Die Wahrheit über den Wedding

Titelbild: 'U-Bahnhof Wedding at Müllerstraße' von Christian Watzke / CC BY 2.0

Die Wahrheit über den Wedding

Schon in diesem Artikel über Kulturfestivals im Wedding übt Eberhard Elfert viel Kritik. Kulturelle Entwicklung im Wedding sei nicht gewollt und „Entwicklungsverhinderer“ würden ganz bewusst mit historischen Mythen argumentieren, um ihren eigenen Lebensstil zu erhalten. In einem zweiten Interview äußert er nun Erstaunliches über den Bezirk, der seit 20 Jahren „im Kommen“ ist. Ein Interview über Architektur, Ausgehbezirke und Recklinghausen-Süd.

Von Enno Eidens

In deinem letzten Gespräch mit mir hast du den Wedding als Entwicklungsverlierer bezeichnet. Was hast du damit gemeint? Welche Entwicklung hat der Wedding nicht geschafft und gegen wen hat er verloren?

Gegenfrage: Was ist der Wedding? Nehmen wir da die aktuellen Ortsteile Gesundbrunnen und Wedding, den Bezirk Mitte oder den Verwaltungsbezirk von 1920? Mein Eindruck ist, dass die Leute, die heute über den Wedding sprechen, überhaupt keine sinnvolle Definition haben, das ganz bewusst ignorieren und politisch nutzen. Räume sind immer soziale Konstruktionen, hinter denen politische Absichten stehen.

Was ist der Wedding für dich?

Ich würde die Verwaltungsbezirksgrenzen des Wedding von 1920 nehmen und das ist jetzt ein Teil des Bezirks Mitte. Damit hätte ich eine Diskussionsgrundlage, eine Raumbeschreibung, eine Raumgrenze. Und noch einmal, keiner, der hier über den Wedding spricht, weiß worüber er genau redet. Das ist ein großes Problem im Diskurs.

Welche Auswirkung hat eine solch unklare Definition auf die Bevölkerung?

Das lässt sich gut an der Gründung Groß Berlins im Jahre 1920 und der zeitgleichen Bildung des Stadtbezirks Wedding festmachen. Das heutige sogenannte Brunnenviertel war zum Beispiel vorher ein Teil der Oranienburger und der Rosenthaler Vorstadt. Von der Substanz, Struktur und Bebauung her war das eher ein Viertel wie Prenzlauer Berg. Durch die Bildung der neuen Stadtbezirke, in der Bezirksfusion von 2001, und die Grenzziehung zwischen Wedding und Mitte, zwischen Nordbahnhof und Bernauer Straße, wurden die Menschen dort auf einmal Richtung Norden orientiert. Weg vom städtischen und hin zum industriellen geprägten Leben des Weddings. Das war für die Leute dort eine Katastrophe.

Wenn wir über den Wedding sprechen, dann sprechen wir also über verschiedene Geschichten, die zusammengewachsen oder gezwungen wurden?

Ich würde sagen gezwungen. Das erste Problem ist die Verwaltungsbezirkszuordnung, das zweite, dass die Alliierten die Bezirksgrenzen von 1920 für ihre Sektorengrenzen genutzt haben und es dann zur Konfrontation der politischen Systeme in Berlin kam. Daraus folgte die Zugehörigkeit zu einem komplett anderen politisch-wirtschaftlichen System. Es sind also Stadträume, die historisch miteinander verbunden waren, getrennt worden, auch in ihrer Funktionalität.

Viele Gebiete der Norderweiterungen aus der NS Zeit (1937) wie zum Beispiel die ehemalige Hermann Göring und heutige Julius-Leber-Kaserne, gehören nun zum Ortsteil Wedding. Das ist bis heute die größte für eine Funktion genutzt Fläche im ganzen Bezirk Mitte, und die wurde damals wie heute nicht von Arbeitern, sondern von Soldaten genutzt. Wenn heute in politischen Diskussionen über den Wedding gesprochen wird, wird dies allerdings komplett ausgeblendet. Was klar zeigt, dass „Wedding“ zu einem politischen Begriff und zu einem Weltbild geworden ist, mit dem man eigene politische Ziele durchsetzen will.

