Qualitative Modellierung
politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse
(Volker von Prittwitz/15. 07.10)
Politische Prozessmodellierung: Verbale, mathematische und/oder bildliche Darstellung und Erklärung politischer Prozesse anhand von Variablenkonstellationen. Hierbei werden bestimmte Variablen ausgewählt; es geht aber immer um den Versuch einer zusammenfassenden Darstellung/Erklärung im Überblick.
Willensbildungsprozesse sind hierbei vergleichsweise unstrukturiert. Verschiedentlich kristallisieren sich dabei (einflussreich handelnde) politische Akteure, Akteurkonstellationen und institutionelle Umfelder erst heraus. Entscheidungsprozesse dagegen finden üblicherweise in einem weitgehend geklärten Umfeld von Akteurkonstellationen und institutionellen Bedingungen statt.
Die Auswahl und Präsentation von Modellierungs-Variablen wird ihrerseits durch theoretisch (vor-)strukturierte Modellvorstellungen beeinflusst. Modellierung ist insoweit Theorieanwendung. In der Durchführung von Modellierungsprozessen, inbesondere bei der Datenrecherche und Datenaufbereitung, können Basismodelle aber auch überprüft und geändert werden.
Besonders konsequenzenreich ist die Beeinflussung durch reine Prozessmodelle und/oder durch normative Handlungsmodelle (Policy-Modelle): Während in Prozessmodellen lediglich gefragt wird, wie ein politischer Prozess verläuft und warum dies so ist, geht es in normativen Handlungsmodellen (Policy-Modellen) darum, eine Optimum-Vorstellung kritisch an einen faktisch ablaufenden Prozess anzulegen (Ist-Soll-Vergleich). Letzteres ist vergleichsweise einfach und daher besonders anregend. Nicht selten fließen Elemente eines Ist-Soll-Vergleichs implizit in Modellierungsvorhaben ein. Andererseits relativieren ist-analytisch ausgerichtete Prozess- und Strukturmodelle die Anwendbarkeit normativer Modelle, wirken insoweit korrigierend und ihrerseits anregend.
Ein Fall, in dem sich die Fruchtbarkeit dieser Differenzierung von Basismodellen gut zeigen lässt, ist der historische Verlauf des Nahost-Konflikts im Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern. Dieser Prozess kann ganz sachlich in Form einer historischen Dokumentation subjektiver Sichtweisen von Israelis und Palästinensern dargestellt werden (Siehe dazu: Schäuble, Martin, Flug, Noah 2009: Die Geschichte der Israelis und Palästinenser, DTV München, 2. Aufl.). Ein solches „reines“ Prozessmodell reproduziert allerdings lediglich eindimensionale Feindbilder und entsprechende Empfindungen über die verschiedenen Phasen des Prozesses hinweg, die faktisch dominiert haben. Würde der Prozess nach einem normativen Modell öffentlichen Handelns (Herausforderungen Kommunikation, Differenzierung, Verständigungsversuche in der Sache) analysiert , ergäben sich ganz andere Akteure, Variablen und Ablaufmuster der Präsentation. Dies gälte entsprechend auch für eine qualitative Prozessmodellierung mit explizierten Variablenkonstellationen.
Im Seminar Qualitative Modellierung politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse (FU Berlin, SoSe 2010) sind wir von einem Beispielfall (Die US-amerikanische Gesundheitsreform 2009/2010) ausgegangen, in dem Prozessmodell-Elemente (Handlungssituationen, Akteurkonstellationen, faktische Kommunikationsformen, Situationsverknüpfungen) dominierten. Allerdings flossen hier verschiedentlich implizite Handlungsmodelle ein, so das Policy Cycle-Modell sachlicher Problembearbeitung sowie eine Restriktionsanalyse von Bedingungen, die die – aus unserer Sicht wünschenswerte – Reform behinderten (Lange Geschichte des bisherigen Scheiterns von Reformbemühungen, zugespitzte Wertkonflikte, taktische Fehler der Reformbefürworter).
Auch im Modellierungsfall Der Skandal sexuellen Missbrauchs an Kloster- und Internatsschulen dominierten Prozessmodell-Konzepte (Historische Kontextbedingungen/Struktureller Thematisierungsschübe, faktische Kommunikationsabläufe, Zwischenergebnisse mit Rückwirkungen). Die Modellierung war dabei durch die Frage gelenkt, wie es zu dem Skandal kommen konnte und warum er sich über Monate hin erhielt, ja phasenweise noch weiter zuspitzte. Da das Aufkommen des Skandals von der Arbeitsgruppe als grundsätzlich positiv bewertet wurde, hatte diese Fragestellung auch eine normative Komponente, die die Modellierung vorantrieb.
Im Modellierungsfall Der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess im Umgang mit Staatsverschuldung, potentiellen Staatsbankrotten und Euroschwächen (fokussiert auf die Griechenland-Problematik) fehlten normative Modellelemente weitgehend. Hier ging es vielmehr darum, ausgewählte Abläufe, insbesondere den Übergang von einer Verweigerung massiver Unterstützung Griechenlands durch die EU zu einer Unterstützung, modellierend nachzuzeichnen. Eine Gesamtmodellierung des Prozesses war nicht möglich. Hintergrund dafür war/ist meines Erachtens das Fehlen einer durchgehenden normativen Position zu den Geschehnissen in der Modellierungsgruppe und im Seminar.
Meine Schlussfolgerung: Wer einen politischen Prozess modellieren will, muss ihn im Zusammenhang zu verstehen suchen, also ein Grundlagenmodell für ihn entwickeln. Dazu ist eine normative Position, zumindest aber eine durchgehende Fragestellung Voraussetzung. Erst mit Hilfe solcher Vorab-Orientierung kann die Komplexität eines politischen Prozesses anregend bewältigt werden. Dies gilt auch und gerade dann, wenn sich das vorab entwickelte Gesamtmodell im Zeichen der empirischen Fakten als revisionsbedürftig erweist. Die qualitative Modellierung politischer Prozesse erscheint daher für die Beratung politischer Akteure (mit bestimmten Interessenprofilen und Weltsichten) besonders gut geeignet. Dies schließt die Öffentlichkeitsberatung anhand ausgewiesener Profile von Allgemeininteressen, zum Beispiel effektiven und/oder effizienten öffentlichen Handelns, ein.
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Autor: Prof. Dr. Volker von Prittwitz
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin
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