Glück im eigenen Geist

Glück im eigenen Geist

Im Buddhistischen Zentrum Ost der Karma Kagyü Linie meditieren jeden Abend rund 50 Männer und Frauen. Sie alle sind auf der Suche nach Freiheit und Glück. Im Schneidersitz seufzen oder sprechen sie leise vor sich hin und konzentrieren sich ganz auf ihre Gefühle und Erinnerungen. Irgendwann kommt dann der Moment, wenn sie von dem Erlebten loslassen können, wenn die Gefühle hinaus in die Welt gehen.

Von Julia Kartashova

In einem großen weißen Zimmer mit quadratischen gelben Kissen auf dem Boden und dreieckigen Fensterchen versuchen Jünger des Diamantweg-Buddhismus vor dem Altar mit Buddha-Statuen Ruhe, Freiheit und ihr Glück zu finden.

Für die Neulinge gibt es zuerst ein Einführungsgespräch. Die Schüler, die schon lange Zeit dabei sind, erzählen über Buddha, über seine Lehre und beschreiben die Meditationstechnik. Das macht Sabine N. gewöhnlich jeden Mittwoch. Die 58-jährige schlanke Frau mit hellen kurzen Haaren und lächelnden blauen Augen trifft die neuen Leute neben der Tür.

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Gemeinsames Meditieren (Foto: J. Kartashova)

Zuerst zeigt sie ihnen das gemeinsame Zimmer, wo man sitzen und sich mit den anderen unterhalten kann. Und dann begleitet Sabine die Neulinge zum Meditationsraum, wo sie über die Grundlagen von Buddhas Lehre erzählt. „Meditation ist das Wichtigste und gleichzeitig das Schwierigste im Buddhismus“, sagt Sabine. Sie sei seit über 25 Jahren Schülerin von Lama Ole Nydahl, der dieses Zentrum 1987 im damaligen Westberlin gründete. Buddhas Lehre sei keine Religion, sondern die Philosophie des Lebens, erzählt sie.

Im Buddhismus gibt es keinen Gott und keine Bibel. Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich. Dieses Verständnis soll den bewussten Aufbau von Erfahrungen ermöglichen, die zu Glück führen und künftiges Leid vermeiden können. Die Meditation soll helfen, verschiedene Schwierigkeiten im Leben zu überwinden, Ruhe und dauerhaftes Glück im eigenen Geist zu finden.

Das Zentrum der Karma Kagyü-Linie funktioniert wie eine große Familie. Vor der Meditation kommen die Menschen zusammen, um sich miteinander zu unterhalten, sie kochen und essen gemeinsam. Sie machen das völlig freiwillig und helfen dem Zentrum aus eigenem Wunsch heraus. Die Mitglieder geben ungefähr 15 Euro pro Monat, wenn sie sich das leisten können. Über 250 Menschen verschiedener Nationalität, Alters und Geschlechts unterstützen den Buddhismus von Lama Ole Nydahl in Berlin.

Jeder, der in das Buddhistische Zentrum kommt, hat seine eigenen Gründe dafür und seine eigene Geschichte. Einige möchten sich von irgendeiner Sucht befreien, andere wollen es schaffen, etwas Neues für sich zu finden, und wieder andere wollen negative Ereignisse in ihrem Leben verarbeiten.

Das will auch Oliv. Vor zwei Jahren hat er seinen Vater verloren. Damals war er 25 Jahre alt und studierte an der Freien Universität Mathematik. Nach dem Tod seines Vaters wusste Oliv nicht mehr, wer er ist und was er weiter machen soll. Das sei die schwerste Zeit in seinem Leben gewesen, niemand habe ihm helfen können, sagt er. „Mein Vater war das Vorbild für mich, er wusste immer, was man machen muss und konnte jedes Problem, jede Situation am besten lösen“, erinnert sich Oliv.

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Altar im Buddhistischen Zentrum Berlin (Foto: J. Kartashova)

Eines Tages fand er im Internet das Buddhistische Zentrum Ost der Karma Kagyü-Linie und entschied sich, die Meditation auszuprobieren. Der Mathematikstudent hatte keine Ahnung, was die Lotos-Pose oder die Gebetskette mit Holzkugeln in der Hand, die Mala, bedeutet. Er hat dann sehr viele Bücher über den Buddhismus gelesen und ist jeden Tag zur Meditation gekommen. „Das war quasi Seelenheil für mich, ich habe endlich innere Harmonie und Kraft zum Leben bekommen“, bekennt sich Oliv.

Im Zentrum Ost der Karma Kagyü-Linie praktiziert man die Meditation der Identifikation. Die Schüler müssen alles wiederholen, was ihnen der Lehrer sagt. Gewöhnlicherweise gelten hier die alten Schüler von Lama Ole Nydahl als Lehrer. Die Buddha-Anhänger sitzen in Lotos-Pose, das rechte Bein muss dabei über dem linken sein, die Hände liegen auf den Knien.

Der Lehrer sitzt neben den Schülern und liest das Mantra, die Seiten aus Buddhas Lehre. Jeder lässt jetzt in seinen Gedanken Gefühle und Erinnerungen hochkommen, positive wie negative. Er durchlebt sie wieder, versucht sie loszulassen und kommt zur Ruhe. Mit geschlossenen Augen können die Buddhisten das Licht des Glücks sehen, aber jeder Mensch hat sein eigenes Glück und seine eigene Gestalt dieses Lichtes. Während der Meditation können die Buddha-Jünger leise mit sich selbst reden oder seufzen. So entlassen sie die durchlebten Gefühle hinaus in die Welt.

Der Buddhismus lehrt die Menschen, sich von äußeren Bedingungen und Ereignissen unabhängig zu machen. Man soll seine verschiedenen Erfahrungen als gewöhnliche Reihenfolge des Lebens auffassen. Man soll sich immer daran erinnern, dass das Glück im eigenen Geist liegt.


P1030402Julia Kartashova
arbeitet als freie Journalistin in Rostov am Don, Russland, und schreibt unter anderem für die Regionalzeitung Krestjanin. Studiert hat sie Internationale Journalistik. Sie interessiert sich für soziale und kulturelle Themen, besonders für die Probleme der Jugendlichen. Das Grundprinzip der journalistischen Tätigkeit für Julia ist: „Das Wichtigste sind die Bedürfnisse der Gesellschaft, nicht die Wünsche des Staates“. Für ihr Praktikum fuhr sie täglich nach Potsdam zur Märkischen Allgemeinen Zeitung.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ Journalisten International ǀ Sommer 2013

2017-07-06T12:18:19+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, IJK, JIL '13, Lesen|Tags: , , , , , |