Wir sind Freunde, nicht Feinde

Wir sind Freunde, nicht Feinde

Wie kann eine gute Nachbarschaft zwischen Migranten und Bürgern in Berlin Mitte funktionieren? Die Initiative „Neue Nachbarschaft // Moabit“ vermittelt zwischen Sprachen und Kulturen.

Von Nina Pukhova

Sie sprechen kein Deutsch und haben kein Geld für einen Sprachkurs. Für manche ist sogar ein Busticket oder eine Monatskarte zu teuer. Sie würden gerne arbeiten, dürfen aber nicht. Sie wohnen abgeschottet in einem Heim in Moabit und bekommen vom Alltagsleben der Deutschen wenig mit. Sie sind Flüchtlinge, aber nicht Hoffnungslose. Und sie haben zumindest einen Ort, an dem sie willkommen geheißen werden und wo sie sich als Teil einer multikulturellen Gesellschaft fühlen können. Hier lernen sie Deutsch, machen Konzerte und kochen zusammen.

„Jeder kann ein Flüchtling sein…“

„Eins, zwei, drei, vier …“, die dreijährige Amira sitzt auf dem Tisch bei einem großen Fenster und zählt die Kuli. Wenn sie nickt, springen ihre kleinen lustigen Locken. „Fünf!“, hilft ihre Mutter Nahid. Amira lächelt und klatscht in ihre winzigen Hände. Mama und Baby warten auf ihren Deutschlehrer, der sich ein bisschen verspätet. Dreimal in der Woche kommen sie in die „Neue Nachbarschaft // Moabit“, um ihr Deutsch zu verbessern. Mama macht die Übungen, ihre Tochter spielt mit den Kindern der anderen Ausländer und wiederholt die einzelnen Wörter.

Die „Neue Nachbarschaft“ ist eine Bar mit alten gebrauchten Sofas und Tischen. Das Interieur erinnert an eine Kunstwerkstatt oder ein Studio: von der Decke hängen kleine gelbe Glühbirnen, Papier, Farbe, Pinsel und Bilder sind überall. Hierher kommen nicht nur Flüchtlinge oder Migranten, sondern auch ausländische Studierende, die kein Geld für spezielle Sprachkurse haben.

„Flüchtling ist keine besondere Art von Mensch, denn jeder kann ein Flüchtling sein. Wir sind eine Nachbarschaftsinitiative. Alle, die hier in Moabit wohnen, sind Nachbarn“, erzählt Marina Napruschkina, 33, die die Initiative koordiniert. Sie hat eine kurze Männerfrisur und ausdrucksvolle blaue Augen. Vor 12 Jahren kam sie aus Belarus nach Deutschland um Kunst zu studieren. Jetzt ist sie verheiratet und hat eine Tochter. Im August 2013 hat Marina mit einer Gruppe diese unabhängige Initiative begründet.

„Auf der Straße, wo ich wohne, habe ich viele Leute, viele Kinder gesehen, die Not hatten. Ich habe gedacht: ‚Was kann ich für sie machen?’. Teilweise kann ich diese Problematik verstehen, was es heißt, sich in ein neues Land zu integrieren. Die Sprache nicht zu können oder irgendwie schlecht zu können. Wenn man keine Verwandten, keine Freunde hier hat. Aber ich kann meine Lebensbedingungen nicht vergleichen mit den traumatisierten Leuten, die wegen des Krieges hierher fliehen, die viele Kinder haben. Es gibt unglaublich schwierige Situationen“, erklärt Marina ihr Teilnahme in der „Neue Nachbarschaft“.

Während die neuen Mitglieder kommen, raucht Marina auf der Straße und beobachtet durch das Fenster wie ihre Tochter malt.

Über Empathie und Profit

Nach 15 Minuten kommen noch zwei Frauen: eine ist schwanger, die andere hat eine kleine Tochter. Sie sprechen miteinander Russisch und ein bisschen Deutsch mit der Mutter von Amira. „Nächste Woche wird warm…“. – „Ja, gut“.

Sie sehen mich an und denken vielleicht, dass ich ein Neuling bin. Aber sie fangen kein Gespräch an. Hier wird Fremden nicht vertraut. Rechts von mir sprechen zwei Jungen Arabisch, gegenüber sitzen eine deutsche Rentnerin und ein Hindu. Amira zeigt ihnen ihre Zeichnung und sagt silbenweise: „Me-lo-ne“.

Um 18.00 Uhr beginnt der Deutschstammtisch. Alle Stühle sind besetzt. Im Raum wird es laut. Hier befinden sich etwa 100 Menschen aus der ganzen Welt. Einige sind russischsprachig, aus den ehemaligen sowjetischen Republiken und dem russischen Kaukasus, Tschetschenien und Dagestan. Ein großer Teil der geflüchteten Menschen kommt aus Syrien, Ägypten, Afghanistan, Irak und den Balkanländern, manche aus Nigeria oder dem Tschad.