Warum ist es dir so wichtig, dass man darüber spricht?

Die Frage ist ja, worauf beziehe ich mich, wenn ich über den Wedding spreche. Oft hört man ja, der Wedding sei schon immer ein Arbeiterbezirk gewesen. Wenn man mal in die Karten schaut, ergibt sich ein komplett anderes Bild. Nur der kleinste Teil der Bebauung besteht aus „alter Bebauung.“ die wir mit der typischen Mietskasernen und Arbeiterquartieren verbinden.  Ein großer Teil der Bebauung entstand ab 1900 und später, da gibt es dann maximal nur noch einen Hinterhof. Die größten Flächen des Weddings wurden erst in den 20er, 50er und 60er Jahren bebaut. Die Vorstellung, der Wedding sei ein dicht bebautes Gebiet wie Kreuzberg, die funktioniert überhaupt nicht.

Wenn der Wedding kein Arbeiterbezirk ist, was ist er dann?

Der Rückbezug auf den Wedding hat zwei Ebenen. Man spricht über ein verdichtetes innerstädtisches Gebiet mit Mietskasernen verbunden mit einer widerständigen Arbeiterbewegung.

Verdichtet und innerstädtisch – eigentlich gut für eine lebendige Ausgehkultur…

Ist es aber nicht! Zum einen nicht von der Bebauungsstruktur. Wir haben hier große Freiflächen, viel 20er Jahre Bebauung. Der Wedding kann allein von der Struktur her kein Ausgehbezirk wie Kreuzberg werden. Vor allem ist der Wedding als Arbeiterbezirk ein Mythos, der bewusst hochgehalten wird. Wenn man sich die Geschichte und die bauliche Geschichte anguckt, stimmt das überhaupt nicht mehr. Der Wedding ist ein randstädtisches Gebiet, bis heute durchmischt mit 20er Jahre Architektur.

Wo sind hier die Unterschiede zu Kreuzberg?

Es gibt keine Geschäfte. 20er Jahre Architektur lässt keine Urbanität zu. Kreuzberg wurde im Vergleich zum Wedding deutlich dichter gebaut und – die Stadt hört dort am Rand nicht auf. Hier im Wedding hört die Stadt auf, wenn wir die dicht bebauten Gebiete verlassen. Schon an der Seestraße fieselt die Stadt aus. Du hast ein paar Kerngebiete, aber dann kommt schon die 20er und 30er Jahre Struktur. Wir haben einfach wenige große Quartiere. Malplaquestraße, Sprengelkiez und ein paar andere. Viel mehr gibt es nicht.

Auch spannend ist die 50er und 60er Jahre Architektur, also Gebäude, die wie Würfel auf die grüne Wiese gelegt wurden. Vielfach ist man mit dem Bagger in gewachsene Strukturen reingefahren und hat die Achsen und Bezüge zerstört, weil man ganz stark auf den Abriss der historischen Stadt gesetzt hat.

Der Wedding ist im Vergleich zu Kreuzberg und Neukölln also eher vorstädtisch?

Genau! Weil die Stadt aufhört zu existieren. Kleingärtneranlagen, Schrauberbuden, 20er Jahre Architektur. Das was wir uns als urbane Kultur wünschen ist eben nur im verdichteten gemischten innerstädtischen Raum möglich.

Und das ist auch ein Grund dafür, dass der Wedding eben kein Arbeiterbezirk ist?

Ja, denn diese tausend Hinterhöfe hat es ja gar nicht gegeben. Die Hauptstruktur der Bebauung hat maximal ein bis zwei Hinterhöfe. Alles was du hier siehst – da hat sich die Bauordnung um die Jahrhundertwende schon längst geändert.

(Elfert zeigt auf historische Karten, erklärt wo Gebäude abgerissen wurden und in den 50ern neue Architektur gebaut wurde. Er Beschreibt die unterschiedlichen Typen der Bebauung. Für den Laien sind das nur farbige Formen, für den studierte Historiker sind das verschiedene Baustile, Epochen und Strukturen. Man erkennt die großen Unterschiede zu Kreuzberg, Mitte und Neukölln. Die Karten sind hier öffentlich einsehbar.)

