Schmuggel oder Sozialpolitik

Strukturanpassung und Schwarzimporte in Tunesien


Die zusammengenagelten Baracken auf dem staubigen, langgestreckten Gelände am Hafen von Sfax, zweitgrößte Stadt Tunesiens, stehen dicht gedrängt. Die Menschen schieben sich durch die engen Marktgassen und betrachten das bunte Warenangebot prüfend.

Der 21jährige Karim steht hinter seinem "Stand", einem umgedrehten Pappkarton, in einer der Marktgassen und verkauft Krimskrams: billiges Plastikspielzeug, Schlüsselanhänger, Sonnenbrillen, Süßigkeiten und jede Menge anderer Kleinigkeiten. Mit seinem Warenbestand im Wert von umgerechnet etwa 250 DM ist er einer der kleinsten Händler auf dem Markt. Da Karim sich die Anmietung einer verschließbaren Baracke nicht leisten kann, trägt er sein "Betriebskapital" jeden Abend in einer großen Reisetasche nach Hause. Ihm bleiben pro Monat immerhin um die 170 DM seines Umsatzes als Gewinn, das entspricht zwei Dritteln des gesetzlichen Mindestlohns in der Industrie. Damit verdient er immer noch besser als in seinem vorigen Job als Matrose. Als die Fischerei in die Krise geriet und er arbeitslos wurde, war der sogenannte "Libysche Markt" ohnehin der einzige Ausweg, der ihm ohne Ausbildung und ohne Vermögen offenstand.

Viele der anderen Händler, die mit einem Startkapital von mehreren hundert Dinar einsteigen konnten, haben inzwischen Warenbestände im Wert bis zu 10.000 Dinar (umgerechnet etwa 17.000 DM) akkumuliert und verdienen in Monaten mit mittlerem Umsatz teilweise knapp 1000 DM; damit erzielen viele der Händler ein Einkommen weit über dem durchschnittlichen Tariflohn, der in Tunesien für 1992 bei umgerechnet etwa 450 DM lag.


Discounter in Wellblechbaracken: In Tunesien blüht der Schwarzhandel, seit breite Bevökerungsschichten zunehmend verarmen. Der Staat toleriert stillschweigend die Schattenwirtschaft, um sozialen Spannungen vorzubeugen.


Diese "Libyschen Märkte", auf denen vorwiegend Schwarzimporte verkauft werden, entstanden Ende der achtziger Jahre vor allem im strukturschwachen Süden Tunesiens. FU-Student Stefan Bantle untersuchte sie im Rahmen seiner Diplomarbeit am Lehrstuhl Prof. Weiss (Fachbereich Wirtschaftswissenschaften), wobei ihm ein dreimonatiger Feldforschungsaufenthalt im Frühjahr 1994 interessante Einblicke in ihr Funktionieren und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung ermöglichte.

Die Waren stammen aus China oder den fernöstlichen Tigerstaaten, aus Europa, der Türkei oder dem Nahen Osten; nur ein kleiner Teil des Warensortiments ist tatsächlich libyscher Herkunft. Sie werden auf dem Landweg über Libyen oder per Flugzeug aus Dubai, Istanbul und anderen zentralen Einkaufsplätzen importiert. Privatimporte zur Einkommensaufbesserung haben in Tunesien eine lange Tradition: Gastarbeiter oder Urlaubsreisende nutzen Preisgefälle und Überbewertung der heimischen Währung, um mitgebrachte Waren, als "Geschenk" oder "Eigenbedarf" deklariert, zollbegünstigt und an Einfuhrbeschränkungen vorbei zu importieren und dann gewinnbringend zu verkaufen. Die erneute Öffnung der libysch-tunesischen Grenze im Jahre 1986 löste einen Boom aus, in dessen Verlauf sich dieser Handel professionalisierte, so daß er heute bis zu 20.000 Kleinhändlern Arbeit und Brot bietet.

Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich hierbei um sogenannte "informelle" Kleinimporte - informell deshalb, weil sie durch unregistrierte Händler unter Umgehung von gesetzlichen Bestimmungen, und damit an staatlicher Erfassung und Reglementierung vorbei, geschehen. Doch diese Schattenhändler werden in Tunesien von den Grenzorganen und der Polizei nicht an ihrem Geschäft gehindert. Im Gegenteil: sie zahlen an der Grenze Zoll für ihre Waren und sie entrichten Marktgebühren oder eine monatliche Standmiete an die zuständige Gemeinde. Umsatz- und Gewinnsteuer führen sie allerdings nicht ab, und sie besitzen weder Handelslizenz noch Steuerkarte.

Die tunesische Regierung toleriert diese Aktivitäten, weil sie ihr helfen, die sozialen Kosten des seit 1986 unter Mitwirkung von Weltwährungsfonds und Weltbank durchgeführten Strukturanpassungsprogramms abzufedern. Denn diese spontan entstandenen Arbeitsplätze sind angesichts einer hohen Jugendarbeitslosigkeit nicht nur immens wichtig zur Wahrung der innenpolitischen Stabilität. Das preisgünstige Angebot von Konsumartikeln half auch, die Kaufkraftverluste breiter Bevölkerungsschichten erträglich zu halten. Allerdings wird seit Anfang der neunziger Jahre zunehmend Kritik seitens des Unternehmerverbandes laut. Der fortschreitende Abbau von Zollschranken und die verschärfte Konkurrenz auf dem heimischen Markt ließ die Wirtschaft unter Druck geraten. Im Schnittpunkt der Interessen zwischen Schutz der organisierten Wirtschaft und sozialpolitischen Erfordernissen entschied sich die Regierung Ben Ali für eine Politik der Kanalisierung des Schattenhandels: Marktareale außerhalb der Ortszentren wurden ausgewiesen, die Anwendung der gemeindlichen Gebührenordnungen angepaßt und verschärft sowie der Zoll zu strikteren Kontrollen angehalten.

Der Zoll ist jedoch an einer wirksamen Bekämpfung der kommerziellen Schwarzimporte nicht interessiert, da er von Schmiergeldzahlungen profitiert; um aber die Fiktion einer nicht-kommerziellen Importaktivität aufrechtzuerhalten, zwingen die Kontrolleure die Händler zu einer "Strategie der kleinen Mengen": Von jeder Ware werden nur wenige Stück geduldet und insgesamt pro Grenzübertritt im allgemeinen nicht mehr als ein Kofferraum voll. Diese Praxis erzeugt jenen erstaunlichen Angebotsmix, bei dem ein und derselbe Händler chinesische Glasaschenbecher neben europäischem Nescafe und fernöstlichen Autoreifen feilbietet.

Der tunesische Einzelhandel bestand bis Anfang der neunziger Jahre aus zwei getrennten Verkaufsnetzen: der "traditionelle" Handel mit kleinen Ladengeschäften einerseits und daneben "moderneii Einzelhandelsgeschäfte in den nachkolonialen Innenstädten plus staatlich kontrollierte Supermärkte in den größeren Zentren. Allgemeine Preisbindungen, Importrestriktionen und weitgehende Marktregulierung verhinderten bis in jüngste Zeit Flexibilität und Wettbewerb. Gleichzeitig durchläuft die tunesische Gesellschaft seit Ende der siebziger Jahre einen schrittweisen Wandel hin zur Konsumgesellschaft.

Industrielle Massengüter werden auch von der ländlichen Bevölkerung und den ärmeren Schichten zunehmend nachgefragt.

Die "Libyschen Märkte" konnten in der sich bietenden Lücke groß werden. Ihr Vertriebssystem mit Wochenmärkten auf dem Lande und ständigen Marktgeländen in den größeren Ortschaften ist kundennah und flexibel, ihr Angebot deckt das vom etablierten Handel vernachlässigte Niedrigpreissegment vor allem für Waren des täglichen Bedarfs ab. Zusätzlich können die Kleinimporteure dank der behördlichen Duldung Importschranken unterlaufen und damit den Nachfrageüberhang nach Haushaltsgeräten und Heimelektronik zu erschwinglichen Preisen befriedigen.

Der Schattenhandel erfüllt in Tunesien damit zumindest vorübergehend Funktionen, die in den Volkswirtschaften der Industrieländer von Discountmärkten auf der grünen Wiese übernommen werden.

Stefan Müller

Die Untersuchung ist in der Reihe "Studien zur Volkswirtschaft des Vorderen Orients" (Hg. Prof. Dr. Dieter Weiss) als Band 6 erschienen.
Bantle, Stefan: Schattenhandel als sozialpolitischer Kompromiß: die 'Libyschen Märkte' in Tunesien. Informelle Kleinimporte, Wirtschaftsliberalisierung und Transformation. Münster, 1994, LIT Verlag.



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