Breitscheidplatz. Ein Jahr danach: “Statistisch gesehen sterben die meisten Leute im Bett. Also geh raus!“

Denkmal für die Opfer des Terroranschlags am Breitscheidplatz. Foto: Jonathan Packroff

Breitscheidplatz. Ein Jahr danach: “Statistisch gesehen sterben die meisten Leute im Bett. Also geh raus!“

Julia und Paula (Namen geändert) sind 17 Jahre alt. Die Abiturientinnen waren vor anderthalb Jahren auf dem Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg, als der Terrorist Anis Amri mit einem LKW in den dortigen Weihnachtsmarkt fuhr und elf Menschen tötete. Wir treffen sie zum Interview am Rande des Volksparks Schöneberg-Wilmersdorf.

von Hannah Hauswaldt und Jonathan Packroff

Hannah: Jeder kennt das, was in den Medien abgedruckt worden ist zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Wir würden gerne wissen, wie es für euch vor Ort war. Wie kam es dazu, dass ihr auf den Weihnachtsmarkt gegangen seid?

Julia: Wir wollten einfach nur shoppen gehen.

Paula: Julia hat mich angerufen an dem Abend. Irgendein Kleidungsstück braucht sie. Sie hätte nicht gedacht, dass ich ja sage, weil ich sonst nicht für spontane Aktivitäten da bin. Wir haben uns dann etwa um sechs am Ku’damm getroffen und ich hatte Hunger. Deswegen hat Julia vorgeschlagen, dass ich auf dem Weihnachtsmarkt etwas essen könnte.

Jonathan: Und wie lief das dann ab? Wo standet ihr?

Julia: Wir sind sozusagen von hinten gekommen.

Paula: Also das Europacenter im Rücken und die Gedächtniskirche davor.

Julia: Wir sind direkt auf den LKW zugelaufen, und Paula hatte sich gerade ein Baguette gekauft. Wir sind rechts rüber zu den Hütten und anschließend geradeaus. Dann kam der LKW um die Ecke.

Paula: Wir standen genau in dieser Kurve, wo er lang gefahren ist.

Jonathan: Habt ihr ihn zuerst gesehen oder zuerst etwas gehört?

Paula: Du, Julia, hast es glaube ich zuerst gehört und ich zuerst gesehen.

Julia: Es ist alles ein bisschen verschwommen. Ich habe den LKW gesehen und gleichzeitig noch dieses Geräusch im Kopf als er die erste Hütte mitgerissen hat. Danach ist alles mehr oder weniger schwarz. Als nächstes wache ich auf und liege auf dem Boden – fünf Meter weiter weg. Ich bin dann aufgestanden und habe nach Paula gesucht.

Paula: Sie war richtig klar, hat sofort reagiert. In dem Moment, hat sie sofort ihre Mutter angerufen und meinte zu ihr “Beweg deinen Arsch her”. Und sie hat mit mir geredet und gefragt, ob ich sie hören kann, da ich mein Bein verletzt hatte. Erst als wir vom Weihnachtsmarkt runtergegangen sind, hatte Julia so ein totales Down.

Jonathan: Also seid ihr dann selber ins Krankenhaus gefahren?

Paula: Ja. Julias Mutter ist mit ihrem Vater gekommen. Der hat sich dann mein Knie kurz angeguckt, weil er Arzt ist. Wir sind direkt in das Gertrauden-Krankenhaus gefahren. Als wir im Krankenhaus waren, fingen dann ganz viele Leute an in Gruppen über WhatsApp zu schreiben, „Leute, geht’s euch gut?“, also einfach nur so, da eh niemand erwartet hätte, dass jemand etwas schreibt. Wir haben auch nichts geschrieben, weil wir nicht wussten, was wir sagen sollen.

Obwohl Paula später ein Kreuzbandriss diagnostiziert wurde, wurde ihr Knie im Krankenhaus zunächst nur geröngt und Schmerzgel aufgetragen. Die Ärzte sagten ihr, eine Woche später könne sie wieder gehen. Tatsächlich musste das Knie zweimal operiert werden. Sie hat immer noch gelegentlich Schmerzen.

“Denke nicht mal mehr einmal die Woche daran”

Hannah: Und in der Zeit danach – wie seid ihr, wie sind eure Eltern mit der Situation umgegangen?

Julia: In den ersten paar Wochen haben sie alle möglichen Institute angerufen und wollten, dass ich in irgendwelche psychologischen Kliniken gehe, zum Beispiel in Düsseldorf. Das habe ich komplett abgeblockt. Ich wusste, dass ich auf jeden Fall eine Hilfe haben möchte, weil mir nicht klar war, wie es weitergeht. Mir ging es in dem Moment gefühlt eigentlich gut, aber man weiß ja nie, was kommt.

Paula: Meine Mutter war auch immer der Meinung, dass sie etwas machen muss, aber sie hat nicht wirklich mit mir geredet. Julia und ich haben aber direkt angefangen, über das Geschehene zu reden. Wir sind auch zusammen zu der angebotenen Therapie gegangen, die von der Regierung bezahlt wurde.

Julia: Mittlerweile führe ich einen komplett normalen Alltag, wie jeder andere Mensch auch und denke da nicht mal mehr einmal die Woche daran.

“Man kann Merkel nicht verantwortlich machen”

Jonathan: Habt ihr andere kennengelernt, die dabei waren?

Julia: Es gab etwa ein halbes Jahr später ein gemeinsames Beisammensein, das wurde von der Regierung organisiert. Das war für alle Opfer, Beteiligte und Angehörige. Insgesamt waren es so 200 bis 300 Leute. Dort habe ich jemanden wiedergesehen, den ich damals im Krankenhaus gesehen habe.

Hannah: Woher hatten die eure persönlichen Angaben, dass ihr dabei gewesen seid?

Paula: Die haben uns im Krankenhaus unter Katastrophenpatienten vermerkt, sodass wir dadurch registriert wurden. Meine Mutter kennt jemanden, der viel für die Opfer danach organisiert hat und meinte, dass sich als drei Monate später klar wurde, dass es Schmerzensgeld gibt, sehr viele Menschen gemeldet haben, um zu behaupteten, dass sie auch betroffen seien. Es war schwer zu beurteilen, wer wirklich dabei gewesen ist. Ich war im Herbst bei Merkel. Sie hat zu sich eingeladen, um mit den Betroffenen zu sprechen. Es war ein Witz! Dort habe ich mich mit anderen gefragt, wer eigentlich als betroffen gilt? Keiner konnte sagen, wo die Grenze gezogen wurde.

Hannah: Warum war es für dich ein Witz?

Paula: Es waren 120 Leute auf zehn Tische verteilt, von denen sie leider nur vier Tische besuchen konnte, um mit den Menschen dort zu sprechen. Was ich schade fand war, dass viele Leute, die an den Tischen saßen, sich wirklich darüber Gedanken gemacht haben, was sie ihr sagen wollten, und es dann nicht dazu gekommen ist. Man hätte es besser organisieren können, auf zwei Tage verteilt mit zweimal 60 Leuten. Es gab Menschen, die sie richtig angeschrien haben, weil sie der Meinung waren, sie ist die Schuldige für das Geschehene. Ich finde, dass man sie dafür nicht verantwortlich machen kann. Niemand hat in dem Sinne Schuld. Der einzige, der Schuld hat, ist der Mensch der in dem LKW saß. An dem Tisch haben mir auch ein paar von den Leuten erzählt, dass sie zum Teil angerufen wurden, von irgendwelchen Nachrichtenseiten, ob sie ein Interview geben. Die haben dann immer Fragen gestellt, bei denen du wusstest, sie wollen, dass du sagst das Merkel schuld sei. Sie wollen, dass du sagst, dass die Flüchtlinge schuld sind und alle raus sollen. Die haben das erzählt, weil sie zu den Journalisten nur meinten, „Sie können mich mal, tschüss“. Es ist so schwer für die Leute zu verstehen, dass ich keinen Terroristen in jedem Araber sehe und dass dieses Blutbad in diesen ganzen Ländern ihnen mehr Schaden zufügt als dir. Wieso seid ihr nicht mal in der Lage, einen Flüchtling zu fragen, wie’s ihm geht? Warum werden wir gefragt? Und wieso tut jeder so als wäre das wie eine natürlich Katastrophe auf die niemand Einfluss hat?

“Anis Amri: Hasst du den?”

Breitscheidplatz mit Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Foto: Jonathan Packroff

Jonathan: Wie glaubst du könnte man Terroranschläge verhindern?

Paula: An sich denke ich nicht, dass es „die Lösung“ gibt, wie man Anschläge verhindern kann. Es ist halt ein Anschlag, der von individuellen Leuten verübt wird. Und auf deren Kopf hat man nicht direkt Einfluss. Ich teile allerdings die Überzeugung, dass Hass nicht angeboren ist. Sondern auch Terroristen beigebracht worden ist, dass sie diese Welt auseinandernehmen müssen, aus welchem Grund auch immer. Also finde ich, man sollte eher am Ursprung des Problems anfangen und nicht am Ende. Deswegen bin ich der Meinung, dass Bildung so wichtig ist.

Julia: Mich haben auch Leute gefragt, kurz danach, „wie stehst du denn eigentlich zu Anis Amri? Hasst du den? Was hast du für eine Meinung von dem?“. Ich war eigentlich immer relativ neutral. Auch als er dann getötet wurde in Italien, war das „ja, schön aber okay“ aber es war kein…

Jonathan: Keine Genugtuung?

Julia: Ja.

Paula: Ich denke auch nicht, dass am Breitscheidplatz selber etwas falsch war, sondern eher was reihenweise davor passiert ist. Mich verunsichert es eher, wenn überall Polizisten herumstehen. Die Polizisten können da gar nichts ausrichten. Als ich, nachdem es passiert ist, wieder aufgewacht bin, habe ich noch das Ende vom LKW gesehen und zwei, drei Polizisten, die dem LKW wie Minions hinterher gerannt sind und die nichts ausrichten konnten. Was wollen die Polizisten denn machen, wenn da was passiert? Ziellos in die Menge schießen und eventuell noch einen Unschuldigen treffen? Das ist doch komplett idiotisch. Ich glaube, dass Kameras und andere Sicherheitsmaßnahmen auch nicht so sinnvoll sind, da letztendlich jeder mit einer Bombe in die Menge laufen kann.

“Jetzt machen sie sich wichtig”

Paula und Julia waren bis vor kurzem Schülerinnen des Schiller-Gymnasiums am Ernst-Reuter-Platz. Sie erzählen uns von den unterschiedlichsten Reaktionen ihrer Lehrer und Mitschüler darauf, was ihnen passiert ist.

Jonathan: Habt ihr in der Schule darüber geredet, was passiert ist?

Paula: Wir haben immer persönlich mit Leuten geredet.

Julia: Auch mit Lehrern. Manche Lehrer sind total offen damit umgegangen, teilweise zu offen. Eine Lehrerin hat uns vor der ganzen Klasse gefragt “Na, wie war das? Wie geht’s euch? Wo standet ihr eigentlich?”. Vor allen wollten wir das aber nicht erzählen.

Paula: Was Julia und mich wirklich zurückgehalten hat, da offen drüber zu reden, war die Angst, auf’s Silbertablett gestellt zu werden, im Sinne von: Jetzt machen sie sich wichtig. In so einem Schul-Ding ist halt immer, wenn du auffällst, dann wirst du verurteilt. Obwohl wir eigentlich gerne darüber gesprochen und berichtet haben, weil die anderen ja nicht wissen können, wie es gewesen ist. Aber egal was du machst, egal wie sehr du dir Mühe gibst, du wirst einfach nur gehated von haufenweise Leuten. Eigentlich sollte dich das nicht jucken, weil die Leute, die es wirklich kümmert, die sagen so etwas nicht. Es geht ja nicht darum zu sagen: Wir waren da, wir sind deswegen besonders. Wir wollten auch gar nicht als die gesehen werden, die auf dem Breitscheidplatz waren.

Hannah: Hättet ihr euch mehr Hilfe von eurer Schule erhofft? Hättet ihr gewollt, dass von der Schule aus eine Hilfestellung angeboten wird?

Paula: Ich muss echt sagen, da es uns beiden – oder ich spreche jetzt mal von mir – da es mir echt ganz gut ging mit der ganzen Geschichte, hätte ich es komisch gefunden, wenn uns noch mehr angeboten worden wäre.

Julia: Bei manchen Lehrern hatte man das Gefühl, selbst wenn wir einen Anfall haben, mental, dass es vollkommen okay ist. Die Oberstufenkoordinatorin hat auch eine E-Mail an alle Lehrer geschrieben, die wir hatten, und meinte, “ihr müsst nicht zu denen hingehen, ihr müsst nichts fragen, ihr müsst nicht das Gefühl haben ihr seid verantwortlich, aber nur dass ihr es wisst, falls sie mal abwesend sind oder mal die Hausaufgaben nicht haben, das ist okay, nicht weiter drauf eingehen.“

Paula: Das Unangenehme war dann noch, dass wir für die Zukunft für Grundkurs-Klausuren und Leistungskurs-Klausuren 10 bis 15 Minuten mehr bekommen haben.

Julia: Eigentlich wollte man die Zeit nicht benutzen, aber manchmal war es ganz hilfreich. Da war diese Angst, die man in der Schule so hat: “Hilfe, ich kriege jetzt was, was die anderen nicht kriegen und die stellen dann Fragen.”

“Der Anschlag ging nicht gegen uns, sondern gegen die Menschheit”

Hannah: Hat sich euer Alltag seit dem Anschlag verändert? Du meintest ja vorhin schon, dass eigentlich alles ganz normal und routiniert ist. Darauf bezogen: Habt ihr bestimmte Routinen entwickelt oder meidet ihr bestimmte Orte?

Julia: Letzten Winter, also genau ein Jahr später, war es schwierig, auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zu gehen, aber ich bin hingegangen. Und ich habe mich so ein bisschen selber dran gewöhnt. Ich war erstmal da, als nicht so viele Menschen da waren.

Paula: Ich habe mich einmal mit einem Freund, der das komplett vergessen hatte, auf dem Platz getroffen. Das war das erste Mal, dass ich wieder dort war. Da dachte ich, es sieht so anders aus, weil der ganze Weihnachtsmarkt nicht mehr da war. Dadurch war es für mich kein Problem mehr. Das einzige, was man gesehen hat, waren halt diese komischen Blöcke. Da ist aber nichts getriggert worden. Als der Weihnachtsmarkt wieder aufgebaut worden ist, war ich einmal in der Nähe und dachte, „da musst du jetzt nicht unbedingt drüber laufen“, weil ich gerade bei Gerüchen die Krise bekommen habe. Vor allem bei Weihnachtsgerüchen, da ich ja dieses Baguette gegessen hatte. Allerdings war ich auch nie der Weihnachtsmarkt-Geher. Das war das erste Mal, dass ich so wirklich auf einem Weihnachtsmarkt war.

Jonathan: Und andere Großveranstaltungen, also jenseits von Weihnachtsmärkten? Meidet ihr sowas jetzt?

Paula: Ich war einmal auf einem Konzert. Das war nach dem, was in Manchester passiert ist. In dem Moment als das Konzert vorbei war, meinte ich zu meiner Freundin, jetzt müssen wir raus. Wenn ich jetzt auf große Konzerte gehe, denke ich „geh nicht in den Stehbereich“. Allerdings mag ich als kleiner Mensch den Stehbereich sowieso nicht. Eher als in Menschenmassen hatte ich ein Problem in der U-Bahn. Weil man da, oder bei der BVG allgemein, in so einem Kasten drin ist und selbst wenn du es vorher merken solltest, kommst du nicht mehr raus.

Julia: Also klar, was so Konzerte angeht oder große Veranstaltungen, denkt man da vorher drüber nach. Ich war zum Beispiel letztes Jahr auf dem Oktoberfest, was auch ein relativ großes Ding war. Das ging dann aber nach einer Zeit. Gerade wenn man gemerkt hat, dass die Menschen ganz normal feiern.

Paula: Im Endeffekt wissen wir beide: Es war Zufall, es war einfach nur Pech und wir hatten Glück im Unglück. Der Punkt ist, dass wir nicht denken, dass es an uns persönlich gerichtet war. Es gibt viele Leute, die das Gefühl haben: „Oh mein Gott, ich bin persönlich angegriffen worden“. Aber der Anschlag ging nicht gegen uns, der ging einfach gegen die Menschheit. Ich sag mir immer: Statistisch gesehen sterben die meisten Leute im Bett. Also geh raus!


Hannah Hauswaldt studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und BWL an der FU Berlin. Während des Anschlags auf dem Breitscheidplatz war sie beim Handball-Training.



Jonathan Packroff studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der FU Berlin. Während des Anschlags war er zuhause in der westfälischen Kleinstadt Herdecke.