Jeder Deutschlehrer hat eine Gruppe mit einem bestimmten Sprachniveau, meistens zwischen A1 und B1. Aber das ist kein „normaler“ Deutschunterricht, den die Sprachhilfe bietet. Das ist ein Nachbarschaftstreffpunkt, wo die Menschen voneinander lernen und einander unterstützen können. „Das ist keine einseitige Hilfe, unsere Freiwilligen profitieren sehr viel von der Initiative. Sie erfahren viel über andere Länder und Kulturen, politische, ethnische oder soziale Konflikte. Sie wissen, was tatsächlich in der Welt passiert“, erzählt Marina über die Helfer.

Das „Neue Nachbarschaft“-Team besteht aus ca. 50 aktiven Mitgliedern und 100 Unterstützern. Die Altersgruppe ist sehr gemischt: der Jüngste ist 19 Jahre alt, die Älteste 83. Sie möchten nicht nur Deutsch beibringen, sondern auch bei Problemen helfen. „Sie verstehen, Deutschland ist sehr bürokratisch und privilegiert ist nur der Mensch, der einen deutschen oder europäischen Pass hat. Andere werden diskriminiert. Ohne die Sprache zu lernen ist es sehr schwierig, sich gut in der Bürokratie zurechtzufinden. Deswegen versuchen unsere Freiwilligen diese Leute zu begleiten, zum Doktor, zum Anwalt oder zum Amt. Das ist die Erfahrung, die andere Deutsche nicht haben, sie kennen das einfach nicht“, erklärt Marina die Motivation der Freiwilligen.

Die Welt muss besser sein

Die Uhr zeigt 20:15. Der Deutschstammtisch endet. Amira fuchtelt mit ihrer winzigen Hand vor Marina. Die meisten „Schüler“ gehen weg, einzelne besprechen etwas mit den Lehrern. Julia B., 25, ist schon fertig. Sie ist Berlinerin, studiert Kinderpädagogik an der Fachhochschule Potsdam und unterrichtet seit Januar immer freitags Deutsch bei „Neue Nachbarschaft // Moabit“. Die Familie ihres Großvaters ist nach dem zweiten Weltkrieg aus Böhmen ins Allgäu zwangsumgesiedelt worden. Besonders der Urgroßvater fühlte sich dort nicht willkommen und konnte sich nur schwer eingewöhnen.

Julia meint, dass die deutsche Migrationspolitik ungenügend ist, weil die Flüchtlinge bei der Ankunft nicht so gut betreut werden und unter schlechten Bedingungen leben. „Mich hat es sehr traurig gemacht, dass viele rassistische Bewegungen in Deutschland passieren. Es gibt viele Initiativen, die den Flüchtlingen helfen. Aber es gibt natürlich auch Pegida-Demonstrationen und sehr viele Leute sind mit Flüchtlingen überkritisch. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Flüchtlinge hier von den Deutschlehrern unterstützt werden, dass sie sich einleben können“, erzählt Julia.

Nele Van den Berghe, 27, hat Slawistik an der Humboldt-Universität studiert und arbeitet als Deutschlehrerin in einer Sprachschule. Dank ihrer ehrenamtlichen Arbeit in „Neue Nachbarschaft“ hat sie diesen Job gefunden. „Warum ich helfe? Gute Frage…“ – antwortet Nele und lächelt. „Die Welt wird besser. Jeder von uns hat ein Talent und muss das verwenden. Ich kann gut helfen mit Deutschunterricht oder mit anderen Sprachen. Andere Personen können gut mit Computern arbeiten oder Texte schreiben, jemand hat Jura studiert und versteht, welche Rechte Flüchtlinge haben. Manche Leute können sehr gut die Kinder betreuen.“

Nele versteht ihre Teilnahme in der Initiative nicht als Arbeit. Für sie ist es eine gute Möglichkeit, Zeit in einer internationalen Gruppe zu verbringen und ihre Sprachkenntnisse anzuwenden. Trotzdem zeigt ihre Tätigkeit schon Erfolge: „Ich kenne eine Familie mit zwei Töchtern, 27 und 15 Jahre, aus Afghanistan, die haben sich hier in einem Jahr super integriert und schnell Deutsch gelernt. Die jüngste Tochter ist jetzt im Gymnasium und hat sehr gute Noten. Die älteste Tochter hat schon studiert, aber möchte gern weiter in Berlin studieren. Das ist nicht so leicht, weil sie kein Asyl hat. Aber diese Leute braucht Deutschland, weil sie super motiviert sind“.


Nina Pukhova ist 22 Jahre alt. Sie hat in Russland Journalistik studiert und nimmt jetzt am Programm „Journalisten International“ teil. Sie findet die Initiativen für Flüchtlinge sehr interessant, weil sich in ihrem Heimatland nicht so viele Leute mit Migranten beschäftigen und ihnen helfen möchten.