Der Wedding als Partykiez

Wedding Tegeler Straße von Fridolin freudenfett (Peter Kuley) CC BY SA 3.0

Wedding Tegeler Straße von Fridolin freudenfett (Peter Kuley) CC BY SA 3.0

Wir haben also die falschen Anforderungen an den Wedding, wenn wir uns einen Partykiez wünschen?

Du kannst aus dem Wedding keinen Partykiez machen, weil es die baulichen Gegebenheiten schon mal nicht gibt. Damit ist jede Diskussion, die du um Gentrifizierung im Wedding führst, vollkommen substanzlos. Mein Eindruck ist, dass Leute, die so argumentieren, sich überhaupt nicht mit der Geschichte auseinandersetzen. Diese Leute, die sagen „wir wollen keinen Partykiez“, tun so, als wäre das möglich, obwohl das überhaupt nicht möglich ist.

Gibt es noch andere Unterschiede in der Entwicklung des Weddings im berlinweiten Vergleich?

Während in anderen Bezirken in den 1980er Jahren zum Beispiel regionalgeschichtliche Museen einrichteten also Kritik am Heimatbegriff übten, wurde hier im Wedding ein Heimatmuseum gegründet. Es gibt hier im Wedding eine Kultur, aber die entscheidet sich stark von dem, was es in Kreuzberg gibt. Kultur ist immer etwas, das versucht, an aktuelle Entwicklungen anzuschließen, Entwicklungen darzustellen und Antworten auf politische Fragen zu geben. Das erwartet man von Kultur in einem innerstädtischen Ort und das findet hier im Wedding nicht statt. So gibt es hier zum Beispiel nichts, was mit dem Lido oder dem Astra Kulturhaus vergleichbar wäre.

Die Kultur erfüllt ihre Aufgabe im Wedding nicht?

Nein. Gehen wir noch mal auf die Vergleichbarkeit. Es gibt hier kein Ballhaus Naunystraße, wie es das in Kreuzberg gibt. Dort hat man zum Beispiel ein postmigrantisches Theater eingerichtet. Dort beschäftigt man sich mit der Geschichte der Migration und thematisiert den migrantischen Blick auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Das ist für mich migrantische Kultur, wie sie auch im Wedding sinnvoll wäre.

Wenn ich hier im Wedding eine Veranstaltung mache, dann wird mir immer gesagt, ich soll was Internationales machen, was auch unsere Migranten anspricht. Wenn ich dann sage, ja holt doch das postmigrantisches Theater her, die haben grad ein Stück das heißt „Bist du schwul oder bist du Türke?“, dann hört mir keiner mehr zu. Das habe ich an ganz vielen Gremien hier vorgeschlagen. Auch Veranstaltungen mit aktuelle Rock- und Popmusik, also der Inbegriff von Internationalität, sind hier oft nicht gewollt.

Was für Ideen hattest du noch für den Wedding?

Ich hatte zum Beispiel vorgeschlagen, die Parade des Christopher Street Day hier am Leopoldplatz starten zu lassen, um der Homophobie hier zu kontern – auch da hört mir keiner zu. Hier im Wedding gibt es Entwicklungsverhinderer, die wirkliche Veränderung und offene Diskurse überhaupt nicht wollen.

Wer sind diese Entwicklungsverhinderer und wie wirken Sie auf das kulturelle Leben im Wedding?

In den Bürgergremien, die unter anderem über die Fördergelder auch im Bereich der Kultur entscheiden, sitzen Leute aus der 50-60 plus Generation, ich würde die mal als Kleinbürger bezeichnen, denn der Wedding ist wie gesagt vorstädtisch-kleinbürgerlich geprägt. Da gibt es Bestrebungen veraltete Weltbilder aus den 80er Jahren umsetzen. Wenn ich heutzutage auf so einer Grundlage entscheide, muss das erstmal schiefgehen. Viele dieser Leute haben Angst vor Veränderung und kennen Sich mit der Entwicklung in dieser Stadt mal nun überhaupt nicht aus. Die Entscheidungsträger sorgen also schon da, zum Beispiel im Quartiersrat, dem ich angehöre, dafür, dass positive und sinnvolle Entwicklungen behindert werden. Auch die Verwaltung kennt sich mit solchen Dingen überhaupt nicht aus.

