Das Kottbusser Tor – ein Ort mit zwei Gesichtern

Das Kottbusser Tor – ein Ort mit zwei Gesichtern

Drogengeschäfte, Raubdelikte, Körperverletzung, sexuelle Belästigung – die Kriminalität am Kotti steigt. Gleichzeitig ist es immer noch eine Art „place to be“. Wir waren vor Ort, um die Widersprüchlichkeit genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein Artikel – zwei Erfahrungsberichte.

Von Florian Prokop und Sabrina Schweder

Seit über vier Jahren wohne ich zehn Minuten vom Kottbusser Tor entfernt. Ich bin fast an jedem zweiten Tag dort. Mal morgens, mal abends, in der Nacht. Sonntagmorgens laufe ich gern am Kotti entlang. Der Tag beginnt und ich hole mir einen überteuerten Kaffee und einen veganen Cookie und lese in der Dresdner Straße Zeitung. Wenn ich dann genauer schaue, sehe ich eine Obdachlose gegenüber am Hauseingang aufwachen. Auf dem kleinen Spielplatz am Ende der Dresdner Straße wachen ebenfalls Junkies auf. Sie trüben das Idyll.

Eine meiner Lieblingsbars befindet sich direkt am Kotti. Abends ist der Platz ein Magnet für Nachtschwärmer. Oft treffe ich mich hier mit meinen Freunden, um in die Nacht zu starten oder einfach die ganze Nacht zu verbringen. Ich bin zu allen erdenklichen Zeiten, nüchtern oder betrunken, über das Kottbusser Tor gelaufen. Passiert ist mir nie etwas. Aber seit Neuestem habe ich dort Angst.

Wo kommt diese Angst her und wovor fürchte ich mich? Ich glaube, sie hat vor allem mit den zahlreichen Medienberichten zu tun, die gerade über das Kottbusser Tor im Fernsehen, im Netz und im Radio zu finden sind. Ob ZDF-Aspekte, Deutschlandradio oder Berliner Zeitung: Die Headlines lauten “Ist der Kotti eine No-Go Area?”, “Brennpunkt Kotti – die Gewalt eskaliert” oder “Das Kottbusser Tor ist der Platz der Gesetzlosen”. Die Berichte sagen: Der Kotti, schon immer ein Brennpunkt, ist jetzt noch gefährlicher.

Ich treffe mich mit Leon. Er wohnt in einer großen Vierer-WG direkt neben dem Kaisers, vor dem sich auch die Junkies treffen. Wie empfindet er den Kotti? Er sagt: “Ich lebe jetzt seit sechs Jahren am Kottbusser Tor und für mich ist das einfach mein Zuhause. Hier hab ich meine Freunde, meinen Späti, meinen Supermarkt und meine Nachbarn. Viele Leute kenne ich vom Sehen, inzwischen nicken wir uns zu als Begrüßung. Vom Leben der meisten Nachbarn hab ich keine Ahnung, aber wir respektieren uns und nerven uns auch nicht. Angst hab ich keine, wie viele denken. Meine Mum wohnt auf dem Land in Schleswig-Holstein, die denkt, ich wohne in einem Ghetto, weil sie das so im Fernsehen erzählt bekommt.“

In den Medienberichten ist von organisierten Banden, Antanztricks durch Taschendiebe die Rede. Von immer aufdringlicheren Drogendealern. Also eigentlich alles wie immer. Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache: Die Berliner Polizei registrierte im vergangenen Jahr 775 Taschendiebstähle am Kottbusser Tor, viermal so viele im Vergleich zum Jahr 2013. Die Zahl der Drogendelikte hat sich von 2014 auf 2015 verdoppelt, wie Spiegel Online berichtet. Es ist also wirklich schlimmer geworden am Kotti. Natürlich fürchte ich mich davor, nachts plötzlich ausgeraubt zu werden. Plötzlich laufe ich über den Kotti, meinen guten alten Kotti, und halte meine Tasche ein wenig fester.

Trotzdem, Leon bestätigt meine Beobachtung: Das es schlimmer geworden ist, ist ihm ebenfalls nicht aufgefallen. Es hat sich etwas verändert. Leon verhält sich anders als früher: “Nicht nur, dass halt meine Mum bei mir anruft und fragt, ob ich sicher bin und sich Sorgen macht, ich geh jetzt etwas bewusster über den Kotti. Also ich hab auch von diesen Antänzern bislang nur gelesen und noch keine gesehen. Wenn ich Geld abhole achte ich schon darauf, dass mich keiner sieht, keiner hinter mir steht und so. Das ist mir vor mir selbst manchmal peinlich, weil ich so einen kleinen Rassismus in mir aufsteigen sehe. Bei bestimmten Typen von Leuten bin ich vorsichtiger. Das stört mich und ich arbeite daran, das nicht an mich ran zu lassen weiter.”

Da geht es mir sehr ähnlich. Ich erwische mich, wie ich mir die Leute genauer anschaue, die mir hier entgegen kommen. Sind diese drei offenbar türkischen Jugendlichen vielleicht Taschendiebe, die mir mein Geld klauen wollen und das dann an ihre Clan-Bosse abtreten müssen? Ich schäme mich für diese Gedanken, denn sie sind ganz schön rassistisch. Kreuzberg war schon immer ein Anziehungspunkt für Migranten; Türken, Kurden, Araber. Die meisten von ihnen sind gut integriert.

Ich frage Leon, was er denkt, was das Problem am Kotti ist? “Ich glaube wir hatten hier schon immer ein Problem mit Drogen. In der City-Toilette vor unserem Haus sind ständig Sanitäter und ziehen da jemanden raus, der sich zu viel Heroin reingepfiffen hat. Vielleicht muss Deutschland generell mal seine Drogenpolitik überdenken. Also nicht nur ein Problem am Kotti. Hier wird es nur einfach sichtbar. Einbrüche sind auch ein Problem – bei mir ist noch nichts passiert aber bei Freunden von mir wurde schon dreimal die Tür aufgebrochen und Laptops und so geklaut. Wäre wichtig den Charme des Kotti nicht aufzugeben und gleichzeitig für mehr Sicherheit zu sorgen. Aber der Kotti ist vielleicht einfach nur der Blick durchs Vergrößerungsglas auf die Probleme in unserer Gesellschaft. Gentrifizierung, arm-reich Unterschied, Integration. Sowas.”

Inzwischen ist die Polizeipräsenz erhöht worden. Aber hilft das wirklich? Was sagen die Ladenbesitzer? Einer, der es wissen muss, ist Ercan Yasaroglu – Anwohner, Betreiber des Café Kotti und Sozialarbeiter. Sabrina Schweder hat sich mit ihm getroffen:

Nächste Station: Endstation?

 Mit der U1 mache ich mich auf den Weg zum Kottbusser Tor. „Kotti“ – so sagt es der Berliner liebevoll. Ich frage mich, ob der Platz, der derzeit – mal wieder – einen solch immensen Medienrummel verursacht, diese Verniedlichung noch verdient. Um den Kotti ranken sich mehr Geschichten, als heiratswillige Damen um unseren allseits geschätzten Rekordnationalspieler Lothar Matthäus. Und bei diesem Gedanken kommt auch schon die Durchsage: „Nächster Halt: Kottbusser Tor“.

Ich steige aus der Bahn, sehe mich um. Nach Junkies, nach Spritzenautomaten, nach Kriminellen. Ich beobachte das bunte Treiben. Und das ist es hier wirklich. Junge Leute, die beim hiesigen Gemüsehändler frisches Obst kaufen. Frauen, die sich mit ihren Freundinnen in den Cafés treffen. Männer, die ihre LKW’s entladen und weiterziehen. Aber natürlich auch die sozial schwachen Menschen sind hier zu finden. Sie versammeln sich in einer größeren Gruppe auf einem Platz an der Adalbertstraße. Menschen aller Nationalitäten kann man hier beobachten. Kinder spielen in dem lauten Trubel. Eine Schulklasse, dem Dialekt zufolge aus dem Süden des Landes, überquert mit mir die Straße. Sichtlich beeindruckt von dem Treiben, mit dem sie gerade konfrontiert werden.

Mein Ziel ist das Café Kotti. Erreichen kann man es durch eine Außentreppe, die man eine Etage nach oben steigen muss. Draußen auf der Terrasse erwarten mich kleine Tische, Sonnenschirme, viele Grünpflanzen. Alles ganz normal, denke ich mir. Ich beschließe, mich im Inneren ein wenig genauer umzusehen. Und ich entdecke schnell interessante Dinge. An Türen und Wänden hängen Hinweisschilder mit Aufschriften wie „Achtung Taschendiebe!“ oder „Dealer haben hier Hausverbot“. Hinweise auf eine Realität, die dem Kotti gerade wieder traurige Berühmtheit angedeihen lässt.

Hinweisschild im Café Kotti

Hinweisschild im Café Kotti

Davon abgesehen verstehe ich, dass dieses Café zu einem Ort des Verweilens geworden ist. Rote Polstermöbel, gemütliche Sofas, schwarz-weiß Fotografien an den Wänden und bunte „Kunstwerke“ an der Decke. Die Atmosphäre wirkt familiär und einladend.

Der Betreiber, Herr Yasaroglu, ist vor 35 Jahren als Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Direkt nach Berlin. Besser gesagt, direkt zum Kottbusser Tor. Seitdem lebt und arbeitet er hier. Gemeinsam gehen wir über die Terrasse in den Raucherbereich neben dem großen Gastraum.

Ohne Umschweifen kommt der Café-Besitzer auf den Punkt. Laut den Informationen, die er vom Berliner Senat erhalten hat, wurden im Jahr 2015 ganze 2260 Raubdelikte polizeilich aufgenommen. Diese stünden oft in Verbindung mit Körperverletzungen und anderen Straftaten, welche aber nicht zur Anzeige gebracht wurden, so sagt er. Nicht nur sein Café sei davon betroffen. Vor allen Dingen auch auf den umliegenden Spielplätzen und in dunklen Straßenecken komme es zu Raubüberfällen und sexueller Belästigung. Durch seine Arbeit als Sozialarbeiter kennt er sie beide, Täter und Opfer. Die Täter seien weitgehend resistent und die Opfer meist leider allzu verschüchtert. Bereits 2005 gründete er deshalb in Zusammenarbeit mit anderen Anwohnern die Initiative Mütter ohne Grenzen. Seit Jahren möge keiner seine Kinder alleine auf die Straße lassen. Nachts liefen sie Patrouille, mit Taschenlampen, um die dunklen Ecken einsehen zu können und, wenn nötig, Alarm zu schlagen. Mittlerweile sind die Plätze und Straßen bis in die entlegensten Winkel ausgeleuchtet, die Spielplätze sind eingezäunt und abgeschlossen. „Wie Käfige“ zu denen die Kinder in der Gegend nun keinen Zugang mehr haben, weil die Stadt die Kriminalität eindämmen will.

Außenansicht des Café Kotti

Außenansicht des Café Kotti

Von Politik und Polizei im Stich gelassen

Die Politik habe, so Yasaroglu, absichtlich eine Art rechtsfreien Raum am Kotti geschaffen. „Mit dem Leerräumen des Görlitzer Parks durch Innensenator Henkel hat man bewusst in Kauf genommen, dass sich die Kriminalität in die Straßen, insbesondere am Kottbusser Tor, verlagert.“ Er spricht von überwiegend nordafrikanischen Banden, die sich dort auf kriminelle Art und Weise ihren Lebensunterhalt verdienen. „Sie zerstören die Willkommenskultur und das Wir-Gefühl, das den Kotti in den letzten Jahren ausgemacht hat“, sagt er. Gerade in Kreuzberg gibt es viele Flüchtlinge und Migranten. Diese Menschen haben nun vermehrt mit Vorurteilen zu kämpfen, weil sie automatisch mit den Kriminellen vom Kotti in Verbindung gebracht würden. Die Entwicklung sieht er dramatisch.

