Volker von Prittwitz
Personalisierte Verhältniswahl!
Reformmodelle des Wahlsystems zum deutschen Bundestag
Am 3. Juli 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht Teile des geltenden Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig, weil gegebenenfalls zusätzliche Wählerstimmen zum Mandatsverlust einer Partei führen können und umgekehrt (Negative Stimmengewichtung). Dem Gesetzgeber räumte das Gericht für eine verfassungskonforme Gesetzesnovelle Zeit bis 2011 ein.[1] Diese lange Überarbeitungsfrist stößt zwar auf Kritik, da so die Bundestagswahl 2009 noch in verfassungswidriger Form stattfinden wird. Andererseits eröffnet sich damit die Chance, mit der widersinnigen negativen Stimmengewichtung auch andere Schwächen des geltenden Wahlsystems zu beseitigen.
Eine solche Wahlreform setzt allerdings eine öffentliche Diskussion voraus. Dazu müssten nicht nur Wahlrechts-Fachleute, sondern auch Parteien und Journalisten Bezüge zwischen Wahlsystem und Demokratie zur Kenntnis nehmen: Werden die Abgeordneten nach einem widersprüchlichen und undurchsichtigen Wahlsystem bestimmt, das den Wählern wenig Auswahl ermöglicht, verstärkt dies bestehendes Missbehagen am Demokratieanspruch der Politik. Kommt es dagegen zu einem klar gestalteten Wahlsystem, das den Wählern eine wirkliche Auswahl (etwa einzelner Abgeordneter) erlaubt, so dürfte dies das öffentliche Ansehen der Demokratie verbessern. Eine angemessene Wahlreform in Gang zu bringen, die über eine eng gefasste rechtstechnische Korrektur hinausgeht, liegt also im öffentlichen Interesse.
Der folgenden Text soll zu dieser Diskussion beitragen. Darin wird zunächst das bisherige Wahlsystem zum deutschen Bundestag skizziert und systematisch bewertet. Dann geht es um unterschiedliche Reformoptionen im Vergleich und Zusammenhang.[2]
1. Bewertungskriterien von Wahlsystemen
An demokratische Wahlsysteme werden unterschiedliche Anforderungen gestellt[3]:
1. Gleichheit: Jede Wählerstimme soll prinzipiell gleichen Stimmwert und gleichen Erfolgswert (der Umsetzung von Stimmen in Abgeordnetenmandate) haben, woraus hohe Proportionalität der Stimmenumrechnung folgt. Hierzu sind auch logische Konsistenz, etwa der Ausschluss negativer Stimmengewichtung, und Unmittelbarkeit des Wahlvorgangs Voraussetzungen.
2. Konzentration: Eine Zersplitterung der parlamentarischen Willensbildung durch zu viele kleine Parteien oder gar Einzelpersonen soll vermieden, die Bildung stabiler Regierungen gefördert werden.
3. Personalisierung/Partizipation: Die Wähler sollen nicht nur die Wahl von Parteien, sondern auch die Auswahl bzw. Abwahl von Abgeordneten bestimmen können und damit in höherem Grade politisch partizipieren können.
4. Einfachheit/Transparenz: Die Wähler sollen das Wahlsystem leicht verstehen und die Wahl leicht handhaben können.
Hinzu kommen mögliche weitere Anforderungen, so etwa das Kriterium der Verträglichkeit eines Wahlsystems mit der föderalen Struktur eines Landes.
Diese unterschiedlichen Anforderungen bedingen beziehungsweise verstärken sich teilweise. So ist Stimmwertgleichheit eine Voraussetzung von Erfolgswertgleichheit und Transparenz verbessert die Beteiligungschancen der Wähler. Andererseits stehen Anforderungen auch in Spannung zueinander, bilden also Transfers. So schließen sich völlige Erfolgswertgleichheit und die Förderung des Zustandekommens stabiler Regierungen wechselseitig aus. Denn letztere verlangt, die Erfolgswertgleichheit aller Stimmen, etwa durch prozentuale Verrechnungshürden, zu beschränken. Auch können komplexe Formen politischer Beteiligung, etwa das Kumulieren oder Panaschieren in offenen Listen, die Einfachheit bzw. Transparenz des Wahlvorgangs beeinträchtigen. Vor allem aber können spezielle Anforderungen wie die Föderalismus-Verträglichkeit einer Bundestagswahl zu Widersprüchen führen. Wahlsysteme sollten daher immer im Zusammenhang aller gestellten Anforderungen und deren politischer Gewichtung diskutiert werden.
