Relativismus oder Wahrheit?

Volker von Prittwitz

 

 

Mit zwei medialen Großereignissen, den Feierlichkeiten zum Tode von Papst Johannes Paul II. und der Wahl von Kardinal Ratzinger zum Papst Benedikt XVI., hat die katholische Weltsicht im April 2005 ein bisher nie da gewesenes globales Forum erhalten. In alle Welt übertragen wurden dabei nicht nur Rituale, die in der Katholischen Kirche für die Bestattung und die Neuwahl von Päpsten festgelegt sind, sondern auch ausgewählte inhaltliche Aussagen zentraler Beteiligter. Besondere Aufmerksamkeit fand dabei eine Passage der Eröffnungsrede des kommenden Papsts Benedikts XVI. zum Wahlconclave, in der er Relativismus und Glauben gegenüber stellte. Die nach Radio Vatikan zitierte Formulierung hierzu lautete:

Einen klaren Glauben zu haben, gemäß dem Credo der Kirche, wird oft als Fundamentalismus hingestellt. Während der Relativismus, also das „hin und her getrieben sein vom Widerstreit der Meinungen“, als die einzige Einstellung erscheint, die auf der Höhe der heutigen Zeit ist. konstituiert sich eine Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maße nur das Ich und seine Bedürfnisse anerkennt.

In dieser Aussage verteidigt Kardinal Ratzinger den katholischen Glauben gegen den Vorwurf des  Fundamentalismus, indem er einen diktatorisch herrschenden Relativismus angreift, der nichts als definitiv und als letztes Maß nur das Ich und seine Bedürfnisse anerkennt. Als Relativismus fasst er dabei im Anschluss an ein Zitat aus den Paulusbriefen das hin und her getrieben sein vom Widerstreit der Meinungen. Die katholische Kirche erscheint damit als Glaubens- respektive Wahrheitsfels in der Brandung des relativistischen Hin und Her Geworfenseins, klarer kirchlich gebundener Glauben als einzig feste Grundlage für Weltsicht und Wertorientierung in der heutigen komplexen Welt.

Diese Auffassung des (katholischen) Glaubens als einzig fester Wertorientierung, die bereits von Papst Johannes Paul II. mit großem Medienwiderhall vertreten und verkörpert wurde, bricht sich allerdings mit der Tatsache, dass sich auch außerhalb kirchlichen Glaubens klare Prinzipien und Wertorientierungen entwickelt haben. Dies gilt nicht nur für andere Religionen, sondern auch und gerade für moderne pluralistische Gesellschaften. Deutlich wird dies, wenn wir uns formelle und informelle Funktionsgrundlagen pluralistischer Demokratien betrachten:

·         Institutioneller Kern pluralistischer Demokratien sind allgemeine, gleiche und geschützte Verfahren nach dem Muster von Wahl- oder Gesetzgebungsverfahren. Mit Hilfe derartiger Verfahren kommen gemeinsam anerkannte Entscheidungen zwischen Beteiligten mit unterschiedlichen Problemsichten, Interessen und Werte zustande. Voraussetzung dafür ist, dass die Verfahren allgemein anerkannt und wirkungsvoll geschützt sind. Pluralismus vollzieht sich damit gleichzeitig als freier Austrag unterschiedlicher Ziele und Orientierungen und als Bindung aller Beteiligter an gemeinsam anerkannte Interaktionsregeln.

·         In annähernd allen modernen pluralistischen Gesellschaften sind formelle Prinzipien und Grundrechte festgelegt, auf deren Grundlage pluralistische Entscheidungsverfahren institutionalisiert, durchgeführt und geschützt werden können. Für derartige Verfahrensgrundlagen, die in der Regel Verfassungsform haben, lassen sich zwar einzelne weitläufige Beziehungen zu frühchristlichem Gedankengut herstellen; sie im Kern aber als Ausdruck religiösen Glaubensgutes zu betrachten, wäre verfehlt. Vielmehr hat sich das heute anerkannte Set allgemeiner Menschen- und Beteiligungsrechte erst in einer Jahrhunderte langen Auseinandersetzung mit religiösen Wahrheitsansprüchen entwickelt. Einzelne, gegenseitig kontradiktorische religiöse Glaubenswahrheiten konnten erst im Zeichen der säkularen Aufklärung relativiert und durch staatliche, letztlich pluralistische Institutionen gesellschaftlich eingebunden werden. Und selbst im 19. und 20. Jahrhundert standen kirchliche Institutionen häufig gegen die Einführung oder Ausweitung pluralismusförderlicher Verfahren und Rechte. Die katholische Kirche tut sich sogar heute noch unübersehbar schwer mit der praktischen Anwendung einzelner Menschenrechte, beispielsweise der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, der Meinungs- und der Berufsfreiheit.

·         Neben formell festgelegten Prinzipien und Orientierungen stützen auch informelle Normen und Prinzipien die praktische Funktionsfähigkeit der pluralistischen Gesellschaft. Hierzu gehören beispielsweise Fairnessnormen und Formen sozialen Kapitals, so Grundsatzvertrauen und offene Netzwerke, ohne die weder im beruflichen noch im politischen oder privaten Alltag ein freies Miteinander möglich wäre. Auch diese praktischen Umgangsnormen und Vertrauenskapitale einer freien Gesellschaft unterscheiden sich in vielem von der vergleichsweise engen Vorstellung einer religiös präformierten Glaubenswahrheit und religiöser Hierarchie. Die moderne pluralistische Gesellschaft, in der einzelne ihre Eigeninteressen auch in Konflikt miteinander verfolgen können, beruht vielmehr auf einem eigenen freiheitlichen Verfahrens- und Wertefundament, das sowohl formelle wie informelle Stützen besitzt. 

Mit dem päpstlichen Vorwurf des Relativismus wird die eigene, in Auseinandersetzung mit der Vorstellung absoluter Glaubenswahrheiten errungene, Zweiebenenstruktur moderner Gesellschaften gründlich verkannt. Verwechselt wird die Möglichkeit offener Diskussion und sich daraus ergebender Lernprozesse mit Richtungslosigkeit und Orientierungslosigkeit. Verkannt wird die Möglichkeit, dass Individuen trotz möglicher Egoorientierung über wirkungsvolle pluralistische Verfahren Wohlfahrtsförderliches leisten und gesellschaftlich eingebunden werden können. Schlicht übersehen oder verdrängt werden schließlich die anspruchsvollen Voraussetzungen pluralistischer Verfahrens- und Wertebindung, die verfahrensgestützte Koordination überhaupt erst möglich machen.

Angesichts dessen erscheint das durch den neuen Papst avisierte Orientierungspotential beschränkt: Die katholische Kirche kann zwar auch in modernen pluralistischen Gesellschaften eigenständige Funktionen ausüben. Sie eignet sich aber gerade in ihrer durch die Papstwahl zu Tage getretenen traditionalen Mehrheitskonstellation ganz und gar nicht als hauptsächliche Orientierungsgrundlage weiterer Gesellschaftsentwicklung. Was die moderne Gesellschaft braucht, ist kein Zurück in absolute religiöse Wahrheiten, sondern ein aufgeklärtes Miteinander im Sinne werte- und verfahrensgebundener Pluralität.

 

Der Autor:

Prof. Dr. Volker von Prittwitz

Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft

Freie Universität Berlin

Ihnestr. 26, 14195 Berlin

Email: vvp@gmx.de

Homepage: www.volkervonprittwitz.de


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