Bodhicharya – Die Sehnsucht nach Spiritualität in der Großstadt

Beitragsbild Die drei Säulen des Bodhicharya: Heilung, Hilfe und Harmonie. Blick von der Kinzigstraße auf die äußere Mauer, die das Gelände des Bodhicharya abgrenzt.

Bodhicharya – Die Sehnsucht nach Spiritualität in der Großstadt

Schon längst hat sich Berlin als Metropole einen Namen gemacht. Für viele Berliner ist die Hauptstadt das Zentrum für Freiheit und Selbstbestimmtheit, und zugleich ein Ort, an dem kaum einem Trend entsagt wird. Durch seine ständige Veränderung und unbändige Aufgeregtheit scheint die Großstadt auf den ersten Blick als Gegenpol zu den Werten der spirituellen Welt verstanden zu werden. Das buddhistische Zentrum namens Bodhicharya ist ein Ort, an dem diese scheinbaren Gegensätze aufeinandertreffen. 

Von Sophia Ziesch, Celeste Lea Dittberner, Parastu Sepehrband

“Survival of the fittest”

Wir treffen Marc aus Berlin. Zurzeit studiert der 27-Jährige Biochemie und Molekularbiologie an der Universität Potsdam und arbeitet nebenbei im Labor. Seit Anfang diesen Jahres besucht er das tibetisch-buddhistische Zentrum “Bodhicharya” in der Kinzigstraße in Berlins Szenebezirk Friedrichshain. Dort widmet er sich der Meditation und findet so einen Ausgleich zum oftmals hektischen Alltag in der Großstadt: “In der Großstadt ist man Hektik, Stress und Isolation ausgesetzt – da herrscht “survival of the fittest”. Jeder will den Platz in der S-Bahn haben usw. Bei mir hat Meditation geholfen, genau den ganzen Hektik-Stress einfach weglassen zu können.”

Bodhicharya

Das buddhistische Zentrum für Frieden und Verständigung Bodhicharya Deutschland e.V. wurde 2001 gegründet. Seitdem ist der gemeinnützige Verein eine Anlaufstelle für alle Menschen, die dem hektischen Hauptstadtleben für kurze Zeit entfliehen wollen. Bodhicharyas Bestreben ist das Studium und die Praxis der buddhistischen Lehre. Diese sollen dem spirituellen Wachstum und der Schaffung und Erhaltung von geistigem Frieden und Stabilität dienen. Neben einem abwechslungsreichen Angebot an Yoga- und Meditationskursen, in denen die Grundbausteine der buddhistischen Philosophie gelehrt und praktiziert werden, engagiert sich der ehrenamtliche Verein auch für Themen abseits des Buddhismus. So wurde der Hospizdienst “Horizont”, bestehend aus einem Team aus fachlich qualifizierten und geschulten ehrenamtlichen Helfern, ins Leben gerufen. Er bietet betroffenen Menschen und Angehörigen kostenlose Beratung an und begleitet diese auf ihrem Weg. Auch den Strafgefangenen der JVA Tegel und Brandenburg oder jenen, die sich nun in Freiheit ein neues Leben aufbauen müssen, bietet der Verein Betreuung in Form von Meditationsanleitungen oder buddhistischen Konzepten der Stressbewältigung an. Neue Handlungs- und Lösungskonzepte sollen ihnen dabei helfen ein weitgehend angst- und gewaltfreies Leben zu führen.

Die Rime-Bewegung

Im Bodhicharya Zentrum wird der tibetische Buddhismus im Sinne der Rime-Bewegung praktiziert. Heutzutage haben die meisten Menschen eine friedvolle Vorstellung vom tibetischen Buddhismus, „dennoch war Tibet kein ‚Shangrila‘, kein vollkommenes Paradies, in dem einzig Mitgefühl, Eintracht und spirituelle Lehren regierten“, so Jürgen Manshardt, der als Autor (Dharmata Verlag), Seminarleiter, Tibetisch-Lehrer sowie Dolmetscher tätig ist. Seit 1979 praktiziert er den Buddhismus, davon 7 Jahre als Mönch. Während seiner Jugend in Hamburg setzte er sich mit Gesellschaftskritik und Umweltfragen auseinander. Das Gefühl, er hätte kein konstantes Ich” löste Angst und Unsicherheiten in ihm aus. Während seines Studiums des Buddhismus lernte er das Nichtvorhandensein eines konstantes Ichs” als befreiendes Element anzusehen.

Innenhof des Geländes mit zahlreichen Gebetsflaggen, auf der linken Seite befinden sich die Kursräume. Foto: Celeste Lea Dittberner

Der Buddhismus bestehe aus Logik, Vernunft, Ethik und die Lehre der Selbstlosigkeit. Der tibetische Buddhismus ergänze Klarheit und Philosophie. Auf der anderen Seite sei der tibetische Buddhismus oftmals sehr engstirnig. Die verschiedenen Traditionen und Umsetzungen des tibetischen Buddhismus standen sich alles andere als friedlich gegenüber. So entstand Fundamentalismus und Sektierertum.

Die Rime-Bewegung besitzt laut Manshardt Kontakte zu den verschiedenen Traditionen mit dem Ziel Dialoge aufzubauen. Sie zeugt von Offenheit und Toleranz. Diese Reformbewegung darf jedoch nicht als neue Tradition angesehen werden, sondern mehr als religiöse Einstellung – sie vermag alle tibetisch-buddhistischen Traditionen zu vereinen, ohne dabei dessen Individualitäten zu verlieren. Das Ziel der Bewegung war es, die Konkurrenz der vier großen Schulen in Tibet (Nyingma, Kagyú, Sakya und Gelug) untereinander zu überwinden. Der Begriff ‚Rime‘ setzt sich aus Ri (tib. ris), was so viele wie ‚Teil‘ oder ‚Sektion‘ bedeutet und aus dem Verneinungs-Begriff Me (tib. med) zusammen. Rime steht demnach für ‚nicht parteiisch‘ bzw. ‚ohne Unterschied‘. Der wohl bekannteste Anhänger dieser Geisteshaltung ist der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso.

Manshardt betont die Bedeutung von Rime als beste Gegenbewegung zum Sektierertum. Fundamentalismus sei beängstigend, zu oft wird Religion missbraucht. Rime biete hingegen Modernität, Gleichberechtigung, Austausch, neue Impulse, Transparenz und Strukturen. Manshardt befürwortet „Pluralität gegen die Entstehung von Sekten“. Das Bodhicharya ist somit in seinen Augen durch die Rime-Bewegung überaus modern, sozial und lebendig. Besonders lobt er den interreligiösen Austausch, welcher regelmäßig mit Vertretern verschiedenster Religionen im Bodhicharya stattfindet. In einer Stadt wie Berlin, in der viele Kulturen und Menschen unterschiedlicher Religionen zu Hause sind, schafft Bodhicharya so einen Raum des Miteinanders und des Dialogs.  

Bodhicharya – Eintauchen in eine andere Welt

Als wir das erste Mal das Zentrum betreten, haben wir das Gefühl, wir befänden uns nicht mehr in Berlin. Eine kleine grüne Oase inmitten des hitzigen und lärmenden Betonjungles Berlins. Der Duft von Hortensien und Lilien steigt in die Nase und erinnert an die Sonntage im elterlichen Garten außerhalb der Stadt. Bunte Fahnen, die den ganzen Hof schmücken, wehen im Einklang mit dem Wind und verbreiten den zarten Duft der Blumen und Pflanzen über den ganzen Hof.

Wir treffen uns hier mit dem Vorstand in Person von Maria Hündorf und reden mit ihr über das Zentrum, den Buddhismus und die Rolle, die Spiritualität in einer westlich orientierten Gesellschaft einnimmt.

Garten des Zentrums mit Blick auf die Stupa – Bauwerk, welches Buddha selbst und seine Lehre, den Dharma, symbolisiert. Foto: Celeste Lea Dittberner

Gerade in der westlichen Welt, in der ein hoher Leistungsdruck herrscht, und Karriere und wirtschaftlicher Erfolg zu den Eckpfeilern unserer Identität geworden sind, scheint das Angebot an spirituellen Lehrangeboten und Workshops immer größer zu werden. Sogenannte Retreats statt dem All-Inclusive Urlaub in der Karibik sind schon längst keine Seltenheit mehr. Immer mehr spirituelle Lehrer, wie der indische Guru Sadhguru, finden ihren Weg in die westlichen Metropolen, um in Vorträgen und Übungen die Prinzipien der Achtsamkeit zu lehren. Maria Hündorf, Mitglied des Bodhicharya Vorstands, sieht hier mehr als nur einen Trend:

“Ich bin ganz sicher, dass das ein ganz tiefes menschliches Bedürfnis ist. Tief im Innern (denk ich) braucht jeder Mensch spirituelle Nahrung. Diesen ganzen materiellen Klimm Bimm braucht eigentlich niemand, um glücklich zu sein.“

Das Bodhicharya bietet all jenen einen Zufluchtsort, die dem stressigen Wettlauf des Funktionierens für kurze Zeit entfliehen möchten. Es ist somit ein Ort für Menschen, die sich gestresst fühlen und nach einem Platz zum Durchatmen, Entschleunigen und zur Reflexion suchen. Auch Jürgen Manshardt ist überzeugt, dass Spiritualität einen Ausgleich zur Großstadthektik bieten kann.

Meditation als Mittel zur Stressbewältigung und Selbstreflexion

Marc besucht zur Zeit den Tergar-Kurs im Bodhicharya-Zentrum, der jeden Donnerstag von 19:30 bis 21:00 Uhr stattfindet und eine praktische Anweisung über die verschiedenen Arten der Meditation vermitteln soll.  Beim Meditieren ist es wichtig, dass man Gedanken wahrnimmt, aber sie nicht beurteilt und schlechte Gedanken auch einfach weiterziehen lässt. Das sorgt am Ende dann für eine Tiefenentspannung und Ruhe, bei mir persönlich. Das ist sehr angenehm, vor allem wenn man einen stressigen Alltag hat, wie ich“, so Marc.