Man will seinen Raum behaupten, das ist doch gewöhnlicher Konservativismus.

Ja, aber in einem Raum, der eine gewisse Dynamik braucht, ist das nicht zwingend das Beste. Das sieht man zum Beispiel daran, als Anonyme das Straßenschild Tegeler Straße mit dem Aufdruck „Simon-Dach-Straße“ überklebt haben. Das ist doch völliger Blödsinn. Damit werden Kneipiers diskreditiert, also ganz normale Leute, die Arbeitsplätze schaffen. Die nach den ganz normalen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft einen Laden führen. Da wird wieder einmal ein Feindbild aufgebaut, um einen bestimmten Lifestyle zu erhalten. Mittlerweile gibt es auch Forschung dazu, die sagt, dass Leute, die als Entwicklungsverlierer zu bezeichnen sind, einen bestimmten Trash in solchen Kiezen stilisieren, weil sie selber keinen Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungsprozesse mehr finden und dass das Hochstilisieren des Trashs dann deren politische Haltung sei.

Was hältst du denn zum Beispiel vom inzwischen geschlossenen Stattbad Wedding? Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Von den Gründen der Schließung mal abgesehen, das war zumindest ein Ort, wo der Wedding einen Anschluss an stadtweite kulturelle Formate gefunden hat. Das war ein hartes Brot, Leute dahin zu holen, aber da sind wirklich stadtweite Kulturformate verhandelt worden. Wenn so ein Ort in Kreuzberg oder Friedrichshain gewesen wäre, wäre man bemüht gewesen eine Lösung gegen die Schließung zu finden. Der Bezirk hätte da auf jeden Fall versucht, diese Institution zu erhalten. Die Musikveranstaltungen waren auf hohem Niveau, die Kulturveranstaltung haben internationale Künstler angelockt. Was es da an Veranstaltungen mit internationalem Format gab. Von Seiten des Bezirks gab es hier im Wedding aber kein ernsthaftes Bemühen, die Institution Stattbad mit seiner kulturellen Leistung zu erhalten.

Wie könnte man den Wedding kulturell nach vorne bringen? Welche Ideen hast du?

Was ich wichtig finde – und das ist auch meine Hoffnung, ist, dass junge Leute in diese Strukturen reingehen und dort auch aktiv werden. Wenn du dir die heutige Außenkommunikation der Helferstrukturen, also der Quartiersmanagements und so anschaust, dann bekommst du das Gefühl, die Helfer bräuchten selber Hilfe, weil die Art, wie sie kommunizieren, so unprofessionell ist.

Allerdings sehe ich da auch ein Problem. Die jungen Leute gehen nicht mehr ideologisch vor, sondern unabhängig und individuell. Sie sind dabei politisch eigenständig und wollen möglichst wenige Überschneidungen mit staatlichen Institutionen. Ich denke, dass unsere Gesellschaft dabei mehr und mehr Bindungskräfte verliert, die eine Gesellschaft braucht. Das sieht man auch an den aktuellen zersplitterten Parteien. Ich hoffe auf diese jungen Leute, habe aber Sorgen, dass das funktioniert.

Welche Art der Entwicklung würde am besten zum Wedding passen?

Wenn wir jetzt schon festgestellt haben, dass der Wedding in vielen Dingen auf dem Niveau von Recklinghausen-Süd ist, also vorstädtisches Gebiet mit Kleinbürgern, die überhaupt keinen Anspruch haben, an innerstädtische Kontexte anzuschließen – vielleicht sollte man sich im Wedding dann einfach mal zurücklehnen und sagen „wir sind hier auf dem Niveau von Recklinghausen-Süd und da wollen wir auch bleiben.“

Titelbild: ‚U-Bahnhof Wedding at Müllerstraße‘ von Christian Watzke / CC BY 2.0


Enno Eidens studiert seit 2014 Deutsche Philologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der FU. Neben dem Studium schreibt er für das Campusmagazin FUrios und arbeitet für Zeit Online im Bereich Community Engagement. Als Wahl-Weddinger liegen ihm die vielen kleinen Probleme des Bezirk am Herzen. Twitter: @bostonbblack


2017-08-08T13:58:29+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , , , |