Islamische Fundamentalisten als politische Protestbewegungen

Frömmigkeit, Ideologie, Politik


Stereotypen und Klischees prägen hierzulande oft Medienbilder "des" Islam und der Welt der Muslime - so als wären Länder wie Algerien, Iran und Usbekistan nicht noch weit unterschiedlicher als in Europa Deutschland, Spanien und Albanien. Besonders der Begriff "Fundamentalismus" hat sich in dieser Wahrnehmung von seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang so abgelöst, daß er manchem wie ein Synonym für Islam erscheint.


Wissen wollen, was Gottes Wille ist


Viele Wissenschaftler sprechen deswegen nur von "Islamismus" oder "Integrismus", wenn sie sich mit dem politischen Islam auseinandersetzen. Es gibt jedoch gute Gründe, mit dem Begriff selbst zu arbeiten - nicht nur, weil "Fundamentalisten" sich zu nehmend selbst so nennen.

Diese Fundamentalisten, usuliyun, orientieren sich an den usul, den "Wurzeln" bzw. dem "Grundstock" ihrer Religion - nicht anders als Anfang des Jahrhunderts in den USA jene Evangelikalen, die den Begriff prägten, als sie durch Industrialisierung, Urbanisierung und Migration Sozialordnung und Wertvorstellungen bedroht sahen und deswegen aus ihrem Bibelverständnis fundamentals, unaufgebbare Prinzipien, ableiteten.

Die Orientierung an den usul al-din, den Grundlagen der Religion, ist in muslimischen Traditionen tief verwurzelt. Der Wunsch der Gläubigen, in jeder konkreten Situation und insbesondere im Konfliktfall möglichst genau zu wissen, was denn wo hl Gottes Wille ist, führte Generationen von Gelehrten zu dem Versuch, mit immer neuen Interpretationen des Offenbarungstextes und mit immer neuen Beispielen vom Verhalten der Menschen in der Urgemeinde deren Ordnung als Modell für richtiges Ver halten zu (re-)konstruieren. Vereinfachend kann sogar gesagt werden, daß letztlich aus diesem Versuch die großartige Vielfalt islamischer Rechtsschulen, mystischer Bewegungen und selbst häretischer Abspaltungen entsprungen ist.

Muslime, die in dieser Tradition stehen, sind damit aber keineswegs gleich Fundamentalisten. Denn für diese ist die communitas perfecta gerade nicht mehr die Summe dessen, was Menschen zu verschiedenen Zeiten als gottgewollt erfahren und immer neu interpretiert haben. Vielmehr überspringen sie die Tradition - ja, verurteilen zum Teil die 1400 Jahre seit der Offenbarung als Irrweg - und lassen nur noch Koran und sunna, die Praxis der Urgemeinde, gelten.

Solche Fundamentalisten wollen also keineswegs "zurück ins (finstere) Mittelalter". Ihr Modell ist eine - zwar in der Offenbarung vorgezeichnete, aber erst noch zu realisierende - "ewige" Ordnung unter der "Herrschaft Gottes".

Wie diese auszusehen hat, ergibt sich aus ihrem Verständnis von Koran und sunna. An ihrer subjektiven Frömmigkeit soll hier nicht gezweifelt werden, doch was sie mit ihren a-historischen, selektiven Interpretationen betreiben, ist Ideologisie rung - und in der Praxis zugleich Politisierung - von Religion.

Schon ihre vielzitierten Behauptungen, der Islam sei "Religion und Staat" (din wa-daula) und böte ein umfassendes, alle Fragen regelndes System (nizam), erweisen sich bei näherer Untersuchung als moderne Ideologeme, deren Schlüsselbegrif fe daula und nizam weder im Koran noch in der frühen Tradition auftauchen.

Die vielfältigen fundamentalistischen Bewegungen sind also ideologisch motivierte politische Bewegungen, mit denen Menschen auf für sie unerträgliche Konsequenzen rapiden sozialen Wandels reagieren. Das haben sie gemeinsam mit den protes tantischen Fundamentalisten. Das haben sie aber auch gemeinsam mit den ideologischen Massenbewegungen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, mit denen sie zugleich die Vielfalt der Formen teilen, in denen einzelne Gruppen das gemeinsame Ziel verstehen u nd die Wege dorthin interpretieren. Gemeinsam haben sie zudem, daß die Bewegungen umso radikaler - bzw. im angestrebten politischen System totalitärer - werden, je verbohrter ihre Führer mit ihrer als sicher gewußten Wahrheit umgehen .

Wo immer muslimische Fundamentalisten in halbwegs offenen Wahlen antreten konnten, haben sie kaum 20 Prozent der Stimmen bekommen - selbst in Algerien nicht, wo sie nur aufgrund des Wahlsystems gewonnen hätten. Wo sie mit Repression von der Partiz ipation ausgeschlossen werden, wächst zugleich die Gewaltbereitschaft. Doch daraus läßt sich weder rückschließen, daß alle Muslime Fundamentalisten, noch daß alle Fundamentalisten Terroristen sind: Die Terroristen si nd so repräsentativ für die Vielfalt der Bewegungen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) für das breite Spektrum der Linken im deutschen Herbst der 70er Jahre. Und nicht weniger ablehnend Terroristen gegenüber verhält sich wie damals bei uns die große Mehrheit der Menschen in den muslimisch geprägten Ländern. Und nicht weniger ambivalent verhält sich zugleich ein fluktuierendes Feld von Sympathisanten.

Friedemann Büttner


Friedemann Büttner ist Professor an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients (FB Politische Wissenschaft). Er untersucht Konflikte im Spannungsfeld von Politik und Religion.


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