Charlottenburg: Zwischen Raum und Zeit

Charlottenburg: Zwischen Raum und Zeit

Seit Jahren ist der Stuttgarter Platz ein Projekt des Bezirks. Rund um den Stutti wird gebaut, verschönert und investiert, dennoch scheint ein Problem nicht zu verschwinden: das Drogengeschäft.

Von Annkatrin Rymell und Liza Wyludda

Es ist der Abend des zweiten Advents. Der erste Schnee des Winters hat das gutbürgerliche Charlottenburg weiß ausgekleidet. Am westlichen Ende des Stuttgarter Platzes befindet sich die Baustelle des neu geplanten, imposanten Cafés, welches zur Aufgabe hat, den Stuttgarter Platz zukünftig aufzuwerten. Auf der anderen Seite der Straße ein Kinderspielplatz, der zu dieser Jahreszeit verlassen in der Kälte liegt. Dazwischen: Das alte, leer stehende Gebäude der Reichsbahn und eine Menge Gestrüpp. Bei näherem Hinsehen erkennt man die Silhouette eines Mannes. Ein kleines Licht flackert in der Dunkelheit auf und leuchtet das konzentrierte Gesicht des jungen Mannes warm aus. Mit routinierten Handgriffen ziehen seine bleichen Finger eine Einwegspritze mit der goldenen Flüssigkeit auf und suchen nach einer geeigneten Stelle für den Einstich. Die großstädtische Geräuschkulisse ist gedämpft, Berlin scheint in Watte gepackt.

Das Problem ist kein neues; die Drogenszene am Stuttgarter Platz lässt sich bis in seine dunkle Vergangenheit der Rotlichtcafés und Kriminalität zurückverfolgen. Das Image mag lediglich Vergangenheit sein, verschwunden hinter sauberen Fassaden und Grünanlagen, doch die Drogenproblematik hält sich hartnäckig. Maritha Müller, Drogenpräventionsbeauftragte der Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit für Charlottenburg-Wilmersdorf, stimmt zu: »Der Stuttgarter Platz ist nach wie vor einer der Drogenschwerpunkte des Bezirks.« Die für den Drogenhandel günstige Verkehrsinfrastruktur ist der Grund, warum der Stuttgarter Platz Knotenpunkt der Szene in der City-West ist. Hier kreuzen sich Regionalbahnen, mehrere S-Bahnlinien und die U7.

Aufschwung oder mehr Schein als Sein?

Seit mehreren Jahren wird am und um den Stuttgarter Platz investiert und gebaut. Die Gegend um den S-Bahnhof Charlottenburg wirkt gepflegter als noch vor einigen Jahren. Der Kiez blüht, meint auch Peter Laase, Leiter der Planungs- und Koordinationsstelle für Gesundheit. Er ist hier aufgewachsen, erinnert sich noch gut an die Schmuddelzeiten des Stutti. Die Aufenthaltsqualität habe sich seit der Sanierung definitiv erhöht – »aber eben für alle«, sagt er. Die schönen Grün- und Parkanlagen bieten sich an, für den Konsum sowie als praktisches Versteck im Falle einer Razzia. Auch Polizisten haben eine gesunde Abneigung gegen das mit benutzten Spritzen übersäte Gebüsch – zu leicht können sich diese auch durch dicke Gummisohlen bohren.

Nach den polizeilichen Maßnahmen gegen den Drogenhandel in den Jahren 2015/16 war vorerst eine Veränderung der Lage am Stuttgarter Platz zu verzeichnen. Der von Fixpunkt e.V. betriebene Kanülenautomat unter der S-Bahn-Brücke zwischen Gervinusstraße und Stuttgarter Platz war weniger hoch frequentiert, es schien ruhiger bestellt um das Drogengeschäft am Stutti. Bewusst kann hier nur von einer Veränderung, nicht aber von einer Verbesserung, gesprochen werden. Sobald der Druck auf die Dealer wieder abnimmt, kann damit gerechnet werden, dass die zum Bundesplatz, Preußenpark oder auch Savignyplatz abgewanderten Teile der Szene wieder fest an den Knotenpunkt Stutti zurückkehren. Die Drogenszene ist eine mobile. »Sie reagiert sensibel auf Veränderungen im Umfeld«, äußert sich Laase.