Blick von der Kinzigstraße auf die äußere Mauer und den Eingang des Zentrums. Foto: Celeste Lea Dittberner

Meditation und die damit verbundene Selbstreflexion haben Marc jedoch nicht nur bei der Stressbewältigung geholfen. Die bewusste Wahrnehmung seiner Gedankenmuster und Gefühle halfen ihm dabei seine Unsicherheit und sein geringes Selbstbewusstsein zu überwinden und einen persönlichen Wandel zu vollziehen:

“Ich war ein Mensch, der einfach das gemacht hat, was der Kopf gesagt hat und nicht was das Herz, die Gefühle und der Magen wollen. Du frisst in dich hinein, und dabei willst du eigentlich auch nur, was jeder möchte: glücklich sein. Liebe geben, Liebe bekommen. Ein schönes Leben führen – das geht aber nur, wenn man sich selber liebt und sich auch mitteilt. Also hab ich mich Menschen wieder mehr geöffnet und bin auf Menschen zugegangen.”

Die Verbindung von Wissenschaft und buddhistischer Praxis

Die Vorteile der Meditation für den Menschen sind nicht mehr nur ein Thema in spirituellen oder religiösen Kreisen. Auch von Wissenschaftlern der Hirnforschung wird die Wirkung von Meditation seit einiger Zeit untersucht. Sie bestätigen, was buddhistische Lehrer schon seit fast 2000 Jahren vermitteln.

In seinem Buch “Quantenphilosophie und Spiritualität” beschreibt der Biologe und Physiker Dr. Ulrich Warnke dieses Phänomen: Durch bestimmte meditative Prozesse sei es möglich den Neokortex, der für logisches Denken verantwortlich ist, zu reduzieren und das limbische System, wo Emotionen verarbeitet werden, zu stärken. Eine erhöhte Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment und ein geschärftes Bewusstsein sind die Folge. Laut Warnke beeinflussen demnach unsere Gedanken und Gefühle unser körperliches Wohlempfinden. Gesundheit ist also viel mehr als ein Besuch beim Hausarzt, sondern bezieht sich zu gleichen Teilen auch auf die Pflege des Geistes in Beziehung mit dem Körper, was Maria Hündorf bestätigt.

Egal ob in der Großstadt oder auf dem Land: Die starke Konsum- und Wettbewerbsorientierung beeinflussen unseren Geist und folglich unseren Körper auf negative Weise. Depressionen, Burn-Out oder Panik- und Angststörungen sind mittlerweile zu Volkskrankheiten geworden. Laut Hündorf ist es umso wichtiger, sich Pausen zu gönnen:  

“Man muss auf jeden Fall, wenn man in der Stadt lebt, sich Zeiten suchen, wo man zu Hause meditiert, wo man zwischendurch mal rausfährt und längere Meditations-Phasen macht. Aber je weiter man kommt, desto weniger ist man darauf angewiesen. Das Ziel ist, dass man in der hektischsten Umgebung mit wer weiß was an Lärm und Stress drumherum, innerlich gelassen und ruhig bleiben kann. Ich denke nicht, dass wir, die wir hier in der Stadt leben, schlechtere Chancen haben, als diejenigen, die auf dem Land leben. Schwierig wird es nur, wenn man ständig unterwegs ist: Wenn man morgens von fünf bis sechs meditiert, danach zur Arbeit und danach noch dahin und dahin und dann erst um Mitternacht ins Bett.”

Der Multiplikator-Effekt

Hinterhof des Bodhicharyas in der Kinzigstraße in Berlin Friedrichshain. Foto: Celeste Lea Dittberner

Der Verein Bodhicharya finanziert sich allein durch Spenden. Die Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich. Sie möchten, dass das, was sie auf ihrem Lebensweg gelernt haben und die Hilfe und Unterstützung, die sie durch hauptsächlich buddhistische Lehrer erhalten haben, mit anderen zu teilen. Auch Marc möchte seine Erfahrungen und Erkenntnisse teilen:

“Vielleicht geht dann dieser kleine Funke, den man selbst für sich erarbeitet hat und den man dann nach außen trägt, vielleicht auf andere Menschen über und wird dann irgendwann zu einer großen Flamme.”

Als wir das Zentrum verlassen, sind wir uns sicher: Wir kommen wieder.


Sophia Ziesch 

studiert im Bachelor Sozial- und Kulturanthropologie und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im vierten Semester an der Freien Universität Berlin. Schon während ihrer Schulzeit war sie in einem lokalen Jugendradio tätig. 



Celeste Lea Dittberner

studiert im Bachelor Kunstgeschichte und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im vierten Semester an der Freien Universität Berlin. Danach möchte sie Kulturjournalismus im Master studieren.



Parastu Sepehrband

studiert im Bachelor Theaterwissenschaft und Publizistik – und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Vor ihrem Studium absolvierte sie eine Schauspielausbildung und konnte dort schon Erfahrungen im Schreiben von Theatertexten sammeln.


About the Author: