfolge der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft angetreten hatte, aufging und das zentrale und größte der Institute als Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft an die alte wissenschaftliche Tradition der physikalischen Chemie anknüpfte.

Mit wesentlicher Hilfe der Amerikaner erfolgte 1948 die politisch - antikommunistisch und antitotalitär - motivierte Gründung der Freien Universität Berlin, die viele Gegner in beiden deutschen Staaten hatte. Der ausdrückliche Antikommunismus der Gründungs- und ersten Konsolidierungsphase, sowie die anfangs nicht allzu ausgeprägte Neigung von Hochschullehrern, einen Ruf an diese Universität anzunehmen, hatte die nicht immer glückliche Besetzung einiger Lehrstühle zur Folge: Thema späterer Verurteilung der Personalpolitik dieser Epoche. Dennoch zeigte sich schnell, daß die Freie Universität lebensfähig war und neben der Technischen Universität im Westteil der Stadt unbedingt gebraucht wurde. Die jahrelang mit unzulänglichen Mitteln betriebene, aber keineswegs erfolglose Lehre und Forschung bleiben bei aller berechtigten Kritik an der Aufbauphase bewundernswert.

Mit der Überführung Dahlemer Einrichtungen in Bundesanstalten in den fünfziger Jahren, der Umsetzung der Empfehlungen des Wissenschaftsrats zum Ausbau der Hochschulen und der Gründung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz begann die Konsolidierung und Modernisierung der Dahlemer Wissenschaft.)

Michael Engel


Dr. rer. nat. Michael Engel ist Oberbibliotheksrat an der Universitätsbibliothek und seit 1973 Lehrbeauftragter für Geschichte der Chemie


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