2. Bewertung des aktuellen Wahlsystems zum deutschen Bundestag
Die Abgeordneten des deutschen Bundestags werden, wie es im Bundeswahlgesetz aus dem Jahr 1993 heißt, nach den Grundsätzen der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt. Gemeint ist hiermit ein Zweistimmen-Wahlsystem. Danach werden die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag prinzipiell durch listenbezogene Verhältniswahl qua Zweitstimme bestimmt. Die Hälfte der Bundestagsabgeordneten wird in Einer-Wahlkreisen durch die Wähler qua Erststimme persönlich gewählt. Die Abgeordnetensitze, die jeder Partei entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, werden zunächst mit ihren erfolgreichen Direktkandidaten besetzt und dann durch Listenkandidaten in der vorab festgelegten Reihenfolge der Liste aufgefüllt. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Direktkandidaten einer Partei die Zahl der Abgeordnetensitze, die dieser Partei nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, so behält sie diese als Überhangmandate. Überhangmandate werden zunächst bezogen auf die Landeslisten der beteiligten Parteien und dann in einer Unterauszählung zwischen den verbundenen Landeslisten jeder Partei für den Bundestag errechnet. [4]
Wieweit verwirklicht dieses Wahlsystem die skizzierten Demokratieanforderungen?
2.1 Stimmwert- und Erfolgswertgleichheit (Proportionalität)
Das seit 1949 nur mit kleinen Modifikation bisher geltende Wahlsystem wird herkömmlicher Weise als modernes, demokratisches Wahlsystem betrachtet. Dementsprechend soll in diesem System - in striktem Gegensatz zu früher geltenden ungleichen Wahlsystemen, etwa dem preußischen Dreiklassen-Wahlrecht - selbstverständlich jede Wählerstimme gleichen Stimmwert haben. Und auch der letztliche Erfolgswert von Wählerstimmen (nach Umrechnung in Abgeordnetensitze) soll prinzipiell gleich sein.[5]
Nach dem Bundeswahlgesetz werden allerdings Abweichungen der Wahlkreisgrößen bis zu 25 von Hundert mit entsprechend unterschiedlichen Stimmwerten hingenommen. Da die Wahlkreise nicht nach der Zahl der Wahlberechtigten, sondern nach Bevölkerungszahl bemessen sind, kommt es zudem zu Stimmwertvarianzen in Abhängigkeit davon, wie große Teile der Bevölkerung stimmberechtigt sind. Diese Feststellung wiederum führt zu der Kritik, dass durch die Altersgrenze von 18 Jahren alle Jugendlichen und Kinder von der Wahl ausgeschlossen sind, ihre – durchaus hörenswerten und wichtigen – Stimmen also einen Stimmwert von Null haben.[6]
Bekannte Abweichungen vom Prinzip der Erfolgsgleichheit ergeben sich durch die Fünf-Prozent-Hürde der Stimmenverrechnung, die Grundmandate-Klausel und die Zulassung von Überhangmandaten ohne Ausgleich: Mit der Fünfprozent-Hürde der Verrechnung von Zweitstimmen in Abgeordnetensitze wird der Erfolgswert von Wählerstimmen für Parteien, die diese Hürde nicht überspringen, im Gegensatz zu allen anderen Stimmen auf Null gestellt. Nach der Grundmandate-Regelung kann eine Partei mit Hilfe von drei Direktmandaten in den deutschen Bundestag einziehen, auch wenn sie die Fünfprozent-Hürde nicht überspringt – offensichtlich eine Erhöhung des Erfolgswerts von Parteien mit einem oder mehreren regionalen Schwerpunkten. Die nicht ausgeglichenen Überhangmandate schließlich, die üblicherweise bei großen Parteien entstehen, führen zu einem in der Tendenz höheren Erfolgswert von Wählerstimmen für große Parteien.