Herr Yasaroglu und 54 weitere Gewerbetreibende haben deshalb im Januar 2015 gemeinsam durch mehrere Schreiben an den Berliner Senat appelliert, sich an einen Tisch zu setzen, diese Themen zu besprechen und Lösungen zu finden. Er möchte zurück zu dem gewohnten, friedlichen Miteinander in seinem Zuhause.

Wir gehen raus an einen der kleinen Tische im Außenbereich. Hier hat man einen fabelhaften Blick auf die Umgebung. Er sitzt hier oft und betrachtet die Menschen in der Gegend. Bei einem Kaffee beobachten wir, was eine Etage tiefer auf den Straßen geschieht. Er zeigt auf verschiedene Gruppen junger Männer und erklärt mir, dass sie sich aufteilen. Je nach Herkunft, Religion oder Zugehörigkeitsgefühl stünden sie zusammen. Eines haben sie alle gemeinsam: sie halten Bierflaschen in den Händen. Yasaroglu sagt, diese Flaschen seien leer. Sie trinken keinen Alkohol, es sei nur Fassade, um normal und harmlos zu wirken.  Schnell könne aus einer Flasche eine gefährliche Waffe werden.

Die Berliner Politik sowie die Polizei ließen das Kottbusser Tor im Stich. Die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann schiebe die Verantwortung auf den Innensenator und umgekehrt. So ginge es, seitdem sich die beiden Politiker untereinander nicht mehr einig seien. Dies sei nicht hinnehmbar, also müsse man eben selbst aktiv werden, sagt Herr Yasaroglu und erklärt damit seinen Schritt in die aktive Politik, den er vor rund einem Jahr wagte. In einer solchen Situation jedenfalls reiche es nicht aus, nur als Sozialarbeiter tätig zu sein und er wolle es unter diesen Umständen auch nicht mehr. Er sehe keinen Sinn in sozialer Arbeit, wo ohnehin jeder machen könne, was er wolle.

Kotti à la carte

Ich frage ihn, was die Menschen trotz allem am Kotti hält. Seine Antwort so einfach wie eingängig: „Das Kottbusser Tor ist meine Heimat. Ich liebe Kreuzberg und was man liebt, versucht man zu schützen. Ich verschließe nicht die Augen vor den Schwierigkeiten. Ich werde einfach lauter. Gemeinsam mit meinen Freunden. Die sind ja auch hier. Ich kenne einige von ihnen seit 33 Jahren.“ Darüber hinaus gäbe es am Kotti eben alles, was die Leute wollen. Schon vor vielen Jahren wurde hier eine Art Spaßgesellschaft entwickelt. Die vielen Nationalitäten hätten dafür gesorgt, dass es für jede Lebensart etwas gäbe. Jeder bekomme das Essen, das ihm schmeckt, fände eine Bar mit Musik nach seinem Geschmack, könne hier leben, wie es ihm gefiele. Das sei heute noch so. Es komme dabei auf die Perspektive an. “Schaut man vorne aus dem Fenster, gibt es eben diese Bilder der Kriminalität, schaut man aber hinten raus, sieht man diesen Ort von einer anderen, einer besseren Seite.”

Der Gang zum Kottbusser Tor gleicht einem Restaurantbesuch, bei dem man sein Menü selbst zusammenstellt. Ein Leben à la carte. Yasaroglu möchte, dass „unsere Gesellschaft zu diesem Gemeinschaftsgefühl zurückfindet“, sagt er nachdenklich und etwas still. Dafür werde er weiterhin kämpfen.


Florian Prokop studiert Publizistik und Anthropologie und schreibt ins Internet, seit es das Web 2.0 gibt. Twitter: @FloProkop Snapchat: florianprokop.


Sabrina Schweder ist 32 Jahre und vor 4 Jahren von Kiel nach Berlin gezogen. Hier entschied sie sich für ein spätes Studium, seit 2014 studiert sie an der FU Berlin PuK und Politikwissenschaft. Als Bewohnerin Kreuzbergs, in der Nähe des Kotti, machte sie der anhaltende Medienrummel neugierig, wie sich die Situation dort tatsächlich für Anwohner und Gewerbetreibende darstellt.