Herausforderung Politikanalyse

Volker von Prittwitz (02.01.2011)

 

Analysieren heißt wörtlich, etwas auflösen, in seine Bestandteile zerlegen. Diese Zerlegung wird meist als vertiefende Untersuchung verstanden, die zumindest letztlich praktischen Zwecken dient. Dabei wird üblicherweise mit wissenschaftlichen Methoden vorgegangen. Voraussetzung für Analyse in diesem Sinne ist ein Modell, nachdem sich der Untersuchungsgegenstand gedanklich zerlegen lässt; Analyse setzt also Modell- bzw. Theoriebildung voraus. Zusammen ergeben sich praktische, methodische und theoretische Leistungspotenziale des Analysierens.

Das Konzept der Analyse auf Politik zu beziehen, erscheint bis heute gewagt. Politik ist nämlich durch eine Vielzahl von Variablen, durch die Verflochtenheit und prinzipielle Entscheidungsoffenheit ihrer Prozesse besonders komplex. Politik lässt sich nicht wiederholen, sondern vollzieht sich - jeweils einmalig - im historischen Fluss. Und sie lässt sich nicht ohne Weiteres objektiv betrachten, da Politikbeobachter immer durch bestimmte Werthaltungen und Interessen, oft auch durch Machtlagen im Untersuchungsfeld beeinflusst werden. Wissenschaftliche Politikanalyse sieht sich daher besonderen Schwierigkeiten gegenüber.   

 

Wissenschaftliche Politikanalyse

Wissenschaft verstehen wir heute als System methodisch geleiteter Erkenntnissuche: Wissenschaftlichen Charakter können nur Aussagen haben, die sich überprüfen und damit gegebenenfalls als falsch erweisen lassen. Je leichter eine Aussage überprüft werden kann, je umfassender sie also gelten soll und je präziser sie formuliert ist, desto höheren empirischen Gehalt hat sie. Wissenschaft strebt prinzipiell nach Aussagen mit möglichst hohem empirischem Gehalt (Popper 1934/1967: 85).

Wird dieses empirisch-analytische Wissenschaftsverständnis trotz der bestehenden Hindernisse auf Politik angewandt, so kann von wissenschaftlicher Politikanalyse gesprochen werden. Hierbei ist die Anforderung eines möglichst hohen empirischen Gehalts von überragender Bedeutung: Da sich Politik im historischen Fluss vollzieht, kann sie offensichtlich nicht mittels wiederholbarer Experimente, auf dem methodischen Königsweg der Naturwissenschaften,  untersucht werden. Demgegenüber bieten sich andere Untersuchungsmethoden an, so die Fallstudie, der Fallvergleich, die statistische Untersuchung und die spielerische oder rechnerische Simulation politischer Prozesse. Wissenschaftliche Politikanalyse stützt sich also nicht nur auf quantitative, sondern vor allem auch auf qualitative Methoden empirischer Forschung (Prittwitz 2007, 8-25).

Unabhängig von ihren Untersuchungsmethoden ist wissenschaftliche Politikanalyse auf Erkenntnis gerichtet. Sie strebt danach, Aussagen mit möglichst hohem empirischem Gehalt, sprich eine Theorie der Politik mit möglichst allgemein geltenden und möglichst genauen Aussagen, zu entwickeln. Als institutioneller Rahmen bietet sich hierfür die Politikwissenschaft an, die sich mit wissenschaftlichem Anspruch im Besonderen mit Politik beschäftigt.

Wieweit die heutige Politikwissenschaft diesen Anspruch erfüllt, ist allerdings fraglich: Zwar sprechen die Autoren einer Selbstevaluation der Politikwissenschaft in allen Teilbereichen hohe wissenschaftliche Standards zu (Politische Vierteljahresschrift, Nr.3, 2009); massive Defizite empirisch überprüfbarer Theoriebildung sind aber offensichtlich. So umfasst die deutsche Politikwissenschaft eine erklärtermaßen nicht empirisch operierende Subdisziplin für Politische Theorie und Ideengeschichte. Die Regierungslehre (Politisches System der BRD) wird häufig nicht vergleichend-empirisch, sondern als didaktischer Kanon betrieben. Vor allem aber fehlt eine verbindende Theoriediskussion der Gesamtdisziplin; die einzelnen Subdisziplinen der Politikwissenschaft sind also, anders als etwa in der Chemie oder Physik, nicht in einem gesamttheoretischen Rahmen verortbar. Und nicht selten spielen Theoriebildung und Theorieprüfung eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber Methodenfragen, so in der Vergleichenden Politikwissenschaft (Komparatistik). Es verwundert daher nicht, dass die Politikwissenschaft trotz ihres Kapazitätswachstums in den letzten Jahrzehnten keine nennenswerten gesamtgesellschaftlichen Diskussionsanstöße produziert: Treten Repräsentanten der Disziplin überhaupt einmal in der Öffentlichkeit auf, so liefern sie üblicherweise Statements ohne höheren Gehalt als durchschnittliche Fachjournalisten und Politiker. Politikwissenschaftliche Impulse für die öffentliche Diskussion fehlen.

