Volker von Prittwitz

 

Anders wählen

Vom widersprüchlichen Als-Ob

zur Personalisierten Verhältniswahl

 

Nach dem geltenden Bundeswahlgesetz können zu viele Stimmen für eine Partei zu einem Mandatsverlust dieser Partei führen (Negatives Stimmgewicht). Die Artikel, die die Entstehung dieses paradoxen Phänomens zulassen, erklärte das Bundesverfassungsgericht im Juli 2008 für verfassungswidrig.[1] Der Bundestag hat bis zum 30. Juni 2011 eine entsprechende Neufassung des Wahlgesetzes zu verabschieden.

Zur Lösung des Problems schlägt der Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim vor, überhängige Direktmandate auf Länderebene bei der bundesweiten Verteilung von Listenplätzen einer Partei zwingend zu berücksichtigen. Fallen in einem Bundesland mehr Direktmandate als Listenplätze an, so sollen die Landeslisten der betreffenden Partei in anderen Bundesländern entsprechend weniger Mandate erhalten; die prinzipielle Abgeordnetenzahl im deutschen Bundestag von 598 würde dann in jedem Fall eingehalten.[2] Dieses Augsburger Zuteilungsverfahren verstärkt allerdings die Komponente der Mehrheitswahl. Mit dem Verfahren würde die gängige Behauptung, in Deutschland bestehe ein Verhältniswahlrecht, noch fragwürdiger als bisher. Vor allem aber dürften die kleineren und mittleren Parteien (Linke, FDP, Grüne) sowie die überwiegend das Verhältniswahlprinzip favorisierende SPD eine solche Veränderung politisch nicht mittragen. Eine Bundestagsmehrheit für dieses Zuteilungsverfahren erscheint daher unwahrscheinlich.

Die Suche nach einer Lösung des Problems kann allerdings auch als Chance begriffen werden. Widersprüchliche Regelungen lassen sich nämlich am besten in einem klaren, wählerfreundlichen Wahlsystem ausschließen. So könnten mit der Beseitigung negativer Stimmgewichte auch andere Widersprüche und Schwächen des bestehenden Wahlsystems behoben und ein wählerfreundliches Wahlrecht verabschiedet werden. Dieses Vorgehen setzt Alternativen voraus. Im Folgenden wird eine solche Alternative dargestellt, die Personalisierte Verhältniswahl. Diese ist, anders als das bisherige Wahlsystem, einfach und klar aufgebaut; sie wird Anforderungen repräsentativer Verhältniswahl gerecht und führt zu einer eindeutigen Rollenteilung: Während die Parteien die Kandidaten aufstellen, entscheiden die Wähler darüber, welche Kandidaten ins Parlament einziehen. 

1. Wie sich Wahlsysteme beurteilen lassen

In Wahlsystemen ist geregelt, worüber Wähler entscheiden können,  wie sie wählen können und wie Wählerstimmen in Mandate umgerechnet werden. Diese Regelungen lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien beurteilen, so Strukturen, Funktionen und besonderen Interessen.

Strukturell stehen einander idealtypisch Verhältniswahl und Mehrheitswahl gegenüber: Während in Verhältniswahlsystemen Wählerstimmen möglichst proportional in Abgeordnetenmandate umgerechnet werden, geht es in Mehrheitswahlsystemen primär darum, die Bildung stabiler Regierungsmehrheiten zu fördern. Hierbei dominieren disproportionale Umrechnungsformen. Mit dieser Gegenüberstellung werden zwei unterschiedliche Funktionen von Wahlsystemen hervorgehoben, eine möglichst proportionale Repräsentation (Repräsentationsfunktion) und die Förderung politischer Konzentration beziehungsweise Stabilität (Konzentrationsfunktion). Weitere Funktionen sind möglichst große Wählerkompetenzen (Partizipationsfunktion),  Einfachheit und Klarheit eines Wahlsystems (Handhabbarkeit) sowie die Verträglichkeit mit institutionellen Rahmenbedingungen. Wer Wahlsysteme realistisch beurteilen will, muss aber auch besondere Interessen an Wahlsystemen berücksichtigen, so Interessen bestimmter Parteien oder Funktionsträger an Machterhalt oder Machtgewinn.

