Buschkowskys Schatten

Buschkowskys Schatten

Gewalt, Arbeitslosigkeit, sozialer Brennpunkt: Neukölln hat einen ziemlich schlechten Ruf. Wir haben uns in Berlins „Problembezirk“ umgehört und stießen auf zwiespältige Meinungen.

Von Alexandra Brzozowski und Marina-Verena Neumann

Die Karl-Marx-Straße in Neukölln: Inmitten von klaffenden Baustellen und dem wöchentlichen Einkaufstrubel schlendern Menschen jeden Alters und aller Nationalitäten nachmittags die Straße entlang. Hier liegen Ein-Euro-Shops und Handyreparatur neben Kräuterhandlung und Hipster-Second-Handladen. Passanten suchen türkische Lebensmittelmärkte auf, andere steigen hastig die Treppen zum U-Bahnhof hinauf und hinab. Viele sitzen vor den Türen der inzwischen zahlreichen Cafés und Bäckereien und genießen die endlich durchkommende Sommersonne – von Aggression und Spannung keine Spur.

Doch die Medien zeichnen ein anderes Bild: Neukölln, das sei ewiger Problembezirk, der Slum der Armen und Kriminellen. Es gibt Tage an denen im Stundentakt Eilmeldungen über Bandenschlägereien, Raubüberfälle und Körperverletzung die Runde machen. Zwar hätten Wandel und Gentrifizierung den Bezirk zu einem durchaus hippen Image verholfen, doch das alte, brutale Neukölln sei nicht verschwunden. Schöne neue Welt?

Rahja sitzt in einem der Cafés auf der Karl-Marx-Straße. Als wir sie ansprechen, zuckt sie zusammen. Sie hätte uns nicht kommen hören, sagt sie. Als wir sie auf die friedliche Stimmung ansprechen, ist sie überrascht. „Das ist alles nur Fassade“, amüsiert sich die Jura-Studentin über uns. „Die wahren Probleme finden in den Hinterhöfen des Bezirks statt.“ Sie selbst komme aus einer arabischen Großfamilie, sagt sie, daher bekomme sie schon mit, wie es hinter den Kulissen aussehe. Selbst habe sie auch schon einige Razzien mitbekommen. „Es läuft vieles parallel ab hier in Neukölln, die Stimmung ist aggressiv.“ Dass Kriminalität vorhanden sei, liege auch an den vielen Problemen des Bezirks.

Soziale Probleme, sozialer Sprengstoff

„Neukölln ist der Berliner Bezirk mit dem niedrigsten Bildungsstand, der stärksten Abhängigkeit von Sozialleistungen und der größten Armutsgefährdung“, fasst der kürzlich erschienene Sozialbericht des Bezirksamts Neukölln für 2016 zusammen. Die Arbeitslosigkeit liegt demnach bei 13,7 Prozent, zudem sind 26,6 Prozent aller Einwohner Neuköllns ohne Schul- oder Berufsabschluss, jedes zweite Kind ist auf Transferleistungen angewiesen. Ein heikles Thema – gerade zu Wahlkampfzeiten – zu dem Anfragen an Neuköllner Bezirksabgeordnete der SPD und der Linken unbeantwortet blieben.

Der Bericht betont jedoch, die Tendenz sei sinkend. Genug sozialer Sprengstoff scheint aber allemal vorhanden zu sein. „Neukölln hat ein Armuts- und Bildungsproblem. Das sind unsere beiden größten Probleme. Löst man diese, löst man das Kriminalitätsproblem“, so Mathias Zaech, Neuköllner Bezirksverordneter für die Piratenpartei. Er hält die deutschlandweite Wahrnehmung für übertrieben: „Schaut man in die Kriminalitätsstatistik sind es Bezirke wie Mitte die in Sachen Kriminalität vorne liegen.“ So gab es beispielsweise berlinweit die meisten Wohnungseinbrüche in Mitte.

Der Ruf eilt voraus

Das Image des Problembezirkes sei zum größten Teil auf eine teilweise sehr skandalisierende Öffentlichkeitsarbeit von Seiten des ehemaligen Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky zurückzuführen. „Nicht alles, was Sie über Neukölln hören, stimmt,“ sagt Falko Liecke (CDU), stellvertretender Bürgermeister Neuköllns. Nichtsdestotrotz beschreibe aber vieles davon Probleme, die in diesem Bezirk vorhanden wären. Sich bekriegende arabische Familienclans, jugendliche Intensivtäter, Drogenhandel in der Hasenheide und Gewalt an Schulen seien nur ein Teil des Problems. „In Neukölln sind mittlerweile mehrere Generationen von Menschen herangewachsen, die unsere Werte und Grundüberzeugungen nicht teilen,“ so Liecke. Es herrsche ein „Klima der Angst“ – so bringt es eine Studie der Senatsverwaltung für Justiz auf den Punkt. Vor allem in arabischstämmigen Großfamilien und im radikal-muslimischen Milieu existiere eine Parallelgesellschaft mitsamt eigenem Rechtssystem.

Auch Ümit sieht das ähnlich. Er ist bereits seit 26 Jahren Taxi-Fahrer in Neukölln. Der gebürtige Türke hat in seinem Beruf vieles erlebt, von Schlägereien bis hin zu Beerdigungen, die er für seine älteren Fahrgäste organisierte. „In Neukölln ist es so: Du rufst die Polizei, wenn was ist, aber die kommen gar nicht mehr, es sei denn, du sagst es sei eine arabische Prügelei“, sagt Ümit.
Seine Arbeit habe ihm einen guten Überblick verschafft, was im Bezirk vor sich geht, sagt er: „Ich bin seit 1970 hier, da haben sich die Ausländer benommen, sie konnten vielleicht noch kein Deutsch, aber sie benahmen sich, waren freundlich und nett.“ Dies habe sich mit der Zeit verändert. Das Problem im Bezirk Neukölln sieht der 49-Jährige in der Politik: „Die deutsche Politik ist zu tolerant“, sagt er. „Heutzutage erlauben Sie den Leuten zu viel was unter ‚Glauben‘ fällt.“

Probleme summieren sich auf

Martin Gorecki arbeitet beim Quartiersmanagement in der Ganghoferstraße. Auch er sieht die Probleme im Bezirk. Was immer wieder deutlich werde, seien tatsächlich Probleme der Integration, gibt Gorecki zu: „Das wurde in den letzten Jahren nochmal zusätzlich verstärkt durch ganz unterschiedliche Zuzüge – aus Süd-Osteuropa, von bildungsnahen und vernetzten Internationals und in jüngerer Zeit auch Zuzüge von Flüchtlingen.“

Die Erfahrung sei, dass in solchen Gebieten nicht nur ökonomische Probleme erkennbar sind, sondern dass sich dort unterschiedlichen Probleme aufsummierten: „Dort kommt es zu einer Kulmination von unterschiedlichen Problemen, sei es Verwahrlosung, Vandalismus im öffentlichen Raum, seien es die sozialen Einrichtungen, die überlastet sind oder dass es kein richtiges soziales nachbarschaftliches oder vertrauensbasiertes Netzwerk gibt in solchen Kiezen.“ An diesen Stellen werde dann oft von der Senatsverwaltung überlegt ein Quartiersmanagement einzurichten, wie das in dem Gorecki arbeitet. Im ganzen Bezirk gibt es derzeit elf solcher Einrichtungen.

Jugendarbeit sollte ausgebaut werden

Gorecki erzählt uns, dass derzeit ein einen guten Teil von Nord-Neukölln überdeckendes Projekt angeschoben werde – ein Versuch gegen Jugendgewalt und Jugendbanden. „Dabei wollen wir den ‚law&order-Versuchen‘ etwas entgegensetzen.“ Stattdessen, sagte er, sollte zuerst einmal geschaut werden, wer eigentlich die Jugendlichen seien, mit ihnen versuchen in Kontakt zu kommen und mit ihnen sozialpädagogisch zu arbeiten. Das langfristige Ziel sei es mit unterschiedlichen Beteiligten darüber zu sprechen, wo sich in letzter Zeit Probleme sich verortet hätten.

„Es ist lange nicht mehr wie vor 10-15 Jahren, da war es im Norden viel krasser. Neukölln eilt so ein wenig der Ruf voraus,“ bekommen wir zu hören, als wir mit zwei Sozialarbeitern von „Gangway e.V.“, einem der größten Träger von Straßenarbeit in Deutschland über Neukölln sprechen. „Auf der einen Seite steht das alte Neukölln, ‚man kann nicht auf die Straßen gehen‘, auf der anderen Seite kommen Leute, die richtig Kohle haben, viele Studenten.“ Es fände ein Umschwung statt, der Frust verursache. Viele Jugendliche kennen nur ihr altes Neukölln und damit müssten sie erst einmal zurechtkommen. Das schaffe Aggression, meint er. „Unsere Aufgabe ist es nicht, die Jugendlichen von der Straße zu holen, sondern zu sagen ‚Leute, vergesst eure Jugend nicht‘.“

Ballungszentren seien immer die Bezirke, wo viel los ist, viel Reibung, viele Menschen die auf einer Stelle arbeiten. Neukölln sei bekannt dafür, dass da viele Nationalitäten zusammenkommen. Zuziehende gingen natürlich dahin, wo ihre Verwandtschaft wohne. In solchen Ballungsräumen sei die Spannung am größten. „Natürlich gibt es Kriminalität, aber die ist laut Statistik zurückgegangen,“ sagt einer von ihnen. Trotzdem stellt auch er fest, dass sich einiges zum Besseren verändert habe. „Ich denke oft, wenn ich die Straße langgehe, da sitzen Leute mit dem iPad im Café. Das wäre vor 15 Jahren schnell weg gewesen. Die Gegend hat sich schon verändert.“


Alexandra Brzozowski studiert im 4. Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Wenn sie nicht studiert, leitet sie das FU-Campusmagazin FURIOS.


Marina-Verena Neumann ist 21 Jahre alt. Sie studiert Englische Philologie im Hauptfach Publizistik- und Kommunikationswissenschaften im Nebenfach. Als Neuköllnerin liest sie täglich überspitzte Meldungen in den Medien über den Bezirk. Nun will sie das verzerrte Bild untersuchen.


2017-07-06T12:18:02+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , , , |