Welche Fähigkeiten werden gemeinhin von einem Juristen erwartet?
Bei spontaner Beantwortung einer entsprechenden Frage würde
wahrscheinlich unter anderem folgendes genannt: Umgang mit Recht,
Entscheidungskompetenz und Argumentationsstärke, Objektivität,
Gerechtigkeitssinn.
Was würde man demzufolge vom Jurastudium erwarten? Daß es diese
Fähigkeiten in bestmöglicher Weise weckt und fördert. Nach
einigen Semestern eigener Erfahrung habe ich jedoch den Eindruck, daß
es diesem Anspruch besser gerecht werden könnte, als es das
gegenwärtig tut.
Um das näher auszuführen, muß ich zunächst die oben nur
schlagwortartig bezeichneten Fähigkeiten präzisieren.
Mit Recht umgehen können - das beinhaltet, Sinn und Struktur einer
Regelung zu erfassen; sie in ihren Zusammenhang einordnen können;
erkennen, worauf es ankommt, wer benachteiligt und wer begünstigt wird;
in der einzelnen Norm allgemeine Grundsätze wiedererkennen, auf die man
sie zurückführen oder an denen man sie messen kann. Dies gilt gerade
auch für die Konfrontation mit bisher unbekannten, etwa
ausländischen oder neu eingeführten Gesetzen. Von einem Juristen,
der sich nur in Bekanntem zurechtfindet und sich nicht schnell in neue Gesetze
einarbeiten kann - man denke etwa an die bevorstehende Rechtsvereinheitlichung
in der EU - wird man wohl mit Recht sagen können, er beherrsche sein
Handwerk nur schlecht.
Was folgt daraus für das Studium? Es müßte auf exemplarisches
Lernen ausgerichtet sein. Die Beschäftigung mit den wichtigsten hier und
jetzt gültigen Gesetzen müßte zugleich das Rüstzeug
für den Umgang mit anderen liefern. Demgegenüber scheint mir,
daß im Studium die jeweiligen Inhalte zu starkes Gewicht haben
gegenüber den Methoden, und daß Feinheiten zu stark betont,
Grundprinzipien dagegen vernachlässigt werden. Dies sei am Beispiel des
berühmt-berüchtigten Abstraktionsprinzips, das wohl jedem Studenten
Schwierigkeiten bereitet, verdeutlicht.
Die - soweit mir bekannt - verständlichste Darstellung findet sich nicht
in einem Lehrbuch für Jurastudenten, sondern in Uwe Wesels "Fast
alles, was Recht ist" (S. 111 f). Danach bestand der Sinn des
Abstraktionsprinzips - erläutert am Beispiel von Fabrikant,
Großhändler und Einzelhändler - bei seiner
"Erfindung" darin, den Eigentumserwerb des Einzelhändlers zu
ermöglichen, auch wenn der Kaufvertrag zwischen Fabrikant und
Großhändler fehlerhaft ist. Als später der gutgläubige
Erwerb vom Nichtberechtigten eingeführt wurde, habe es seinen Sinn
verloren, so daß es heute ein überflüssiges Relikt sei.
Soweit Wesels knappe Darstellung.
Ich finde, daß sie für den Anfänger lehrreicher ist als viele
Anfängerlehrbücher zum Allgemeinen Teil des BGB, weil sie sich auf
Grundprinzipien beschränkt und ihnen dadurch die Bedeutung einräumt,
die sie auch tatsächlich haben, und zugleich das Verständnis
für darüber hinaus gehende Fragen weckt. Wesel geht vom Sinn des
Abstraktionsprinzip aus und erläutert diesen anhand des Dritterwerbs, so
daß der Blick für die Probleme, vor die eine Privatrechtsordnung
gestellt wird, und für die Fragen, die man an sie richten kann,
geschärft wird; er stellt der vom Abstraktionsprinzip angebotenen
Lösung die denkbare Alternative des gutgläubigen Erwerbs
gegenüber, so daß vor dem Hintergrund des Vergleiches die
spezifischen Eigenheiten des Abstraktionsprinzip verdeutlicht werden; er
benennt Ungereimtheiten deutlich als solche, so daß man mit ihnen sicher
umgehen kann und nicht in Zweifel am eigenen Verstand gestürzt wird.
Die Lehrbücher von Rüthers, Brehm, Köhler und Musielak dagegen
fragen gar nicht nach dem Sinn des Abstraktionsprinzips oder nennen nur die
wenig greifbare "Sicherheit des Rechtsverkehrs".
Das Lehrbuch von Brox verwendet zwar die gleichen Elemente wie Wesel, ist aber
weit weniger gut verständlich, weil es längst nicht so prägnant
formuliert und so viele zusätzliche Einzelheiten bringt, daß ein
Anfänger das wichtigste leicht überliest.
Selbstverständlich ist Wesels Darstellung des Abstraktionsprinzip zu
einseitig und undifferenziert, als daß ein Jurist sich mit ihr
begnügen könnte. Nur: Daß für das Abstraktionsprinzip
auch systematische Erwägungen sprechen; daß letztere bei seiner
Einführung möglicherweise ein stärkeres Gewicht hatten als
die teleologischen; daß auch unter teleologischem Gesichtspunkt das
Abstraktionsprinzip nicht völlig überflüssig ist, da der
gutgläubige Erwerb nur für Sachen gilt - all diese Feinheiten kann
man sich ohne große Mühe erarbeiten, wenn man erst einmal das
Prinzip verstanden hat. Dagegen bringt es gar nichts, mit Einzelheiten
überschüttet zu werden, ohne daß jemals die Grundlagen klar
und eingängig herausgearbeitet werden.