Wissenschaftliche Politikanalyse, die ihrem Namen gerecht wird, ist demgegenüber darauf gerichtet, politische Phänomene systematisch zu durchdringen. Sie soll helfen, politische Handlungen, Strukturen und Prozesse erklärend zu verstehen. Hierbei können gegebener politischer Wirklichkeit durchaus auch andere mögliche Wirklichkeiten gegenüber gestellt werden. Wer Politik analysiert, ist so in der Lage, nicht nur methodische, sondern auch theoretische und praktische Herausforderungen seines Gegenstands bis hin zu einer notwendigen kritischen Auseinandersetzung anzunehmen. Die Begründungskriterien, Modellannahmen und Faktengrundlagen der eigenen Argumentation müssen dabei allerdings immer offen ausgewiesen werden. Da so auch Autoren unterschiedlicher Werthaltung miteinander sachlich über Politik kommunizieren können, wirkt wissenschaftliche Politikanalyse zivilisierend.

Solche Analyse kann sich umso besser entfalten, je mehr Wissenschaftler/innen sich darum bemühen, Politik im Zusammenhang von Theorie und Empirie zu verstehen und je mehr grundlegende Methoden, Begriffe und Modelle sie gegenseitig als akzeptabel anerkennen. Ein bereits recht verbreitetes Basismodell dieser Art ist der mehrdimensionale Politikbegriff aus policy, politics und polity: In der Policy-Dimension (von public policy = öffentliches Handeln) geht es um inhaltliche Politiken, speziell um die Suche nach optimalen allgemeinwohlorientierten Lösungen. In der Politics-Dimension werden Interaktionsprozesse zwischen politischen Akteuren untersucht, wobei Variablen wie Akteurinteressen, Wertorientierungen, Weltsichten/Ideen, Akteurkonstellationen und Interaktions- bzw. Kommunikationsformen eine Rolle spielen. In der Polity-Dimension schließlich sind institutionell-politische Systeme, beispielsweise Demokratie- und Autokratieformen, von Bedeutung.

Jede dieser Dimensionen kann politikanalytisch zentral gestellt werden. So lassen sich prozessanalytisch auch Systemvariablen (Beispiel: Verantwortungsstrukturen) und Policy-Variablen (Beispiel: Umsetzung eines politischen Programms) darauf hin untersuchen, wie sie in einem zu erklärenden Prozess wirken. Sollen dagegen Governance-Strategien vergleichend beurteilt werden (Vergleichende Governance-/Policyanalyse), können auch Prozessaspekte in die eurteilung einbezogen werden. Der mehrdimensionale Politikbegriff führt so zu einer geweiteten, reflexiven Variablensicht: Politik lässt sich in unterschiedlichen Sichtweisen analysieren; diese Sichten können sich gegenseitig anregen, unter Umständen aber auch in prekärer Weise ineinander übergehen (Genaueres siehe in Prittwitz 2007).  

 

Politikberatung

Wer über theoretische und methodische Grundlagen wissenschaftlicher  Politikanalyse verfügt und sich in einen speziellen Gegenstand einarbeitet, ist für Politikberatung qualifiziert. Politikanalytisch versierte Politikberater/innen können mit Spezialisten anderer Professionen, beispielsweise Fachjuristen oder Fachökonomen, durchaus mithalten; ja sie haben sogar besondere Analysekompetenzen, die häufig besonders wertvoll sind. Politikbezogene Analysekompetenzen werden allerdings in der Regel instrumentell nachgefragt, wobei sich Akteure mit Macht und/oder Geld für ihre Zwecke Analysekompetenzen sichern. Machtnahe Analyse kann sich daher vergleichsweise leicht, machtferne Analyse vergleichsweise schwer finanzieren. Immerhin haben Politikberater/innen, die Minderheitspositionen vertreten, die Chance, mit wachsendem Einfluss und schließlicher Mehrheitsübernahme ihrer Position bezahlte Aufträge zu bekommen.   

 

Andere Analyseformen

Wird Analyse als modellgestützte Auflösung und Rekombination von Gegenständen verstanden, ist sie nicht auf wissenschaftliches Analysieren beschränkt. Modellgestützt aufgelöst und neu kombiniert werden können Gegenstände vielmehr auch in anderen Medien, so im praktischen Alltag, im Journalismus, Kunst und Unterhaltung. Dies gilt gerade auch für den Gegenstandsbereich der Politik: Politische Akteure analysieren laufend die politische Situation, wobei sie meist unbewusst Modelle und Methoden anwenden, die ihnen angemessen erscheinen. Journalistische Politikanalyse besteht darin, dass  professionelle Hersteller und Vermittler von Öffentlichkeit tagesaktuell erscheinende Information erfassen, interpretieren, analysieren und verbreiten. Auch dabei werden Politikmodelle üblicherweise verdeckt oder unbewusst genutzt.