Ein stationärer Konsumraum soll Abhilfe schaffen

Der Anblick von den vergilbten Drogenpräventionsmobilen, betrieben durch den freien Träger Fixpunkt e.V., die die Folgen des Fehlens einer niedrigschwelligen Kontaktstelle mit einem stationären Konsumraum, genutzt als Anlaufstelle für soziale und gesundheitliche Beratung sowie zum sicheren Konsum, schmälern sollen, ist Alltag am Stuttgarter Platz. Eine niedrigschwellige Kontaktstelle für Süchtige ist essentiell für die Präventions- und Aufklärungsarbeit. Konsumenten soll es so möglichst leicht gemacht werden, Hilfe und Beratung durch einen Sozialarbeiter in Anspruch zu nehmen. Ein stationärer Konsumraum, der als saubere Lokalität für den durch Sozialarbeiter überwachten Konsum und als beheizter Aufenthaltsraum für die oft wohnungslosen Konsumenten dienen soll, stellt sauberes Konsumbesteck, einen sicheren, von der Öffentlichkeit abgetrennten Raum und die Möglichkeit zu Erster Hilfe bei einer Überdosis oder anderer Komplikationen.

In ganz Berlin gibt es bislang nur zwei dieser sogenannten stationären Druckräume und keinen, der am Wochenende für die Konsumenten zugänglich ist; bei weitem nicht ausreichend für die ständig wachsende Millionenmetropole. Dem stimmt auch Müller zu: »Ideal wäre es, wenn es genügend stationäre Einrichtungen gäbe, dann könnte man mit den Mobilen auch schnell mal vor Ort sein, wo es nötig wird.«

Ebenso fehlt den sozialen Hilfsangeboten Personal. »Da sind wir einfach unterrepräsentiert für eine Stadt wie Berlin mit dem zahlenmäßigen Aufkommen an Drogengebrauch, Leuten, die auf der Straße leben, öffentliche Konsumräume aufsuchen«, berichtet Sozialarbeiter Matthias Frötschl von Fixpunkt, der seit 2009 Aufklärungsarbeit in der Drogenszene am Stuttgarter Platz betreibt. Seither gab es immer wieder Probleme, selbst für die Mobile einen geeigneten, festen Stellplatz zu finden. So kam es in der Vergangenheit vor, dass zeitweise nur ein Wohnmobil im Einsatz war und so der sichere Konsumraum wegfiel, was zu einem immensen Vertrauensverlust auf Seiten der Konsumenten gegenüber Fixpunkt führte, erinnert sich Frötschl. Heute parken die umfunktionierten Wohnmobile in der Kaiser-Friedrich-Straße Ecke Stuttgarter Platz. Für den sauberen Konsum sind lediglich vier Plätze in dem Konsummobil vorhanden, was oft dazu führe, dass Konsumenten abgelehnt werden und so doch auf die Parkanlage des Stuttgarter Platzes ausweichen müssen. Eine stationäre Lokalisation böte eindeutig mehr Plätze und eröffne auch andere Möglichkeiten, wie z.B. ausgedehntere Öffnungszeiten. Ebenso würde eine feste Anlaufstelle eine Konzentration bedeuten, die in der öffentlichen Wahrnehmung weniger auffälliges Verhalten seitens der Konsumenten begünstigt. Mehr saubere Konsumplätze würden zu weniger Konsum in den Parkanlagen und den Bahnböschungen führen, was Folgeerscheinungen wie weggeworfenes, benutztes Spritzbesteck und Müll in besagten reduzieren würde, so Laase.

Neben der hohen Fluktuation, bedingt durch die Flexibilität der Szene, die die Planung und Finanzierung verschiedener Maßnahmen erschwert, spielt noch ein anderer Umstand eine wesentliche Rolle, der die Implementierung eines festen Konsumraums am Stuttgarter Platz stört. Es fehlt an einer geeigneten Räumlichkeit. Vermieter stellen sich quer, wollen der Problematik in ihrem Eigentum keinen Raum bieten. Fixpunkt sucht nunmehr seit Jahren nach einer geeigneten Immobilie für sein Vorhaben, ist offen für Gespräche, will Vorurteile in Bezug auf die geplante Lokalität abbauen. Dies erweist sich allerdings weiterhin als schwierig. Anfragen nach bezirkseigenen Immobilien wurden abgelehnt, das Aufstellen eines Containers immer wieder aufgrund unterschiedlichster Begründungen, wie das Fehlen einer »geeigneten Freifläche«, wie es offiziell heißt, verworfen, erzählt Frötschl und steht nur wenige hundert Meter von der Baustelle des neuen 17 mal 17 Meter großen, entstehenden Caféneubaus, der die letzte Brache am Stuttgarter Platz erschließen soll, entfernt. Nun wird angedacht, ob ein Teil eines von Stadtrat Oliver Schruoffeneger geplanten Fahrradparkhauses für den S-Bahnhof Charlottenburg an den freien Träger untervermietet werden kann. Dies befindet sich momentan in der Prüfung.

»Bitte nicht vor der eigenen Tür«

Die Wahrnehmungen vom Zustand des Stuttgarter Platzes und auch die Haltungen gegenüber eines stationären Konsumraums sind durchwachsen, die Gefühle bei den Anwohnern ambivalent. Oft ist das Problembewusstsein da, man selbst möchte dennoch nichts damit zu tun haben. »Natürlich möchte ich es sauber und ordentlich haben, aber so einen Raum vor der eigenen Haustür oder im selben Haus zu haben, in dem man wohnt, empfinde ich als gruselig«, äußert sich eine Anwohnerin und steht damit stellvertretend für viele, die diesem Projekt in unmittelbarer Umgebung ihres Wohnsitzes eher abgeneigt sind. »Ich habe Kinder und möchte denen nicht erklären müssen, was das für eine Lokalität ist«, äußert sich ein in der unmittelbar an den Stuttgarter Platz angrenzenden Windscheidstraße ansässiger Familienvater. »Ab und an verirrt sich ein Süchtiger in unseren Hausflur«, erzählt ein weiterer Anwohner und setzt »verirrt« rhetorisch in Anführungsstriche.

Sozialarbeiter Frötschl erkennt durchaus auch eine aktive Anwohnerschaft, die sich in dem Fall engagiert und versteht, dass Süchtige Hilfe benötigen. Dennoch: Einige andere sind sich der Umstände vor ihrer eigenen Haustür gar nicht bewusst, wissen nicht, dass vor allem der Heroinhandel immer noch ein großes Thema am Stuttgarter Platz ist. Wahrgenommen und gut aufgenommen wird der neue Glanz, in dem der Stuttgarter Platz seit der Sanierung erstrahlt. »Ich steige seit Jahren hier am S-Bahnhof um, um zur Arbeit zu fahren. Hier hat sich einiges getan, wenn man es mit früher vergleicht«, berichtet ein Mann mittleren Alters und rauscht aus dem östlichen Eingang des S-Bahnhofs Charlottenburg, vorbei an Andreas. Andreas sitzt auf dem Boden, meistens zu der Zeit, wenn die Leute von der Arbeit kommen. »Geld verdienen« muss er, das geht am besten im Feierabendverkehr. Er lebt auf der Straße, kennt den Stutti und seine Dynamik, die Drogenproblematik gut. »Was sich seit der Sanierung verändert hat? Soll ich ehrlich sein? Eigentlich nichts«, sagt er nüchtern.


Annkatrin Rymell studiert im dritten Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit Nebenfach Englische Philologie an der Freien Universität Berlin. Später hofft sie, als Lektorin ins Verlagswesen einsteigen und international arbeiten zu können.


Liza Wyludda studierte vorerst Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Gegenwärtig befindet sie sich im dritten Fachsemester der Studiengänge Deutsche Philologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.