Entscheidungskompetenz und Argumentationsstärke - damit meine ich die
Fähigkeit, befriedigende, nachvollziehbare Entscheidungen zu fällen
und sie überzeugend zu begründen. Beides gehört untrennbar
zusammen, denn befriedigend ist eine Entscheidung, wenn sie nicht nach
"Gefühl", sondern mit einer guten Begründung gefällt
wird. Bei der "Begründung" tut sich allerdings eine jener
Fallen auf, die die Abweichung des alltäglichen vom juristischen
Sprachgebrauch stellt. Allgemein versteht man darunter die Antwort auf die
Frage "Warum will ich ein bestimmte Ergebnis erreichen", unter
Juristen aber "Wie kann ich dieses Ergebnis erreichen?" Die zweite
Bedeutung könnte man als "dogmatische" Begründung
bezeichnen, die erste als "außerdogmatische" oder
"politische".
Im Jurastudium wird viel Wert auf die dogmatische Begründung gelegt. Auf
sie wird in Gerichtsentscheidungen Bezug genommen, und ihre Beherrschung soll
in Klausuren und Hausarbeiten nachgewiesen werden. Über die politische
Begründung dagegen wird selten ein Wort verloren.
Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, daß sie in Wahrheit eine
große Rolle spielt und daß dogmatische Begründungen allein
ein Ergebnis oftmals nicht tragen können. Manchmal machen dogmatische
Begründungen einen sehr unzureichenden Eindruck - so wird zum Beispiel
bei der Abgrenzung von Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn eine unsichere
Formel durch die nächste ersetzt. Und sehr häufig gibt es für
zwei Entscheidungsalternativen gleichermaßen gute Begründungen.
Ich als Studentin entscheide dann "nach Gefühl" oder danach,
"was die Fallösung weiter bringt". Damit habe ich mich von
einer Begründung leiten lassen, die im oben definierten Sinn
"politisch" ist, aber anhand völlig sachfremder
Erwägungen.
Anhand welcher Kriterien soll ich aber später, etwa als Richterin,
entscheiden? Das Studium vermittelt mir nicht die Gewißheit, daß
dogmatische Gründe allein den Ausschlag für die eine oder die andere
Entscheidung geben können; hinsichtlich der außerdogmatischen
Gründe ist mein Instrumentarium aber genauso vage und unsicher wie das
einer Nichtjuristin. Statt zur Klärung beizutragen, läßt einen
das Studium mit dieser Hilflosigkeit weitgehend allein.
Eng damit zusammen hängt das Problem der Objektivität, also der
Fähigkeit, von der eigenen Person abzusehen. Ist das überhaupt
machbar, oder ist es genauso unmöglich wie eine "unpolitische"
Entscheidung?
Wenn absolute Objektivität nicht möglich ist, wie kann man das
größtmögliche Maß "relativer"
Objektivität erreichen?
Auch in diesen Schwierigkeiten könnte das Studium mehr Unterstützung
bieten, zum Beispiel durch Gelegenheiten, die eigenen unbewußt zugrunde
gelegten Wertvorstellungen aufzuspüren.
Auch von Gerechtigkeit hört man selten etwas. Zugegebenermaßen, es
handelt sich um ein schwieriges Thema. Aber kann die Schwierigkeit
rechtfertigen, es völlig außer acht zu lassen?
Man wird mich vielleicht auf die Rechtsphilosophie verweisen. Aber gerade
dieses Abschieben in eine Wahlfachgruppe empfinde ich als unbefriedigend. Dort
erfährt man vielleicht etwas darüber, was Aristoteles oder Thomas
von Aquin unter Gerechtigkeit verstanden haben. Wenig später quält
man sich dann durch die Rechtsprechung zum engeren und weiteren
Mangelfolgeschaden beim Werkvertrag und wüßte zu gern: Dient diese
feinsinnige Unterscheidung der Gerechtigkeit? Wenn ja, inwiefern? Wenn nein,
welchen anderen Sinn hat sie? Deshalb wäre es wünschenswert, wenn
die Gerechtigkeit in jedem "normalen" Grundkurs vorkommen
würde, denn schließlich wird sie nicht durch allgemeine
Überlegungen, so unverzichtbar diese auch sind, sondern durch das
konkrete Gesetz umgesetzt oder auch nicht.
Vielleicht ist es naiv, vom Jurastudium mehr zu erwarten als die Vermittlung
positiver Rechtskenntnisse und der Technik der Fallbearbeitung - deren
Wichtigkeit ich auch gar nicht bestreiten will. Aber der Anspruch, daß
ein Jurist etwas vom Wesen des Rechts erfaßt haben sollte, erscheint
mir nach wie vor nicht überhöht.
Natürlich bedarf es dazu in erster Linie eigener "Kopfarbeit",
die Hilfestellung von außen kann nur Anregung und Unterstützung
sein - aber davon könnte das Studium mehr bieten, wenn es grundlegende,
spannende und um umfassenden Sinn "bildende" Fragen nicht in dem
Maße aussparen würde, wie es das leider tut.
Erstellt am 06.10.96 von
Karsten Krone (alle Rechte
vorbehalten) für das
DeFo, letzte Änderungen am
14.4.98 von Florian Brick.