Hinzu kommt die Problematik der negativen Stimmengewichtung, die durch die Verrechnung nicht ausgeglichener Überhangmandate im Verbund von Landeslisten jeweiliger Parteien entsteht. Hier erreicht die Erfolgswertungleichheit von Wählerstimmen sogar die Negativdimension: Während Stimmen im allgemeinen positiven Erfolgswert haben, erhalten bestimmte Stimmen einen negativen Erfolgswert – und dies üblicherweise ohne Kenntnis der Wähler.[7]
Zusammengefasst ergeben sich Defizite der Stimmwertgleichheit, vor allem aber beträchtliche Ungleichheiten des Erfolgswerts von Wählerstimmen. Da nicht ausgeglichene Überhangmandate ein mehrheitssystematisches Element bedeuten und Überhangmandate in den Bundestagswahlen seit 1990 in beträchtlicher Zahl aufgetreten sind, kann nicht mehr begründet von einer reinen Verhältniswahl gesprochen werden.
2.2 Konzentrationsfunktion
Selbst die traditionell hervorgehobene stabilitätsförderliche Konzentrationsfunktion des bisherigen Wahlsystems lässt sich mit der Herausbildung eines instabilen Fünf-Parteien-Systems, in dem Die Linke nur eingeschränkt als koalitionswürdig aufgefasst wird, kaum mehr feststellen. Zunehmende Schwierigkeiten der Regierungsbildung und des Regierungsalltags im Zeichen großer Koalitionen, Minderheitskoalitionen oder monatelang anhaltender Provisorien machen dies deutlich.
2.3 Personalisierungskompetenz/Partizipation
Nach dem geltenden Wahlsystem verfügen die Wähler über eine gewisse Personalisierungskompetenz, da sie prinzipiell die Hälfte der Bundestagsabgeordneten in Direktwahlkreisen wählen können. Dabei geht es allerdings nur um die Wahl zwischen Kandidaten, die von den Parteien vorgegeben sind; wer in den Wahlkreisen zur Wahl gestellt wird, können die Wähler nicht beeinflussen. Somit ist die Personalisierungskompetenz des Wählers bereits bei der Direktwahl beschränkt.
Vor allem aber kann der Wähler aus den ihm nur in Summe vorgelegten starren Parteilisten keine Kandidaten auswählen; die hierauf bezogene Personalisierungskompetenz ist also gleich Null. Das deutsche Wahlsystem als personalisierte Wahl zu bezeichnen, stellt also eine Beschönigung dar. Angemessen wäre vielmehr Bezeichnungen wie teilweise personalisierte Wahl oder schwach personalisierte Wahl.
2.4 Klarheit
Das deutsche Wahlsystem ist vielen Wählern bereits hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Stimmtypen (entscheidende Zweitstimme für eine Parteiliste, personalisierende Erststimme für einen Wahlkreiskandidaten) unklar. Diese Unklarheit verstärkt sich hinsichtlich der speziellen Regelungen zu Überhangmandaten, Grundmandaten, Landeslisten und Bundestagswahl. Vollkommene Verwirrung entsteht durch die Möglichkeit, dass es unmerklich zu einer negativen Stimmengewichtung kommt. Das deutsche Wahlsystem ist daher ausgesprochen komplex und wenig transparent.
2.5 Zusammenfassende Bewertung
Es ergeben sich eine Reihe schwerwiegender Demokratiedefizite des bisher geltenden Wahlsystems zum deutschen Bundestag: Dieses weist Stimmwertungleichheiten, vor allem aber eine Reihe – nur teilweise intendierter – Erfolgswertungleichheiten auf, ist personalisierungsschwach und höchst undurchsichtig. Selbst die ihm traditionell zugeschriebene stabilitätsförderliche Konzentrationswirkung lässt sich im aktuellen Parteien-System der Bundesrepublik nicht mehr festzustellen. Angesichts dieser schwerwiegenden Funktionsdefizite des geltenden Wahlsystems erscheint eine Reform dieses Wahlsystems dringend überfällig.
3. Reformoptionen
Welche Optionen stehen nun zur Verfügung, um die Entstehung negativer Stimmengewichtung auszuschließen und die anderen skizzierten Wahlsystem-Defizite zu überwinden? Und wie sind diese Optionen in der gegenwärtigen Situation nach den angegebenen Kriterien zu bewerten?
3.1 Änderungen im Bund-Länder-Verhältnis
Die Grundstruktur des bisher geltenden Wahlsystems zum deutschen Bundestag stammt aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als die Alliierten überregionale Lösungsansätze mit Argwohn betrachteten. Obwohl sich die Bundesrepublik Deutschland bis heute auf föderale Strukturen gründet, besteht kein Zwang dazu, Strukturen des so genannten kooperativen Föderalismus, in dem alle Funktionen in gemischter Verantwortung des Bundes und der Länder wahrgenommen werden, als unbegrenzt allgemeinverbindlich zu handhaben. Entsprechend der Föderalismusreform aus dem Jahr 2005 können auch im Bereich des Wahlrechts Elemente des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern geändert werden. Hierzu bestehen mehrere Möglichkeiten.
3.1.1 Augsburger Verfahren
Eine das Bund-Länder-Verhältnis nur modifizierende, einfach erscheinende Lösung des Problems der negativen Stimmengewichtung bildet das Augsburger Zuteilungsverfahren.[8] Danach bleiben alle direkt errungenen Mandate unangetastet. Sind dies in einem Bundesland mehr, als einer Partei an Listenplätzen zusteht, so werden die zusätzlichen Sitze mit der bundesweiten Gesamtzahl der Listenplätze der Partei verrechnet. Damit kommt ein durchgängiges Verhältniswahlrecht zustande.
3.1.2 Entflechtung von Bundes- und Landeswahlen
Eine weitergehende Änderung der vertikalen Wahlsystemstruktur bestünde darin, die Bundes- und die Landesebene bei Wahlen zu entflechten. Demnach werden die Landtagswahlen weiterhin auf Grundlage von Landeslisten durchgeführt. Die Bundestagswahlen dagegen werden im direkten Verhältnis zwischen Wahlkreisen und Bundestag gestaltet. Damit können alle Direktmandate einer Partei unmittelbar mit ihrem bundesweiten Zweitstimmenanteil verrechnet werden. Überhangmandate (einzelner Bundesländer) treten nicht mehr auf.
3.2 Alternative Stimmen-Modelle
3.2.1 Präferenzstimmen-Modelle
Können Wähler mit ihrer Stimme personelle Präferenzen zwischen unterschiedlichen Wahlkreiskandidaten ausdrücken – nach dem Muster: Am liebsten sähe ich Kandidat A im Parlament; falls dieser aber nicht gewählt werden sollte, würde ich Kandidat C vorziehen – , spricht man von Präferenzstimme. Auch hierdurch erhöht sich der Personalisierungsgrad. Zudem steigt die Repräsentativität der Wahl, da der Anteil verfallener Stimmen sinkt. Die Wahlmethode erhöht allerdings die Komplexität der Wahl und der Wahlauswertung erheblich.
3.2.2 Einstimmen-Modelle: Ein Vorschlag
Wählt der Wähler mit einer Stimme gleichzeitig einen Wahlkreiskandidat und dessen Partei, so wird von einem Einstimmen-Modell gesprochen. Dabei haben die Bürger die Möglichkeit, mit ihrer Stimme nicht nur eine Partei, sondern auch einen Abgeordneten (persönlich) ins Parlament zu wählen. Ein solches Wahlsystem hat hohen Personalisierungsgrad; zugleich sind Wahlvorgang und Wahlauswertung weit einfacher als in Zweistimmen-Modellen. Das so genannte Stimmensplitting allerdings ist nicht mehr möglich.
Ein Einstimmen-Modell für die Wahl zum deutschen Bundestag könnte darin bestehen, alle 598 Bundestagsabgeordneten in 299 Wahlkreisen (mit jeweils gleich vielen Wahlberechtigten) wählen zu lassen. Die Zahl der Bundestags-Mandate jeder Partei bemisst sich dabei nach der Gesamtzahl der für sie (bzw. der für alle ihre Wahlkreiskandidaten) abgegebenen Stimmen. Jeder Wahlkreis entsendet einen Kandidaten/eine Kandidatin, der/die die meisten Wählerstimmen erhalten hat; hinzu kommen 299 weitere Kandidaten, die im parteiinternen bundesweiten Vergleich zwischen den Wahlkreisen mit den höchsten Stimmenanteilen gewählt worden sind. Es ziehen also 299 Wahlkreissieger zusammen mit 299 weiteren vom Bürger gewählten parteiinternen Siegern in den Bundestag ein.
Dieses Wahlsystem ist einfach handhabbar und transparent; die Ergebnisse lassen sich leicht überprüfen. so auf einer Vergleichsliste der Wahlergebnisse in den Wahlkreisen und einer Vergleichsliste der Stimmenanteile, die die Wahlkreiskandidaten jeder Partei erreicht haben. Alle Abgeordneten werden direkt vom Volk in einer repräsentativen Verhältniswahl gewählt. Damit kann, anders als nach dem bisher geltenden Wahlsystem, begründet von einer Personalisierten Verhältniswahl gesprochen werden.
3.3 Senkung des Wahlalters
Der mit der Bundestagswahl erreichte Partizipationsgrad würde sich deutlich erhöhen, wenn auch Jugendliche und Kinder in die Wahl einbezogen wären. Dies gilt für ihr aktives wie ihr passives Wahlrecht. Hierzu erscheint zunächst eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre sinnvoll, da junge Leute in diesem Alter auch ansonsten zahlreiche souveräne Entscheidungen zu treffen haben und Verantwortung tragen.
3.4 Die Reformoptionen im Vergleich und Zusammenhang
Das Problem der negativen Stimmengewichtung kann durch das Augsburger Zuteilungsverfahren in minimalistischer Form bewältigt werden, wobei das bestehende Wahlsystem zum Bundestag in seiner horizontalen Struktur (Zweistimmensystem, Fünf-Prozent-Hürde, Überhangmandate) wie in seiner vertikalen Struktur (Länderlisten) erhalten bliebe. Der niedrige Personalisierungsgrad, die hohe Komplexität und geringe Transparenz des bisherigen Wahlsystems würden aber nicht behoben.
Auch bei dem alternativen Lösungsansatz zu einem Einstimmensystem blieben bisher geltende Regelungen wie die Gesamtzahl der zu wählenden Bundestagsabgeordneten (598), die Zahl der Wahlkreise (299) und die Fünfprozent-Hürde der Stimmenverrechnung erhalten. Das Wahlsystem würde aber vertikal wie horizontal erheblich vereinfacht. Es käme zu einem klaren Verhältniswahlsystem. Alle Abgeordneten würden direkt durch die Bürger gewählt. Mögliche Unstimmigkeiten, Widersprüche und Unklarheiten im Verhältnis zwischen Erst- und Zweitstimme entfielen und die Wahl wäre für jeden Bürger einfach nachvollziehbar.
Jede zustande gebrachte Wahlreform würde mit einer Senkung der Altersgrenze – nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung – enorm an Gewicht gewinnen: Je mehr Jugendliche und Kinder das aktive wie passive Wahlrecht erhalten, desto partizipativer wird das deutsche Wahlrecht.
Der lange Zeitraum, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eingeräumt hat, legt eine gründliche Wahlreform nahe. Verhält sich die Politik dementsprechend, würde sie sich um das Ansehen der demokratischen Regierungsform verdient machen. Würde das Problem der negativen Stimmengewichtung dagegen lediglich minimalistisch gemanaged, so wäre dies Wasser auf die Mühlen der Vertreter der Postdemokratie-These, wonach in Deutschland und anderen OECD-Ländern keine Demokratie besteht.
----------------------------------------------
Der Autor: Prof. Dr. Volker von Prittwitz
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin
[2] Für Unterstützung und Anregungen danke ich Sebastian Haug und Esther Lea Neuhann.
[3] Siehe unter anderem: Nohlen, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem 2007, Opladen (UTB 1527), S. 165-174; eingehender zur Personalisierungskompetenz: Prittwitz, Volker von 2007: Vergleichende Politikanalyse, Stuttgart (UTB 2871), S. 81-83.
[4] Bundeswahlgesetz, Artikel 1, Absatz 1 in der Fassung vom 23. Juli 1993, zuletzt geändert am 11. März 2005 (BGBl. 1288/1594), http://www.bpb.de/wissen/JJEYEX,0,0,Wahlsystem_%28%A7%A7_1_bis_7%29.html#art0
[5] Siehe in diesem Sinne auch das aktuelle BVG-Urteil (Fußnote 1)
[6] Zur Kritik und Diskussion siehe: http://www.martinwilke.de/wahlrech.htm
[7] Der Fall der Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 im Bezirk Dresden 2, in dem wochenlang Stimmenkonstellationen mit negativer Stimmengewichtung öffentlich diskutiert wurden, hatte Ausnahmecharakter. Denn nur hier war das Ergebnis der Gesamtwahl schon bekannt.
[8] Entwickelt von Friedrich Pukelsheim, Universität Augsburg. Aktuell zum Bundeswahlgesetz siehe:
http://www.math.uni-augsburg.de/stochastik/pukelsheim/2008h.pdf