626 Abgeordnete zählt das europäische Parlament - das habe ich
gerade wieder einmal schmerzlich erfahren. Denn nur zu schnell lernt man hier
den "Kopieren-Sie-das-doch-mal-schnell-für-alle-Kollegen-und-verteilen-Sie-es-dann"-Auftrag
kennen und lieben; verspricht er doch mindestens zwei Stunden Spaß und
Spannung an einem der wenigen und umso heißbegehrteren Kopierer und in
der Poststelle des Parlaments. Im Anschluß winkt dann das Abholen der
eigenen Post - Tagesordnungen, Protokolle, Lobbyistenbriefe und Einladungen,
die sich in viel zu kurzen Abständen zu viel zu dicken Stapeln summiert
haben. Alltag als studentische Hilfskraft am europäischen Parlament.
Solch intensive Einblicke in das europäische Getriebe hatte ich dann doch
nicht erwartet, als ich mich mit einem ERASMUS-Stipendium im Gepäck Mitte
September auf den Weg nach Straßburg machte. Denn eigentlich versuchte
ja die Université Robert Schuman mit einem dicken Paket von Vorlesungen
und Prüfungsstreß zum "Diplome des études juridiques
françaises" zu locken. Doch was waren so süße
Verlockungen gegen das -unter Einsatz einiger Telefonkarten schließlich
errungene- Angebot einer Abgeordneten, ihr über neun Monate hinweg
über die Schulter zu schauen?
Mitte September 1995 also stand ich zum ersten Mal in der Sicherheitsschleuse des Parlaments. Der erste Eindruck dahinter war etwas verblüffend. Umzugskisten auf engen Fluren, Büros, in die kaum zwei Schreibtische zu quetschen sind, ein Plenarsaal, in den den nicht einmal alle Abgeordneten passen - wo war denn hier die immer wieder angefeindete "Luxusbürokratie" Europas, wo blieben die angeblich doch viel zu sprudelnden Steuermillionen? Nicht in Straßburg, soviel stand jedenfalls schnell fest. Vielleicht auf der Strecke zwischen Brüssel und hier - dem (von den nationalen Regierungen gerade erst 1992 wieder beschlossenen) Arbeitshindernis Nummer eins für funktionierende Parlamentsarbeit. Denn tatsächlich tagen die Abgeordneten nur fünf Tage im Monat in der elsäßischen Kapitale - um anschließend nach Brüssel zurückzukehren und dort Rat und Kommission direkt auf die Finger zu schauen. Mit auf die Reise müssen Akten und Computer, Dokumente und Angestellte. "Europareise" als lebensechtes Simulationsspiel. Mit erzwungener Konsequenz richtet sich das Parlament in diesem Provisorium ein und erweitert in Straßburg und Brüssel zugleich seine jeweiligen Gebäude. Vielleicht eines der deutlichsten Symbole für das Europa im Werden, seine Zerissenheit zwischen nationalen Ansprüchen und dem Traum einer europäischen Demokratie.
Schön bunt und recht hektisch
Wie aber sieht er nun aus, der Blick über die Abgeordnetenschulter?
Schön bunt und recht hektisch - um es kurz auf zwei Nenner zu bringen.
Hektisch, weil sich Besprechungen und Sitzungen unaufhörlich hinter-
und übereinanderreihen: Vom Rechtsausschuß schnell zur
Gruppensitzung, dazwischen kurz die Zwei-Minuten-Rede im Plenarsaal zur neuen
Gentechnik-Verordnung der Kommission vorbereiten; hinterher wartet schon der
Lobbyist der Pharmaindustrie vor dem Büro und wirbt mit farbigen Slogans
und Hochglanzbroschüren für "Deregulierungen" angsichts
der Gefahrlosigkeit gentechnischer Produkte. Dazu kommt ein dickes Fax aus dem
baden-württembergischen Heimatbüro mit Anfragen von Besuchergruppen
und besorgten Bürgern. Die halten dann wieder mich in Atem, denn wer
kennt schon mal so eben die Förderbedingungen für Agrarbetriebe im
Hohenlohekreis? Und wo nähere Informationen zum Förderprogramm
"Europa eine Seele geben" zu bekommen sind, würde nicht nur
eine örtliche Initiative, sondern auch ich gerne wissen...
Bunt machen den grauen Arbeitsalltag dagegen nicht nur die vielen Drucksachen,
die je nach Sprache in allen Farben des Regenbogens glänzen
("Deutsch" hat ein spritziges Zitronengelb abbekommen). Selbst die
Plenarsitzung zur "Änderung der Richtlinie 93/6/EWG des Rates
über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen"
kann im Europaparlament zu einem Erlebnis werden, denn jeder Abgeordnete redet
in seiner Muttersprache und jeweils 10 Simultandolmetscher verarbeiten seinen
Beitrag zu einem komplexen Sprachtest. Gelegenheit also zur Auffrischung der
verbliebenen Italienischkenntnisse - und auf Wunsch natürlich auch zur
Aktualisierung wertpapier-rechtlichen Wissens...
Noch gehört es freilich auch zum Alltag, mitzuerleben, wie innerhalb des
Parlaments mühsam erstrittene Kompromisse vom Rat -der Versammlung
nationaler Minister- locker vom Tisch gewischt werden. Denn schon den
Gründerstaaten der Gemeinschaften (darunter auch Deutschland) war eine
Beteiligung des Volkes an ihren umfangreichen europäischen
Gesetzgebungsmaßnahmen erstaunlich suspekt. So wird das Europaparlament
denn auch erst seit 17 Jahren direkt gewählt - bis heute oft unter
Verkennung seiner Bedeutung als einzig demokratische Instanz im
europäischen Gefüge und unter Mißbrauch der Wahlen durch
Wähler und Gewählte zu nationalen oder regionalen
Stimmungsbarometern. Es dauerte sogar bis 1993, dem Parlament zumindest in
Teilbereichen ein Vetorecht einzuräumen. Erst mehr als 40 Jahre nach der
Begründung europäischer Rechtsetzung also ließen sich die
nationalen Regierungen vom Volk auf die Fingen schauen und hauen. Da mutet es
manchmal befremdlich an, den Rückzug in eben diese nationale Sphäre
als Allheilmittel gegen europaweite Probleme empfohlen zu bekommen. Bei der
derzeit laufenden Regierungs(!)konferenz von Turin steht mit der Frage
demokratischer Einflüsse auf unsere künftige Rechtsordnung
jedenfalls weit mehr auf dem Spiel, als auf den ersten Blick wahrnehmbar ist.
Dabei geht es gerade nicht um "noch mehr Kompetenzen für
Brüssel", wie die so schön euphemistisch bezeichneten
"Euroskeptiker" weißmachen wollen. Sondern um den besseren,
den demokratischeren Umgang mit diesen Kompetenzen - um mehr Kompetenzen
für die Straßburger Volksvertreter. Ein bißchen mehr Willen
zur Macht im vertretenene Volk wäre da sicher nicht schlecht.
Angesichts solcher Mißstände in der Europademokratie tut
Aufmunterung manchmal Not. Und die gibt es auch - abends, beim Diner im
"Salon Bleu", dem Restaurant des benachbarten Europarats. Dorthin
laden Landesvertretungen und Weinbauern, Gewerk-schaftsorganisationen und
Interessengruppen gern und gern gesehen zum Sektempfang - um nebenbei mehr
oder minder geschickt für ihre Ziele zu werben. Als studentischer
Mitarbeiter bleibt man vom Lobbying glücklicherweise meist
verschont - und kann sich umso ausgiebiger den jeweiligen
Landesspezialitäten und -getränken widmen. Ein kullinarischer
Streifzug durch Europa - vom finnischen Renntierschinken bis zum
türkischen Grillbuffet. Und ganz nebenbei entdeckt man dann
plötzlich das wahre Geheimnis europäischer Verständigung: Zum
Schulterschluß mit den britischen und italienischen, spanischen und
griechischen Assistenten braucht es nichts mehr als so einen Stehimbiß,
ein bißchen Zeit - und ein Glas zum Anstoßen...
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Erstellt am 28.07.96 von Karsten Krone (alle Rechte vorbehalten) für das DeFo, letzte Änderungen am 14.4.98 von