Zwischen diesen Beurteilungskriterien bestehen diverse Wechselbeziehungen. So stehen die Repräsentations- und die Konzentrationsfunktion in prinzipiellem Gegensatz zueinander. Auch Partizipation und Handhabbarkeit können sich gegenseitig erschweren. Größere Regierungsparteien versuchen häufig, ihre Macht mittels Mehrheitswahlsystemen zu stabilisieren, während kleinere Parteien eher an Verhältniswahlsystemen interessiert sind. Unter den OECD-Ländern haben in den letzten Jahrzehnten allerdings Verhältniswahlsysteme an Einfluss gewonnen. So sind selbst in Großbritannien, das als Mutterland der Mehrheitswahl gilt, Elemente der Verhältniswahl auf dem Vormarsch.[3] Und auch in der größten Demokratie der Welt, Indien, das bislang ein modifiziertes Mehrheitswahlsystem hat, werden zunehmend Modelle der Verhältniswahl diskutiert.[4]  

2. Das geltende Wahlsystem zum deutschen Bundestag

Die Abgeordneten des deutschen Bundestags werden bisher nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt.[5] Von den Abgeordneten werden 299 nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen (qua Erststimme) und die übrigen nach Landeswahlvorschlägen der Parteien (qua Zweitstimme) gewählt. Erreicht eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, behält sie diese als Überhangmandate ohne Ausgleich für andere Parteien. Wie viele Überhangmandate einzelnen Bundestagsparteien zukommen, errechnet sich im Verhältnis zwischen den Zweitstimmenanteilen (Landeslisten) und Überhangmandaten der einzelnen Parteien auf Länderebene.

Dieses Wahlsystem, das häufig verkürzt als Personalisierte Verhältniswahl bezeichnet wird, galt lange Zeit als ein Stabilitätsfaktor der Bundesrepublik. Denn Jahrzehnte lang verlief die Regierungsbildung, im internationalen Vergleich betrachtet, relativ problemlos; durchweg kamen Mehrheitsregierungen mit wenigen Koalitionspartnern, einmal (1957-1961) eine Regierung mit absoluter Mehrheit zustande. Zudem beteiligte sich die Bevölkerung in den ersten Jahrzehnten der Republik in sehr hohem Maße an Bundestagswahlen - bis hin zur Spitzenbeteiligung von 91,2% in der Willi-Brandt-Wahl 1972. Seit der Wiedervereinigung hat sich die Situation allerdings kompliziert: Die Bildung funktionierender Regierungskoalitionen ist schwieriger geworden, da die postkommunistische Linke regelmäßig ins Parlament gewählt, bisher von den anderen Parteien aber auf Bundesebene nicht als koalitionsfähig betrachtet wird. Zudem hat die Wahlbeteiligung an Bundestagswahlen wie bei Europawahlen annähernd kontinuierlich abgenommen (Bundestagswahl 2008: 70,8%; Europawahl 2009: 43,3%).[6] 

Repräsentative Verhältniswahl?

Dass der Lack ab ist vom geltenden deutschen Wahlsystem, soweit es unkomplizierte Regierungsbildung und sehr hohe Wahlbeteiligung betrifft, mag zu verschmerzen sein. Nicht hinnehmbar allerdings erscheinen schwere Repräsentativitätsmängel dieses Wahlsystems. Dies beginnt mit der vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffenen Problematik der negativen Stimmgewichtung: Droht oder entsteht, resultierend aus der widersprüchlichen Verrechnung von Überhangmandaten zwischen unterschiedlichen Länderlisten jeweiliger Parteien, ein Mandatsverlust durch zu viele Wählerstimmen, erhalten diese Stimmen negativen Erfolgswert. Dieser Nonsens beschäftigte die Öffentlichkeit wochenlang anlässlich einer Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 in Dresden.[7] Er ist aber kein Einzelfall, sondern kann im geltenden Regelungssystem jederzeit auftreten.[8]

Auch unabhängig von der Problematik negativer Stimmgewichte bedeuten Überhangmandate ungleiche Erfolgswerte von Wählerstimmen. Denn eine Wählerstimme für eine Partei, die keine Überhangmandate erreicht, ist weniger erfolgsträchtig als eine Wählerstimme für eine Partei mit Überhangmandaten. Überhangmandate kommen zudem durch relative Mehrheitswahl zustande, bei der die Stimmen für alle Kandidaten, die keinen Sitz erhalten, verfallen. Diese doppelte Disproportionalität der Stimmenverrechnung erschien solange als Randproblem, wie große Volksparteien hohe Zweitstimmenanteile erhielten. Mit dem inzwischen entstandenen Fünf-Parteien-System hat sich dies aber geändert: CDU, CSU und SPD gewinnen zwar immer noch einen großen Anteil an Direktmandaten; ihr Zweitstimmenanteil hat sich aber deutlich reduziert – siehe etwa die CDU/CSU auf 33,8%, die SPD gar auf 23, 0% bei der Bundestagswahl 2008. Damit werden Überhangmandate zur Regel;  vor allem aber fallen sie in einer Größenordnung an, in der sie über alternative Regierungsmehrheiten entscheiden können, ein fundamentales Legitimationsproblem angesichts der herrschenden Behauptung, es handele sich um ein Verhältniswahlsystem.

Ungleiche Erfolgswerte von Wählerstimmen ergeben sich schließlich, wie seit Jahrzehnten diskutiert wird, durch die 5%-Hürde der Stimmenverrechnung und die Grundmandatsklausel, nach der drei errungene Direktmandate die 5%-Hürde für eine Partei wieder aufheben. Dass Wählerstimmen für Parteien verfallen, die die 5%-Hürde nicht überspringen, gilt allerdings für alle Parteien gleichermaßen und ist wahlsystematisch im Sinne von Parteienkonzentration und Stabilität beabsichtigt. Durch die Grundmandatsklausel können dagegen Parteien mit höherem Zweitstimmenanteil diskriminiert werden. So erhält beispielsweise eine Partei, die 4,9 der Wählerstimmen und zwei Direktmandate erhält, nur diese beiden Direktmandate; eine Partei mit 3 Prozent Zweitstimmenanteil und 3 Direktmandaten zieht demgegenüber mit 18 Abgeordneten ins Parlament ein.

Ungleiche Stimmwerte erhalten Wählerstimmen nach dem geltenden Wahlgesetz schließlich durch zugelassene Abweichungen der Wahlkreisgröße. So variiert die Zahl Wahlberechtigter in Wahlkreisen bis zu 15% regulär; selbst Abweichungen bis zu 25% können zeitweise hingenommen werden.[9] Wählerstimmen in bestimmten Wahlkreisen, beispielsweise Wahlkreisen auf dem Land mit geringerer Bevölkerungsdichte, können damit deutlich mehr wert sein als Wählerstimmen in anderen, etwa urbanen Wahlkreisen mit hoher Bevölkerungsdichte.

  Wählerkompetenzen

Im gegebenen Wahlsystem können sich die Wähler mit ihrer Erststimme zwischen Direktwahlkandidaten unterschiedlicher Parteien und mit ihrer Zweitstimme zwischen vorgegebenen (starren) Parteienlisten entscheiden. Eine Auswahl zwischen unterschiedlichen Kandidaten einer Partei ist nicht möglich. Dabei kann ein Direktwahlkandidat, der nicht gewählt ist, dennoch über seine Parteienliste ins Parlament einziehen, eine Option, die dem Wählerwillen widerspricht. Angesichts dessen erscheint es beschönigend, von einer personalisierten Wahl zu sprechen.  

Klarheit

Die Bewertung des bestehenden Wahlsystems nach dem Kriterium der Klarheit fällt besonders eindeutig aus: Bereits die Bedeutung von Erst- und Zweitstimme kennen viele Wahlberechtigte nicht. Dementsprechend ist es zu einer Routine der Medien geworden, in den Wochen vor einer Wahl das geltende Zwei-Stimmen-System immer wieder aufs Neue zu erklären zu suchen. Speziellere Wahlsystem-Regelungen wie Überhangmandate und Grundmandate werden verschiedentlich dabei auch skizziert, sind aber nur sehr wenigen Wahlberechtigten vertraut. Details der länderbezogenen Verrechnung von Listen und Überhangmandaten schließlich sind selbst für Multiplikatoren ein Buch mit sieben Siegeln. Wirklich klar ist an dem gegebenen Wahlsystem nur eines, seine Unklarheit, ein Desaster an Wählerunfreundlichkeit.

Zusammenfassung

Das bisher geltende Wahlsystem in Deutschland wird zwar häufig als  Personalisierte Verhältniswahl bezeichnet; es wird dieser Bezeichnung inhaltlich aber nicht gerecht: Weder ist es ein klares Verhältniswahlsystem noch zeichnet es sich durch hohe  Personalisierungskompetenz der Wählers aus. Zudem ist das System widersprüchlich und wenig transparent. Das Auftreten negativer Stimmgewichte stellt also nur das I-Tüpfelchen auf einem wenig wählerfreundlichen, in vieler Hinsicht widersprüchlichen Wahlsystem dar. 

 

2. Alternativen

Angesichts der massiven Widersprüche und Schwächen des geltenden Wahlsystems sollte eine Alternative entwickelt und verabschiedet werden. Als solche kommen im Besonderen das Augsburger Zuteilungsverfahren und die Personalisierte Verhältniswahl in Frage. 

2.1 Das Augsburger Zuteilungsverfahren (Direktmandatsbedingte Divisormethode mit Standardrundung)

Zur Beseitigung der negativen Stimmgewichte hat der Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim eine verschiedentlich als elegant bezeichnete rechnerische Lösung entwickelt.[10] Ausgangspunkt dafür ist die Feststellung, dass die Zahl der einer Partei zustehenden Mandate nach Divisoren bestimmt wird, ohne die Zahl ihrer anfallenden Direktmandate zu berücksichtigen. Damit können sich negative Stimmgewichte ergeben Demgegenüber schlägt Pukelsheim vor, die bundesweite Divisorenregelung und die Regelung der landesweiten Überhangmandate zusammen zu führen. Das sich ergebende Reformkonzept nennt er direktmandatsbedingte Divisormethode mit Standardrundung. Demnach erhält jede Landesliste so viele Sitze, wie sich nach Teilung der Summe ihrer im Wahlgebiet erhaltenen Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdivisor und Rundung ergeben, mindestens aber die Zahl ihrer in den Wahlkreisen errungenen Sitze. Direktmandate auf Landesebene bleiben damit in jedem Fall erhalten. Erreicht eine Partei in einem Land mehr Direktmandate, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zukommen, werden diese zusätzlichen Mandate bei der Bestimmung des Bundesdivisors berücksichtigt, nach dem Mandate auf die Landeslisten verteilt werden: Da nun weniger Mandate frei zu verteilen sind, erhöht sich dieser Divisor. Dementsprechend weniger Mandate erhalten Landeslisten der betreffenden Partei in anderen Bundesländern. Überhängige Direktmandate in einzelnen Bundesländern werden also mit Listenplätzen der jeweiligen Partei im Bundesmaßstab verrechnet, so dass die prinzipielle Abgeordnetenzahl im deutschen Bundestag von 598 in jedem Fall eingehalten wird.

Strukturell bedeutet Pukelsheims Konzept einen Schritt in Richtung eines Mehrheitswahlsystems. Denn Überhangmandate sollen nun auf Bundesebene nicht mehr zusätzlich anfallen, sondern in die Gesamtzahl von 598 Mandaten zu Lasten von Listenplätzen eingerechnet werden. Damit verringert sich das Gewicht der qua Zweitstimme und Verhältniswahlprinzip bestimmten Listenplätze zugunsten der auf Landesebene qua Mehrheitswahl bestimmten Überhangmandate. Dies schließt auch entsprechende Disproportionen zwischen Bundesländern mit mehr oder minder vielen Überhangmandaten ein. Mit dem Verfahren käme es zu einer symbolischen Verschiebung in die öffentlich kaum zu rechtfertigende Richtung der Mehrheitswahl: Während in den OECD-Ländern proportionale Verhältniswahlsysteme in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben und weiter gewinnen, würde Deutschland damit in Richtung eines Mehrheitswahlsystems zurück geworfen. Vor allem aber ist angesichts der damit weiter wachsenden Disproportionalität der Stimmenverrechnung keine Bundestagsmehrheit für das Zuteilungsverfahren zu erwarten.  

2.2 Die personalisierte Verhältniswahl

Anders als im bisherigen Sprachgebrauch der politischen Bildung, steht Personalisierte Verhältniswahl hier für ein widerspruchsfreies Verfahren klarer Verhältniswahl und Personenwahl. Das Modell wurde in einer Kombination aus Regelungen des bisherigen deutschen Wahlsystems und Regelungen des finnischen Wahlsystems entwickelt. 

Verfahren

Auf den ersten Blick gleicht das vorgeschlagene neue Verfahren dem bisher gültigen: Wie bisher hat der deutsche Bundestag 598 Abgeordnete, wie bisher wird in 299 Wahlkreisen gewählt. Wie bisher entsendet jeder Wahlkreis einen Wahlkreissieger ins Parlament, der mit relativer Stimmenmehrheit gewählt ist. Wie bisher erhält jede Partei so viele Parlamentsmandate, wie ihr nach ihrem bundesweiten Stimmenanteil zustehen. Und auch die bundesweite 5%-Hürde der Stimmenverrechnung wird übernommen.

Die Stimmgebung ändert sich allerdings: Jeder Wähler hat nun eine Stimme zur Verfügung, mit der ein Kandidat einer bestimmten Partei und damit diese Partei gewählt werden kann. Die Differenzierung in Erst- und Zweitstimme entfällt, damit auch die Institution starrer, dem Wähler vorgegebener Parteienlisten.

Welche Kandidaten einer Partei ins Parlament einziehen, ergibt sich aus ihrem Stimmenanteil im Wahlkreis und der Abgeordnetenzahl der Partei. Stellt beispielsweise Partei X 100 Abgeordnete und 40 Wahlkreissieger, so erhalten neben den Wahlkreissiegern die 60 Parteikandidaten ein Mandat, die im innerparteilichen Wahlkreisvergleich die höchsten Stimmanteile in ihren Wahlkreisen erreicht haben.  

Dass bei dieser Regelung Überhangmandate anfallen, ist äußerst unwahrscheinlich. Denn hierzu müsste die Zahl der Wahlkreissieger einer Partei im gesamten Wahlgebiet (Deutschland: Im Bund) höher sein als die Abgeordnetenzahl, die der Partei nach ihrem bundesweiten Stimmenanteil zusteht. Dies bedeutet einen mehr als doppelt so hohen Anteil der Wahlsieger der Partei an allen Wahlkreisen (299) wie Stimmenanteil der Partei im Gesamtgebiet (für 598 Abgeordnete). Zudem gehen die Stimmen für die Wahlkreissieger in die Wählerstimmensumme jeder Partei ein; der Stimmenanteil einer Partei mit Überhangmandaten müsste also in den Wahlkreisen, in denen sie keine Wahlsieger stellt, extrem niedrig liegen. Siehe folgendes Beispiel: Eine Partei Y erreicht ca. 20% der Wählerstimmen und stellt dementsprechend 120 von 598 Bundestagsabgeordneten.  Ihre Kandidaten siegen in über 41% der Wahlkreise, das heißt 123 von 299 Wahlkreisen, mit einem durchschnittlichen Stimmenanteil von 40%. Hierzu dürfte der Stimmenanteil der Partei in den 60% der Wahlkreise, in denen sie keine Wahlsieger stellt, durchschnittlich nicht höher als 6,7% liegen. Mit jedem weiteren Wahlkreissieger würde sich diese Prozentzahl noch weiter verringern!

Sollten trotz alledem doch einmal Überhangmandate bei einer Partei anfallen, so verbleiben ihr diese ohne Ausgleich für die anderen Parteien.

Die Wahlkreise sollen gleich viele Wahlberechtigte umfassen. Hierzu wird die Zahl der Wahlberechtigten 18 Monate vor der Wahl gebietsbezogen erhoben oder abgeschätzt. Spätestens alle 8 Jahre sind hierzu aktuelle Daten zu verwenden. Aufgrund der jeweils vorliegenden Daten legt der Bundeswahlleiter spätestens 12 Monate vor der Wahl die Wahlkreise fest.

Nach erfolgter Wahl werden die Wählerstimmen in den Wahlkreisen ausgezählt und die Stimmanteile der einzelnen Kandidaten beziehungsweise Parteien in den Wahlkreisen ermittelt. Anhand der summierten Wählerstimmen ergeben sich die Stimmanteile der Parteien im gesamten Wahlgebiet (Bund) und die Zahl der Abgeordnetenmandate, die auf die einzelnen Parteien fallen. Hierbei ist die 5%-Hürde der Stimmenverrechnung zu berücksichtigen. Die Wählerstimmen werden nach der hochgradig proportionalen divisorgestützten Rundungsmethode nach Saint-Lague in Mandate umgerechnet.[11] Für die einzelnen Parteien, die ins Parlament gelangt sind, wird eine Vergleichsliste der Stimmanteile ihrer Wahlkreiskandidaten erstellt. Aus dieser lässt sich unmittelbar ersehen, welche Kandidaten ins Parlament einziehen. 

Eigenschaften und Wirkungen des Verfahrens

Anders als das bisherige deutsche Wahlsystem, verdient das Wahlmodell die Bezeichnung Personalisierte Verhältniswahl. Denn, abgesehen von der notwendigen 5%-Hürde, werden danach Wählerstimmen strikt proportional in Mandate umgerechnet. Und die von den Parteien aufgestellten Kandidaten werden persönlich von den Wählern gewählt.

Das Einstimmen-Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl ist denkbar einfach. Die Wähler machen ein Kreuz bei dem Kandidaten der Partei, die sie favorisieren. Verwechslungen zwischen Erst- und Zweitstimme sind ausgeschlossen. Auch lassen sich die Wählerstimmen und Mandatszahlen der einzelnen Parteien auf Bundesebene leicht errechnen. Denn es gibt keine länderbezogenen Überhangmandate und Verrechnungsprobleme zwischen Landeslisten, mehr. Vielmehr werden die parteibezogenen Wahlergebnisse direkt auf der Bundesebene summiert und eindeutig in Bundestagsmandate umgerechnet. Auch die Stimmanteile der einzelnen Kandidaten lassen sich in schlichter, aber ergreifender (denn mandatsbestimmender) Rangfolge ablesen.

Schließlich fördert die Personalisierte Verhältniswahl voraussichtlich die Motivation zur Wahlbeteiligung. Denn nun kommt nicht nur der – oft bereits klar absehbare – Wahlkreissieger ins Parlament. Auch Wahlkreiskandidaten anderer Parteien können sich durchsetzen, wenn sie im innerparteilichen Kandidatenvergleich gut abschneiden. Dementsprechend werden sich die Kandidaten voraussichtlich noch mehr im Wahlkampf und damit für die Demokratie engagieren. Denn es gibt keine Parteilisten mehr, die gut platzierte Parteimitglieder weitgehend unabhängig vom Volkswillen ins Parlament bringen. Vielmehr müssen sich alle Kandidaten allgemeinen Wahlen stellen, haben aber auch eine reelle Chance gewählt zu werden. 

3. Wahlsystemkontroversen und Wahlsystemreform

Die meisten Menschen betrachten Wahlrecht als rechtstechnisch vorgegeben und nicht kritikfähig. Zudem führt die Macht der Gewohnheit dazu, bestehendes Wahlrecht nicht in Frage zu stellen; Wahlsysteme gelten häufig sogar als Teil identitätsstiftender politischer Kultur. Dementsprechend haben sich Wahlrechtsformen in vielen Ländern Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte lang gehalten, auch wenn sie widersprüchliche und anachronistische Regelungen enthalten. Grundlegend geändert oder neu gebildet wird Wahlrecht noch am ehesten nach tiefgehenden Umbrüchen beziehungsweise als Startsymbol für eine neue Republik. 

Dennoch vollziehen sich in vielen Ländern, gerade auch in leistungsfähigen Wohlfahrtsstaaten, immer wieder zumindest graduelle Weiterentwicklungen des Wahlrechts.[12] Dabei fließen in aller Regel Anregungen aus anderen Ländern ein. Vor allem aber bildet sich eine, verschiedentlich durch Expertenkommissionen gestützte, Kontroverse zu Fragen heraus wie: Ist es im Sinne der Allgemeinheit vernünftig, das bestehende Wahlrecht zu ändern? Welcher Wahlsystemvorschlag entspricht den aktuellen und für die Zukunft absehbaren Anforderungen des Landes am besten? Was kann getan werden, um einen vernünftigen Vorschlag zur  Wahlsystementwicklung bekannt und breit akzeptabel zu machen?

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Autor: Prof. Dr. Volker von Prittwitz

Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft

Freie Universität Berlin

Email: vvp@gmx.de

Homepage: www.volkervonprittwitz.de


 


[1] § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 Bundeswahlgesetz. Zur Pressemitteilung des BVG siehe: http://www.bverfg.de/pressemitteilungen/bvg08-068.html

[2] http://www.math.uni-augsburg.de/stochastik/pukelsheim/2008Berlin/VorschlagBWahlG.pdf

[3] http://www.historylearningsite.co.uk/proportional_representation.htm

[4] http://www.scribd.com/doc/20355033/C-E-R-I-Introduction

[5] Artikel 1 Bundeswahlgesetz

[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Wahlbeteiligung#Bundestagswahlen; http://de.wikipedia.org/wiki/Europawahl

[7] Nachwahl im Bezirk Dresden 1, 14 Tage nach der Bundestagswahl

[8] http://www.wahlrecht.de/news/2009/08.htm

[9] Artikel 3, Absatz 1, Punkt 3 Bundeswahlgesetz: http://www.gesetze-im-internet.de/bwahlg/__3.html

[10] http://www.math.uni-augsburg.de/stochastik/pukelsheim/2008Berlin/VorschlagBWahlG.pdf

[11] http://de.wikipedia.org/wiki/Sainte-Lagu%C3%AB-Verfahren

[12] Zum gesamtsystemischen Überblick für West- und Osteuropa siehe Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas Wiesbaden 2009 (4. Aufl.) und: Die politischen Systeme Osteuropas 2009 (3. Aufl.).