Tiburtius-Preis 1994

Ein kleines Jubiläum - zum zehnten Mal wurde im Dezember der Tiburtius-Preis verliehen. Der nach dem früheren Senator für Volksbildung, Joachim Tiburtius, benannte Preis wird vom Land Berlin für herausragende Doktor- und Diplomarbeiten vergeben. Vier der insgesamt sechs Doktoranden und drei Diplomanden, die in diesem Jahr ausgezeichnet wurden, kommen von der FU. Nachdem wir bereits in FU:N 12/94 Jürgen Hofmann und seine geologischen Forschungen in der chinesischen Badan Jirin Wüste vorgestellt haben, präsentieren wir in diesem Heft die Arbeiten der anderen drei Preisträger.



Theater: Schule der Ausgrenzung

Hans-Joachim Neubauers Dissertation "Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert" ist im letzten Jahr bei Campus erschienen. Das Buch handelt von den dramatischen und theatralen Bildern, die eine christliche Gesellschaft von den sich emanzipierenden Juden entwarf, und zwar im frühen 19. Jahrhundert, der Kernzeit der jüdischen Emanzipation, als die Judenfeindschaft zum common sense gehörte. Dabei geht es nicht nur um die Rollen, die jüdische Figuren auf der Bühne einnehmen, wie sie das tun und welche ihnen verwehrt sind. Der sensationelle Massenerfolg dieses Theaters - das die kleinen Leute ebenso goutierten wie die feinen - korrespondiert mit einer speziellen Theatertechnik, jüdische Figuren auf der Bühne sprechen zu lassen, ein Jargon mit einer besonderen Bedeutung. Und schließlich geht es um die Frage, was wohl das damalige Publikum an diesen Figuren so lustig fand, also darum, wie die ästhetische Seite gesellschaftlicher Prozesse mit der sozialen Dimension des Ästhetischen zusammenhängt. Viele der über 130 gefundenen Stücke sind Lustspiele, Possen, Farcen. Die neue Figur des komischen Juden wird zum Publikumsmagneten. Wenn sie auf die Bühne kommt, versucht der Schauspieler, in Sprache und Stimme das Judentum der Figur zu Gehör zu bringen, als läge es in der Natur seiner Rolle. Die neue komische Figur der Zeit lebt davon, in der komischen Projektion im Neuen immer das unverändert Alte zu beschwören. In diesem komischen Theater gibt es als Figuren nur Juden, die keine sein wollen, und genau das wird als ihr jüdisches Wesen behauptet. Was das Publikum daran so ergötzte, war das ewige Scheitern dieser Figuren. Lachend schloß man sich im billigen Bewußtsein seiner Überlegenheit zusammen, bespöttelte, kicherte, witzelte - über die Bühnenfiguren ebenso wie über den jüdischen Nachbarn und Konkurrenten, den nachzuäffen zum geselligen Spaß wurde. Ganz nebenbei übte man wirksam die Perspektive ein, die im Theater Komik, in der Gesellschaft aber Stigma bedeutet: Das Theater als Schule der Ausgrenzung. Bedenkt man das betäubte Herz der Lachenden, dann ahnt man, daß mit dem Gelächter nach solchen Vorstellungen nichts zu Ende war, sondern daß damit alles eigentlich erst seinen Anfang nahm.
hh





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