Politische Bildung kann ihre Ziele, beispielsweise die Förderung vitaler Demokratie und offener Gesellschaft, nicht allein durch die Vermittlung von Kenntnissen über Politik erreichen. Vielmehr muss sie vor allem ihre Adressaten in die Lage versetzen, Politik selbständig vernünftig analysieren zu können. Kunst und Unterhaltung, beispielsweise Karikaturen, Comics oder Comedy/Kabarett, bilden besondere politikanalytische Medien. Dabei geht es kaum um allgemeine Erkenntnis oder aktuelle Informationsvermittlung, sondern primär um besondere Formen der Auflösung und Rekombination. Diese Formen können sogar in Gegensatz zu Zielen klassisch erkennender Analyse treten (ästhetische, emotionale, witzige, verfremdende Auflösung).

Alle politikanalytischen Medien tendieren dazu, sich nach ihren eigenen Kriterien weiter zu entwickeln. So geht die wissenschaftliche Politikanalyse, ihrerseits differenziert in Subdisziplinen, in für sie typischen  Formen vor; Journalisten versuchen, ihre besonderen Zugänge und Darstellungsformen von Politik zu pflegen und Künstler entfalten ihre eigene Kunst. Trotz dieser Selbstreferentialität gibt es auch zwischen den unterschiedlichen politikanalytischen Medien Beziehungen. So regt die journalistische und künstlerisch unterhaltende Politikanalyse nicht selten die wissenschaftliche Beschäftigung mit Politik an. Andererseits breiten sich wissenschaftliche Analysemodelle nicht selten auch in der öffentlichen Verwaltung, der praktischen Politik und und deren journalistischer Wahrnehmung aus. Nicht nur in einzelnen politikanalytischen Medien, sondern auch im Verhältnis zwischen ihnen lässt sich also Spannendes entdecken.

 

Lehrprogramm Politikanalyse

Politikanalyse kann und sollte in ihren unterschiedlichen Formen vermittelt werden. Hierzu reicht das bisherige Studienangebot der Politikwissenschaft nicht aus. Denn Politikwissenschaft erfüllt die Anforderungen wissenschaftlicher Politikanalyse, vor allem durch ihre massiven Defizite empirisch überprüfbarer Theorie, bisher nur partiell. Vor allem aber gibt es hier keine systematische Lehre journalistischer, künstlerisch-unterhaltender und anderer spezieller Formen von Politikanalyse.

Angesichts dessen fordere ich die Gemeinschaft der Politikwissenschaftler/innen mit ihren Verbänden, insbesondere der DVPW, dazu auf, sich ernsthaft mit dem Konzept der Politikanalyse und möglichen Folgerungen für den Aufbau politikwissenschaftlicher Lehre zu beschäftigen. Politikanalyse in den skizzierten unterschiedlichen Medien bzw. Formen kann meines Erachtens aber auch außerhalb der Politikwissenschaft anregend gelehrt werden. Möglicherweise eignen sich dafür journalistische Organisationen und Kunsteinrichtungen sogar, soweit es die entsprechende Politikanalyse angeht, besonders gut.

Generell halte ich es für besonders anregend, sich mit aktuellen politischen Konflikten und Herausforderungen zu beschäftigen: Nur wer sich für etwas interessiert und sich entsprechend Hintergrundwissen verschafft, kann wach analysieren. Dies gilt für journalistische und künstlerisch-unterhaltende Medien, aber auch für die Wissenschaft: Neue praktische Herausforderungen haben wissenschaftliche Entdeckungen und Weiterentwicklungen schon oft gefördert. Warum sollte es im Feld der Politikanalyse anders sein?

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Literatur/Links:

Politische Vierteljahresschrift (PVS), Ausgabe 3, September 2009

Popper, Karl (1934): Logik der Forschung, Wien: http://www.ploecher.de/2006/11-PA-G1-06/Popper-Logik-der-Forschung-kurz.pdf ; http://de.wikipedia.org/wiki/Logik_der_Forschung

Karl Popper Lesebuch, hrsg. von David Miller (1995), Tübingen (UTB 2000)

Prittwitz, Volker von (2007): Vergleichende Politikanalyse, Stuttgart (UTB 2871) http://www.luciusverlag.com/shop/product_info.php/info/p9666_Vergleichende-Politikanalyse.html/XTCsid/1e813b66183f2d70f0b86daa9c393c2f)

Prittwitz, Volker von (1994): Politikanalyse, Opladen (UTB 1707)

Wikipedia-Stichwort Analyse: http://de.wikipedia.org/wiki/Analyse

Website Politikanalyse: www.volkervonprittwitz.de