Freie Universität Berlin  WiSe 98/99
Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I
Arbeitsbereich Informationswissenschaft
Lehrbeauftragter: Wolfgang Roehrig
Autor: Viktor Grandgeorg

Wie nutze ich das Internet?

- Entwicklungsprognosen -

Inhalte

1998

2005

2010

2100


 

1998

worst case

Das Internet wird häufig nur zur Unterhaltung benutzt, wobei pornografische und faschistoidie Inhalte große Verbreitung finden. An qualitativ hochwertige Informationen ist oft nur schwer heranzukommen. Es geht meist weniger um Inhalte, als um multimediagestütztes Design. Auf Kosten der Informationsgehalte verwandeln sich Seiten in unheimlich träge, dafür aber blinkende, rutierende und quitschende Spielbuden. Die Kommerzialisierung des Netzes nimmt immer mehr zu, so daß von dem einstigen Netz zum freien wissenschaftlichen Austausch nicht mehr viel übrig bleibt. Stattdessen regiert überall das Motto der virtuellen Wertschöpfung.

 

optimale Version

Zur Recherche und Bildung aber auch zur Unterhaltung ist das Netz zu einem billigen, schnellen und gleichzeitig unabkömmlichen Werkzeug geworden. Es gibt für alle individuellen Bedürfnisse und alle möglichen Themen Foren, Informations- und Austauschmöglichkeiten. Rechnerbedingte Probleme können über "downloads" von Treiber-updates u.ä. schnell und bequem gelöst werden. Immer mehr Menschen erhalten Zugang zum Netz, so daß man wahrhaft von der Zukunftstechnologie sprechen kann.

 

realistische Version

Die Realität bewegt sich, wie so oft, zwischen den beiden Extremen. Es gibt im Netz eben alles, also auch schlechte wie gute Seiten, Foren etc.

 


2005

worst case

Das Netz ist vollkommen kommerzialisiert worden. Man bewegt sich wie auf der Straße, zwischen Warenhäusern, Pubs, Wohnblöcken, etc. Umsonst gibt es nichts, außer den öffentlichen Parkanlagen und Museen vielleicht. Allenthalben gibt es Verkehrsstaus, Kriminalität, Chaos. Um in privilegierte Kreise zu kommen, sprich - an wertvolle Informationen, muß man die goldene Mastercard einer renommierten Bank besitzen. Die geplante Grundversorgung kann auf Grund von mangelnden Finanzen nicht recht aufrecht erhalten werden, der Verbraucher auf dieser Ebene bekommt nur Werbung und Cyberjunk zu fressen.

 

optimale Version

Die Anfangsschwierigkeiten von Multimediaanwendungen (lange Ladezeiten etc.) werden langsam überwunden und man kann sich relativ fließend durch das Netz bewegen. Dadurch, daß jeder nach seinen Neigungen und Interessen Informationen aus dem Netz abrufen oder publizieren kann (sofern diese nicht gegen geltendes Recht verstoßen) herrscht im Netz eine Art Basisdemokratie. Durch die starke Konkurrenz von Unternehmen sind die Kosten für die Benutzung so weit gesunken, daß sich so gut wie jeder einen Zugang leisten kann. Durch die Vereinigung von Unterhaltungs- und Informationsanbietern und Verlagswesen mit den Telefongesellschaften und mit den Computer Hard- und Softwareherstellern hat der Verbraucher ein echtes multimediales Werkzeug in den Händen. Durch die zunehmende Verlagerung von Arbeitsplätzen in die eigenen vier Wände können Zeit und Energie gespart werden.

 

realistische Version

Die Realisierung hochgesteckter Erwartungen erweist sich als schwieriger und langwieriger als erwartet. Das Netz ist zwar riesig, so daß man alle möglichen Informationen erhalten kann, gleicht aber von der Struktur her immer mehr einem Dschungel, so daß die Orientierung, wenn nicht verunmöglicht, so doch erschwert wird. Immer mehr Leute benötigen "Guides", die ihnen Information zu einem Thema zusammenstellen, die bestimmte Inhalte und Angebote aus dem Netz heraussuchen. Noch immer gibt es besetzte Leitungen und Informationsstaus. Es gibt eine deutliche Tendenz weg von Texten hin zu Bild und Tonangeboten, so daß sich das Medium von seiner Literarizität entfernt.

