Nur nicht selbst töten

Nur nicht selbst töten

Samer, ein 24-jähriger junger Mann aus Syrien, hat lange die Gewalt in seiner Heimat ertragen. Als er in der Armee das Töten lernen sollte, floh er nach Berlin. Er gilt nicht als Flüchtling, ist aber aus seinem Land nach Deutschland geflohen, auf ungefährlichem und legalem Wege und mit einem Visum. Er sitzt sehr oft am Tag auf der Couch im Aufenthaltsraum unserer studentischen WG, trinkt alkoholfreies Bier und sucht das Gespräch mit seinen Mitbewohnern.

Von Alevtina Andreeva

Samer macht sich mit seiner neuen Stadt vertraut.

Samer macht sich mit seiner neuen Stadt vertraut.

„Bist du reich?“, frage ich und er antwortet mit seinem sympathischen Lächeln, „Ja. Oder nicht mehr. Ich war reich. Aber mein Eigentum und das meiner Familie ist weg. Unser Haus und unsere Autos wurden bombardiert. Ein Auto mussten wir verkaufen, doch das Geld ist jetzt fast nichts mehr wert. Warum fragst du?“

Wenn Samer arm wäre, wäre er Flüchtling, einer von Tausenden, die aus ihrem Land auf gefährliche Weise übers Meer fliehen und auf dem Weg zum sicher und glücklich geglaubten Leben sterben. Er sitzt nicht einfach so auf der Couch, er genießt den Frieden. Jetzt wohnt er in Berlin. Wäre er in Syrien geblieben, wäre er fürs Militär eingezogen worden. Das wollte er nicht.

„Ich verstehe nicht, warum ich Menschen ohne Grund töten soll. Ich verstehe nicht, aus welchem Grund und gegen wen Krieg geführt wird.“ Sein Telefon klingelt, er geht ran und spricht ganz zärtlich mit jemandem auf Arabisch und verschwindet um die Ecke. Am nächsten Tag habe ich schon auf der Couch auf ihn gewartet.

„Wie geht es dir und deiner Familie, Samer?“

„Es geht mir gut und meiner Familie auch. Sie haben gestern erzählt, dass sie Probleme mit den Nachbarn haben.“

„Sind die Nachbarn zu laut oder was?“

„Oh nein, du kannst nicht verstehen, was ich meine.“ Dann erzählt er „Unbekannte hatten Regierungssoldaten auf der Straße beschossen und flohen danach. Die Soldaten hatten zurück geschossen und versucht, die Verfolgung aufzunehmen. Dabei kamen einige Bürger ums Leben. Mittlerweile sucht das Militär schon seit zwei Wochen nach den Angreifern. Da es sie nicht finden kann, bestraft das Militär nun die ganze Ortschaft mit einer Blockade. Weder Nahrung noch Menschen dürfen in das Dorf oder heraus. Dieser Zustand wird wohl andauern, bis sich die Täter dem Militär zu erkennen geben.

Jedes Mal, wenn ich den jungen Mann ansehe, wirkt er traurig, obwohl er freundlich lächelt. Er kann es kaum erwarten, mir das arabische Alphabet nahe zu bringen. Ich hatte das Gefühl, er möchte mir am liebsten alles zeigen und erklären. Er malte mir die Schriftzeichen auf, führte mir vor, wie man sie ausspricht und zeigte mir, wie sie miteinander verbunden werden, wenn man sie hintereinander schreibt. Die Zeichen verändern sich, je nachdem, mit welchem anderen sie verbunden werden. Seine Stimmung verändert sich von sehr glücklich, wenn er über seine Frau spricht, bis traurig, mit kleinen Tränen im Gesicht, wenn er an Bestrafungen, denkt, die seine Landsleute 2012 ertragen mussten. In dem Jahr waren sehr viele Menschen auf die Straße gegangen, weil es kaum etwas zu Essen gab und sie stark unter Hunger leiden mussten. Während dieser Unruhen wurden viele Menschen verhaftet und bestraft. Dazu zeigte er mir ein sehr grausames Video: alte und von Hunger gezeichnete Männer wurden von Soldaten auf grausamste Weise blutig geprügelt. Ich habe sofort seinen Laptop weggedreht, als ich sah, wir ein kräftiger Soldat den Kopf eines zerbrechlichen Mannes mit voller Kraft gegen eine Betonwand schlug.

Wenn er traurige Gedanken hat, sieht er sofort wieder die Rauchschwaden über bombardierten Bürgerhäusern und hört die Geräusche von Flugzeugen. Er erinnert sich an Angst, die er dabei verspürte, obwohl er wusste, dass die Bomber nicht über ihnen ihre todbringende Fracht abwerfen würden. Wie er erzählt, bleiben Stadtteile, in denen reiche und politisch einflussreiche Menschen leben von den Luftangriffen verschont.

„Ich wollte niemals mein Land verlassen, aber ich musste. Es ist schwierig für mich auszuwandern. Mein Land stirbt, aber ich weiß, ich kann nicht zurückkehren, denn wenn ich es täte, müsste ich der Armee beitreten und ohne jeden Grund unsere Bürger töten. Es ist mein Leben und ich möchte es leben, eine Arbeit haben und eine Familie gründen. Ich stelle mir ein Haus vor, in dem ich leben kann, mit meiner Frau. Nicht weit vom Haus steht ein Stall mit meinen Pferden. Genauso wie damals in Damaskus. Und vielleicht werden wir ein Kind haben oder zwei.“

Wenn er im Internet Bilder seiner Lieblingsstadt anschaut, erkennt er jeden Ort, jede Straße, jedes Haus. Er neigt seinen Kopf, reibt die Augen, atmet schwer ein und aus. Er würde jetzt gerne wieder durch alle Straßen spazieren.


Alevtina Andreeva ist eine russische Journalistin. Erstmals wurde sie auf das Thema Flüchtlinge durch ehemalige Kommilitonen der Hochschule Görlitz aufmerksam. Ihnen war der Platz im Studentenwohnheim gekündigt worden, weil daraus ein Flüchtlingsheim werden sollte.

2017-07-06T12:18:06+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, IJK, JIL '15, Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , |