Harlem in Berlin

Harlem in Berlin

Der U-Bahnhof Kottbusser Tor gilt seit 30 Jahren als Problemort. Aus den Statistiken der Berliner Polizei geht hervor, dass die Zahl der Diebstähle und Überfälle sowie der Drogenhandel seit 2014 drastisch gestiegen sind. In einem Interview berichtet der Sozialarbeiter und Café-Betreiber Ercan Yasaroglu von seinen Erfahrungen, Beobachtungen als Aktivist und seinem Einsatz, Kreuzberg zu einem sichereren und friedlicheren Ort zu machen.

Von Sude Yildiz

Zwischen Bierflaschen, Cafés und Uringestank am Bahnhof: Willkommen am Kottbusser Tor

Die U-Bahn fährt ein. Es ist Samstagnachmittag. Die Türen der Bahn öffnen sich zischend. Beim Heraustreten wird man von dem in der Luft hängenden, stechenden Geruch einer Mischung von Alkohol und Urin begrüßt. Leer ist der Bahnhof des Kottbusser Tors inmitten des belebten Bezirks Kreuzberg so gut wie nie. Um die verblassend-grüne Sitzbank steht versammelt eine Gruppe von Männern, die sich lauthals, meist in unverständlicher Sprache, miteinander unterhalten. Pfand- und halbleere Bierflaschen auf der Bank und dem Boden, die überquellende Mülltonne vervollständigen den so gewohnten Anblick.
Am Ende der vom Bahnhof rausführenden Treppen empfängt einen ein etwas helleres Bild. Der Platz um das Kottbusser Tor ist belebt. Menschen mit Einkaufstüten, Handys an den Ohren und Kindern an den Händen gehen ihren alltäglichen Geschäften nach. Wer hier hungrig wird, nach einem gemütlichen Ort zum Entspannen sucht, oder auch nur etwas Spaß haben möchte, wird schnell fündig. Von zahlreichen Bäckereien, Cafés, Sportwettläden zu Casinos oder Restaurants findet sich hier alles dicht beieinander.

Ein Treffen mit Ercan Yasaroglu

Auf der Suche nach Antworten auf die Fragen, was diesen Teil Kreuzbergs so gefährlich macht und wie die aktuelle Lage aussieht, treffe ich den Sozialarbeiter und Aktivisten Ercan Yasaroglu in seinem Büro direkt neben seinem „Café Kotti“ auf der Balustrade am Kottbusser Tor. Von hier aus hat man einen guten Überblick über den ganzen Platz. Unser Gespräch dauert eine dreiviertel Stunde und Herr Yasaroglu berichtet mir von seinen Beobachtungen, seinen Erfahrungen und von seinem Engagement für den Kiez. Ich frage ihn, was ihm an diesem Bezirk und vor allem an diesem Ort gefällt.

„Die Vielfalt“, antwortet er. „Kreuzberg ist ein Raum, welcher hunderte kulturelle Hintergründe und Herkünfte beherbergt. Es handelt sich hierbei um eine Ressource, die wir nutzen können.“ Diese Vielfalt sei durch die steigenden Überfälle, den Drogenhandel und die Zunahme von Gewalt jedoch bedroht.

Um dieses ‚Wir’ bewahren zu können, müssen wir Verantwortung übernehmen. Das heißt, wenn hier irgendwelche unmenschlichen Sachen passieren; jemand beklaut oder angegriffen wird, sexistische, oder homophobe Übergriffe geschehen, jede Art von Rassismus – da muss eingegriffen werden. Diese ganzen Provokationsräume – so nenne ich das – müssen aufgeräumt werden.

Neben kultureller Vielfalt birgt dieser Ort auch Schattenseiten. Aus den Statistiken der Berliner Polizei geht hervor, dass die Zahl der Überfälle, Diebstähle und Drogendealer seit 2015 gestiegen ist. Ich frage Herrn Yasaroglu nach persönlichen Eindrücken und ob er diese Überfälle mitbekommt. „Ständig. Durch die Galerie habe ich einen Ausblick auf den ganzen Platz. Und die Akteure, die Neuankömmlinge, das sind keine Flüchtlinge. Das betone ich nochmal. Vor zwei Jahren sind diese Akteure über Frankreich und Italien hergekommen und machen gemeinsame Handlungen und haben gegenseitige Marktkämpfe mit den drei bis vier Dealern aus dem Kiez.“ Er berichtet von Vergewaltigungen und sexuellen Missbräuchen von Frauen in dem Gebäude neben an. Einmal habe er auch mitbekommen, wie zwei Männer über den ganzen Platz verfolgt und gelyncht wurden und das nur, weil sie homosexuell waren.

Ein Begegnungsraum inmitten von Kreuzberg

Eingang zum U-Bahnhof Kottbusser Tor, Foto Sude Yildiz

Ich frage ihn, ob er schon mal den Gedanken hatte, sein Café in einem anderen Bezirk als Kreuzberg zu betreiben. Entschlossen antwortet er: „Nein.“

Dann würde kein Begegnungsraum entstehen. Das ‚Café Kotti’ ist ein Begegnungsraum der Vielfalt. Das Café ist für alle. Wir müssen ‚Schubladen-Definitionen’ aufheben. Diese ganzen ‚Schubladen’ verhindern eine ehrliche Begegnung auf gleicher Augenhöhe; ob Frau, Mann, heterosexuell oder homosexuell etc.. Wir müssen dieses Umdenken realisieren. Diese Schubladen müssen weg! Die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, sagte nach der Silvesternacht, ‚haltet euch von den Fremden eine Armlänge fern’. Das ist dieses Unterschied-Betonen. Unverantwortliche Aussagen! Daher werde ich mein Café nicht woanders betreiben, das ist ein Begegnungsraum und diesen möchte ich bewahren.

