Ungeordnete Gedanken zum Digitalen Lebensstil.

von Victor Holland

 

Digital zu leben ist eine schöne Vorstellung. Morgens beim Kaffee den Tisch an die Wand rücken, auf der Wand in Echtzeit die Küche des besten Freundes in Abulberque oder Kyoto, der rückt seinen Abendessenstisch an die Wand und man kann sich live zuprosten. Kleine Digitaldiener durchforsten Tag und Nacht das 1000-Kanal-Sendernetz, um den ungeahntesten Unterhaltungswünschen von Herrchen und Frauchen gerecht zu werden. Fiepsende Maschinchen eilen um die Füße und ersinnen ihrem Meister neue Gründe, das Haus nicht verlassen zu müssen.

Das Digitale Leben geht weit über die bloße Nutzung der elektronischen Kommunikationswege heraus. Es ist ein Lebensstil. Die Möglichkeit, die Gesamtausgabe der Brandenburgischen Konzerte nebst Luxusfunkkopfhörern im Minibackpack mit auf den Freeclimbing-Trip nehmen zu können, ist für manche ansonsten durchaus zurechnungsfähige Menschen eine nahezu himmlische Vision.

Digital zu leben ist eine schöne Vorstellung. Viele Menschen empfinden das jedoch anders. Das hat eine Reihe von Gründen.

Die digitale Gegenwart erinnert an die Stummfilmzeit des Kinos. Ruckelnde Bilder, aussetzender Ton, ständige Funktionsfehler sind für den vernetzten jungen Menschen selbstverständliche Voraussetzungen. Die Computer, die die meisten heute bei sich zuhause herumstehen haben, können zwar eine schwerbewaffnete Frau mit übergroßer Oberweite einen perfekten Rückwärtssalto vollziehen lassen, scheitern aber kläglich an dem angepeilten Ziel der Computerindustrie: Ein uauffälliges Rückgrat zu bilden für den Gesamtorganismus Digitaler Haushalt, der von vielerlei Experten gerne in greifbare Nähe visioniert wird. Niemand, der bei Verstand ist, würde seinem Heimcomputer die Steuerung des Lichts oder gar der Türöffner überlassen. Mitten in der Nacht führe man aus dem Schlaf: Die Nachttischlampe flackert und alle Fenster stehen offen, weil das 3D-Rendering-Programm abgestürzt ist, das die neue Hundehütte ausleuchten sollte.

Die Gesellschaft scheint sich in zwei Blöcke zu spalten: Die, die das digitale Leben begrüßen und sich willig mit dessen unausbleiblichen Widrigkeiten herumschlagen, und die, die vom Nutzen der Digitalen Revolution erst noch überzeugt werden müssen. Ein großer Teil der Menschheit kann absolut nicht nachvollziehen, warum es toll ist, vom Handy aus dem heimischen Anrufbeantworter den Befehl geben zu können, bei Oma anzurufen und ihr wirre und irritierende Sprachaufnahmen vorzuspielen, während man selbst lächelnd mit ihr zu Tee sitzt. Ein Punkt für die Skeptiker: Viele elektronische Geräte lösen keine vorhandenen Probleme, sondern schaffen erst neue Bedürfnisse, die sie dann befriedigen. Viele können sich einen Berufsalltag ohne Handy nicht mehr vorstellen - vor zehn Jahren, ohne 24-Stunden-Erreichbarkeit, ging es doch aber auch ohne.

Wie bei den meisten Megatrends geht es auch beim Digitalen Leben aber hauptsächlich um eines: um Geld. Keine Weltraumflüge ohne dementsprechende Hardware, kein Surfen ohne Telefonrechnung. Wer dabeisein will, zahlt. Für brandneue Technologie sowieso. Faszinierende Vorstellung: Reiche Leute machen sich schön fürs Bildtelefonat. Aber auch schon im höchst realen Jahr 1998 können auch Menschen, die sich vielleicht keine ATM-Standleitung leisten könnten, beim U-Bahn-Fahren Höllenkreaturen zerstückeln: Eine Displaybrille für die Playstation im Rucksack gibt es für unter 1000 Mark.

Digitales Leben ist eine Frage der Leidensfähigkeit. Wieviele Stunden meines Lebens bin ich gewillt, mit Fehlerkorrekturen und Digitalkosmetik zu verbringen, um danach

Aber die Digitale Horde wächst. Wenn etwas nicht funktioniert, wird es zum Hobby erklärt. Männer vergleichen die Größe ihrer Fernbedienungen, Frauen entdecken die e-mail als neue Form des zeitversetzten Kaffeeklatsches und allen quillt hinten aus ihren Maschinen derselbe Kabeloktopus, der unauffällig hinterm Schreibtisch vegetiert und sich vermutlich von Kontrollbits ernährt. Was vor Jahren noch Privileg verschrobener Lötfetischisten war, hat sich zum Breitensport gemausert, und in der U-Bahn lassen sich 50-jährige Frühpensionäre vom 6-jährigen Enkelkind erklären, wie man seine Maus reinigt.

Die Zukunft in 10 Jahren wird der Gegenwart auf erschreckende Art und Weise ähneln. In den letzten 10 Jahren hat sich eines nicht verändert: Die begeisterte Zukunftsgläubigkeit von Visionären jedweder Couleur. Wer im Fernsehen öfter auf Zukunftsvisionen aus 80-Jahre-B-Serien stößt und dort das Jahr 1998 als riesige postnukleare Wüste dargestellt sieht, wird mir beipflichten. Ein positiver Punkt: Designer, die die Geräte der Zukunft entwerfen, schöpfen wie wir alle aus dem Futur-Fundus der Science-Fiction-Geschichten. Die reale Zukunft wird daher den im Augenblick gezeigten Science-Fiction-Entwürfen zumindest optisch sehr nahe kommen. Die Phantasie jedoch wird der Gegenwart immer um ein Hundertfaches voraussein. Die Zukunft ist per definitionem etwas, was wir nie erreichen. Gut so.