 


2010

worst case

Das Netz hat seine revolutionäre Entwicklungsphase abgeschlossen und der Alltag stellt sich ein. Von den einst so visionär herbeigesehnten Vorteilen und Errungenschaften ist nicht viel übrig geblieben. Internetsucht wird inzwischen wie Nikotin- oder Alkoholabhängigkeit gehandhabt. Die Möglichkeit an sehr individuell strukturierte Informationen heranzukommen erweist sich als Problem in Hinblick auf die Allgemeinbildung, besonders bei Kindern. (Wer sucht schon freiwillig nach Matheaufgaben im Netz? Und wenn man doch welche erledigen muß gibt es ja dafür Mathematikprogramme zur Genüge...) Da Cash zu achtzig Prozent nur noch als virtuelles Geld in Umlauf ist, kommt es vermehrt zu organisierter Kriminalität im Netz. Vor einem Jahr hat das Netz seine erst "Weltnetzkrise" hinter sich gebracht. Das Netz war weltweit für dreieinhalb Tage zusammengebrochen, was zu Verlusten in dreistelliger Milliardenhöhe führte. Bei den Menschen, die von Rechnern, Handies, Bildtelefonen, 3D Fernsehern etc. umgeben sind stellt sich zunehmend eine Techinkverdrossenheit ein: "Die Mikrotechnologie macht uns krank, sowohl physisch als auch psychisch!" heißt es jetzt oft in Verlautbarungen.

 

optimale Version

Das Netz hat seine revolutionäre Entwicklungsphase abgeschlossen und der Alltag stellt sich ein. Mit einem Multimediarechner ans Netz gebunden zu sein, ist so normal wie ein Auto zu besitzen. Klar gibt es wie bei Autos jedes Jahr neue Entwicklungen, aber bis auf Fanatiker interessiert es niemanden sonderlich - man nimmt es gelassen zur Kenntnis. Inzwischen hat die Konvergenz so stark zugenommen, daß man sich eigentlich nur noch ein Gerätepaket kauft, in dem alles enthalten ist: Computer, Fernseher (Bildprojektor) / Kamcoder, Stereoanlage, Drucker, Telefon usw. Durch umfassendes "virtual-teaching" an Schulen und Universitäten hat das Bildungsniveau deutlich zugenommen. Tatsächlich geht besonders auf dem Dienstleistungssektor alles irgendwie leichter und schneller.

 

realistische Version

Tatsächlich denke ich, daß es zu diesem Zeitpunkt zu einer Normalisierung des Mediums kommt. Es gibt immer noch Probleme, ähnlich wie z. B. die Umweltverschmutzung bei Autos, aber man ist sich ihrer bewußt und arbeitet an ihnen. Eines dieser Probleme ist nach wie vor sicherlich die Bildung und Verfestigung einer neuen (oder inzwischen auch alten) Klassengesellschaft, die zwischen Leuten die einen Netzanschluß besitzen und entsprechende Fähigkeiten haben und Leuten die quasi "Netzanalphabeten" sind differenziert.

 


2100

worst case

Das Netz ist ein vierdimensionales Raumzeitgefüge, wir sind aber nicht mehr Herren dieser Schöpfung, sondern seine Sklaven. Indem wir unsere wichtigsten Belange und all unsere Ideen und Energien dem Netz überantwortet haben, haben wir uns versklaven lassen. Wir sind an das Netz gebunden, wie wir einst an die Erde gebunden waren. Realitätsverlust ist längst kein Thema mehr, denn so gut wie alles ist inzwischen virtuell oder wird virtuell beeinflußt. Die Virtualität ist unsere Realität. Wir sind das Chaos, das Netz ist die Ordnung. Und wer kann schon einen Menschen von einer KI unterscheiden? - besonders wenn die KI das nicht will?

 

optimale Version

Wir haben es durch das Netz tatsächlich geschafft eine zweite, alternative Realität zu errichten, eine Realität in der räumliche Entfernungen unwichtig geworden sind, in der wir unsere körperlichen Leiden nicht mit uns herumschleppen müssen, eine in der zumindest von den Grundvoraussetzungen her jeder gleichberechtigt ist. Durch das Medium sind wir mit allen anderen Menschen auf der Welt vernetzt und bilden so einen neuen multifunktionalen, mannigfaltigen Organismus.

 

realistische Version

Wer kann das schon sagen? Das Netz wird sich in etwas ganz Anderes und Verrücktes verwandelt haben. Aber vielleicht hat es das heute schon getan.

 


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