Herr Ercanoglu berichtet mir davon, dass er mit allen politischen Fraktionen schon über die Probleme am Kottbusser Tor gesprochen und diskutiert habe. Auch der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt habe sich mit ihm zusammengesetzt. Zu seinem Treffen mit der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrman (Grüne) erzählt Herr Ercanoglu Folgendes: „Ich traf die Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann hier. Ich erzählte ihr, dass es insgesamt 52 Gewerbeeinheiten gibt. Sie hat sich nur mit dreien von ihnen getroffen. Wer waren diese drei Einheiten? Das waren die eingeborenen Gewerbebetreiber. Sind die restlichen 49 nicht ihre Bürger? Das sind die Ausländer, die Immigranten, das sind diejenigen mit einem Migrationshintergrund. Wenn eine Bezirksbürgermeisterin die in ihrem Bezirk lebenden Gewerbebetreiber und Bewohner nicht als ihre Bürger sehen kann, dann habe ich Schwierigkeiten mit dieser Gesellschaft. Für mich ist das Rassismus. Die Dinge müssen wir mit dem Namen nennen.“ Auch Frank Henkel von der CDU zieht Herr Ercanoglu zur Verantwortung: „Der Herr Henkel, Innensenator, ist für diese Verschmutzung verantwortlich. Wir haben Briefe geschrieben und zahlreiche Kommunikationsmöglichkeiten versucht: Bezirksamt, Berliner Senat etc.. Ich habe versucht, alle Kontakte in Bewegung zu setzen. Ich habe mit allen Fraktionen geredet, da habe ich gesehen, dass wir nicht Bürger sind. Deshalb musste ich anders agieren.“

Harlem in Berlin

Durchgang zwischen Gebäuden am U-Bahnhof Cottbusser Tor, Foto Sude Yildiz

„Harlem und Kreuzberg sind sich ähnlich.“ Der Café-Betreiber vergleicht den Bezirk und vor allem den U-Bahnhof Kottbusser Tor mit dem Viertel im New Yorker Bezirk Manhattan, welcher für seine Armut, hohe Kriminalitätsrate und die Drogenszene bekannt ist.

Dieses Jahr sind Bundestagswahlen. Ich werde noch lauter darüber reden, dass das was in diesem Raum passiert, Harlem ist.

Mit anderen Künstlern und Künstlerinnen, unter Anderem auch aus New York, plant er ein geschichtlich-künstlerisches Projekt um den Vergleich zwischen Kreuzberg und Harlem zu verbildlichen.

Selbstjustiz als Lösung?

Von Selbstjustiz hält der Sozialarbeiter nichts. Den anderen Gewerbebetreibern und Bewohnern gegenüber mache er oft deutlich, dass keine Gewalt angewendet werden dürfe. „Wenn wir Gewalt angewandt hätten, wären wir wieder ‚die nicht integrierten Türken, Muslime, Kurden und Araber‘. Deshalb sage ich, Selbstjustiz machen wir nicht. Wir dürfen nur mit Vernunft agieren. Verantwortlich und vernünftig.“
Gibt es irgendetwas, was er sich mehr von den Bewohnern und den Politikern wünsche, frage ich ihn zum Abschluss unseres Gespräches.

Mein Appell an jeden Bewohner lautet folgendermaßen: Egal wo ihr herkommt, egal welche Unterschiede wir aufweisen, und das bundesweit und nicht nur auf Kreuzberg bezogen: geht mit euren Lebensräumen verantwortlich um. Übernehmt Verantwortung. Nicht, wo ich Opfer werde nach Zivilcourage rufen, sondern in jedem Ort zu jeder Zeit diese Zivilcourage zeigen. Wir müssen als Bürger die Verantwortung über unsere Lebensräume übernehmen. Und wir müssen umdenken. Ohne Rassismus, ohne Homophobie, ohne Sexismus, Islamophobie oder Antisemitismus. In diesen Räumen sollte Zivilcourage herrschen.

Von den demokratischen Kräften fordert er ein Umdenken und ein verantwortungsbewussteres Handeln: „Wir müssen uns jetzt auf gleicher Augenhöhe begegnen. Ich bin hier und ich bin Bürger. Ich habe Rechte und diese werde ich in Anspruch nehmen.“

Kreuzberger Alltag

Ich bedanke mich bei Herrn Ercanoglu für das Interview und verlasse sein Büro. Die Treppe von der Balustrade runtersteigend schaue ich nocheinmal kurz über den Platz. Die Sonne erhellt das Viertel. Vor dem kleinen türkischen Markt mitten auf dem Platz stehen junge Männer. Sie sind dunkel gekleidet, die Hände in den Taschen und mit schweifenden Blicken stehen sie da. Vor dem Kaisers-Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzen zwei Personen auf Pappkartons auf dem Boden. Neben ihnen liegt ein Hund mit gesenktem Kopf und vor ihnen droht ein zerknickter Kaffeebecher mit einigen Münzen vom Wind weggeweht zu werden. Die Ampel leuchtet grün. Aus dem Augenwinkel sehe ich nur noch, wie ein Mann auf dem hohen Uhrenmast neben der Ampel sitzt. Wie er da raufgekommen ist, weiß ich nicht. Aber in Kreuzberg wundert das keinen so recht.


Sude Yildiz studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im 5. Semester an der Freien Universität Berlin.


2017-07-06T12:17:57+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , , |