Wie virtuelle Realität reale Angst therapiert

Wie virtuelle Realität reale Angst therapiert

Die Games Branche war in den letzten Jahren der größte Markt für Virtual Reality Technik. Vor allem für Gruselspiele zeigte die Technik besonderes Potential, denn die Immersion — das regelrechte Eintauchen in die Spielwelt  — ermöglicht es, den Benutzer in noch nie dagewesenem Maße mit der Angst zu konfrontieren. Doch finden die Potentiale der VR Technik auch abseits der Unterhaltungsindustrie Verwendung. Sie bieten zum Beispiel völlig neue Perspektiven für die psychotherapeutische Angsttherapie.

Von Vincent Abert

Stell dir vor, du bekommst ein Helmdisplay aufgesetzt. Die Bildschirme direkt vor deinen Augen werden hell. Sie sind so groß, dass sie dein gesamtes Blickfeld umschließen. Eine Kücheneinrichtung wird sichtbar. Du bewegst den Kopf und merkst, dass sich auch das Bild vor deinen Augen verändert. Der virtuelle Raum umschließt dich komplett, und wenn du nach unten schaust, siehst du sogar deine Hände, die sich deinen richtigen Händen folgend bewegen. Du hörst ein leichtes Scharren, es kommt aus dem Schubfach vor dir. Durch die 5.1 Stereokopfhörer kannst du Geräusche wie im echten Leben genau orten. Du ziehst am Holzknauf des Schubfachs und vernimmst das vertraute Klimpern von Besteck. Gerade hast du das Fach zur Hälfte geöffnet, da kommt eine große Vogelspinne zum Vorschein. Ruhig sitzt sie da, doch in lauernder Pose. Dann macht sie eine ruckartige Bewegung in deine Richtung.

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So echt sehen die digitalen Achtbeiner mittlerweile aus. Ein Foto aus dem Simulationsprogramm „Phobia Free“.

Und? Würdest du die Hand wegziehen? Tanja Müller auf jeden Fall. Sie leidet unter Spinnenangst oder auch Aragnophobie. Da die Angst sie im Alltag so behindert hat, entschied sie sich für eine psychotherapeutische Behandlung. Heute ist sie in der Uniklinik in Regensburg, um ihrer Angst in der virtuellen Realität zu begegnen.

Als wirksamste Form der Angsttherapie gilt die Konfrontation mit der Angst. Dabei ist allerdings größte Vorsicht geboten. Denn wenn die Konfrontation den Patienten überfordert, kann sich die Angst sogar noch vergrößern. „Es geht bei der psychotherapeutischen Behandlung von Angststörungen unter anderem darum, Schritt für Schritt Strategien zu entwickeln, die Angst zu kontrollieren und eine eventuelle Panik zu vermeiden“, erklärt Julia Diemer, Spezialistin für Verhaltenstherapie und Angststörungen an der Universität Regensburg. Und diese Strategien lassen sich besonders gut in der virtuellen Realität (VR) trainieren. Denn anders als in der echten Leben, können die Bedingungen der Angstsituation genau kontrolliert werden. Im Falle der Behandlung von Spinnenphobie kann beispielsweise genau bestimmt werden, wo und wie viele Spinnen sich in der VR aufhalten. Schritt für Schritt kann die Intensität der Angstsituation gesteigert werden. So werden kontrollierte Erfolge erzielt, was die Motivation und den Spass des Patienten am Therapieprogramm steigert.

Angst in virtuellen Welten

Katja Müller sitzt nun auf einem Stuhl. Sie trägt ein Helmdisplay und bewegt den Kopf hektisch hin und her. Am Anfang der Simulation war nur eine Spinne in großer Entfernung zu erkennen. Nun befindet sich eine direkt vor Katjas Füßen, während sich eine andere unmittelbar vor ihr abseilt. Katja verzieh das Gesicht, wahrt aber die Fassung. „Natürlich ist es etwas anderes, man weiß ja, dass es nicht echt ist. Doch Angst hat man schon irgendwie“, sagt Katja. Und tatsächlich sind die Reaktionen der Patienten in der virtuellen Realität weitestgehend identisch mit denen in der Wirklichkeit.

Eine Studie über Höhenangst in der VR Therapie von der Universität Jena verglich Pulsschlag, Schweißausstoß und Vermeidungsverhalten in realen und virtuellen Räumen und ermittelte  weitgehend identische Werte. Auch die Patienten selbst beschrieben die VR Simulation als eine sehr authentische Erfahrung. Das Angst entsteht, obwohl der Patient weiß, dass er sich lediglich in einer virtuellen Realität befindet, erklärt Frau Diemer folgendermaßen: „Wissen spielt bei Angst eigentlich immer eine untergeordnete Rolle. Jemand mit Spinnenangst weiß genau, dass die Hausspinne an der Wand ihn nicht beißen kann und auch der Patient mit Höhenangst weiß, dass die Brücke, auf der er steht, mit Sicherheit nicht einbricht. Dennoch haben sie Angst. Unser Emotionssystem ist eben evolutionsbedingt sehr primitiv. Sind entsprechende auditive, visuelle oder haptische Reize vorhanden, entsteht beim Patienten Angst.“

Katja hat die Brille nun wieder abgesetzt. Doch wirkt sie immer noch sehr angespannt. Ihr nervöser Blick fixiert etwas direkt vor ihr. Es ist eine faustgroße Lycosedea, eine Wolfspinne. Mit seinen haarigen Fühlern durchmisst das Tier das Innere der durchsichtigen Plastikbox auf der Suche nach einem Ausgang.
Natürlich ist die Exposition in der virtuellen Realität nur ein Teil der Therapie. Am Ende jeder Angsttherapie steht immer die Exposition en vivo, also der Konfrontation in der Realität. Erst hier werden Therapiefortschritte wirklich messbar und für den Patienten greifbar.

Der behandelnde Psychotherapeut Youssef Shiban von der Uniklinik Regensburg ist sehr überrascht, wie schnell Katja Fortschritte macht. Vor der Sitzung hatte Katja sich keine vier Meter an die Spinne herangetraut. Am Ende durfte der Therapeut das Tier sogar aus seinem Plastikgefängnis befreien und auf seine Hand setzen. Jetzt sei es wichtig, am Ball zu bleiben. Es müssen weitere Sitzungen folgen, in denen Katja übt, die Angst zu kontrollieren und die erlernten Techniken auch in Alltagssituationen anzuwenden. Dann gibt es eine gute Chance, dass Katja ihre Angst vor Spinnen gänzlich überwindet.

Das Potential ist groß

Aragnophobie ist nicht die einzige Angst, die mithilfe von VR behandelt werden kann. Programmierern sind in den  frei modellierbaren Welten des Digitalen keine Grenzen gesetzt. Das ist vor allem für Ängste interessant, denen man sich nicht ohne Weiteres in der Realität aussetzen kann, wie etwa der Flugangst. Denn erstens ist ein Flug sehr teuer und wird von den Krankenkassen in der Regel nicht übernommen. Zweitens ist die Entscheidung, in ein Flugzeug zu steigen, unumkehrbar. Ist der Patient einmal in der Luft, kann der Flug nicht mehr abgebrochen werden. Das erfordert ein hohes Maß an Überwindung, weshalb sich viele Patienten nicht auf eine Therapie einlassen wollen. Genau hier kann die VR Therapie die Patienten schrittweise an die reale Exposition heranführen und die Erfolgsaussichten steigern.

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Ein alles durchdringender Blick. Mit dem Programm ICT 2013 wird ein Bewerbungsgespräch simuliert.

Auch für soziale Phobien wie die Angst, nah bei anderen Menschen zu stehen oder vor vielen Menschen zu sprechen, ist die Exposition in der Realität schwer zu organisieren. So gibt es bereits Programme, die ein Bewerbungsgespräch oder sogar eine Vortragssitutation mit hunderten Zuhörern simulieren. Die Reaktionen der computergesteuerten Avatare können dabei vom Therapeuten gesteuert werden. Blutdruck, Puls und Schweißproduktion werden im Verlauf der Sitzung genau gemessen, was eine nachträgliche Auswertungen erleichtert, und ein angepasstes Therapiedesign ermöglicht.

VR Technik wird in der Angsttherapie bereits seit mehreren Jahren erfolgreich eingesetzt. Bei Ängsten wie Höhenangst, Spinnenangst und Flugangst sind die Therapieerfolge sogar bereits durch Langzeit Studien abgesichert. Dennoch findet man VR Technik bisher lediglich im universitären Bereich und in Forschungseinrichtungen. Der Grund: Es ist bisher schlicht noch keine praxistaugliche VR Brille auf dem Markt, die den hohen Standards medizinischer Nutzung entspricht. Technische Schwächen wie leichte Verzögerungen und Ungenauigkeiten des sogenannten Head Tracking, also einer Asynchronität zwischen der Kopfbewegung und der dargestellten Bewegung auf dem Display, führen in einigen Fällen zu Übelkeit und Kopfschmerzen. Ein anderes Problem ist auch die bisher fehlende Möglichkeit, die VR Displays auch für Brillenträger nutzbar zu machen.

Doch betrachtet man die jüngsten Entwicklungen auf dem VR Markt, könnten sich diese technischen Probleme in naher Zukunft lösen. Große multinationale Unternehmen wie Facebook haben die vielfältigen Potentiale der VR Technologie längst erkannt und forschen seit einigen Jahren intensiv an der technischen Entwicklung. Das Unternehmen Oculus Rift, das Ende 2014 für zwei Milliarden Dollar von Facebook aufgekauft wurde, stellte Anfang Juni die erste VR Brille für den Konsumentenmarkt vor. Tests der Brille sind noch nicht verfügbar, dennoch versichern die Entwickler eine praxistaugliche Brille ohne gesundheitliche Nebenwirkungen. Auch Samsung, Sony und HTC forschen seit längerem an einer VR Lösung für den Massenmarkt. Ihre Modelle werden voraussichtlich Ende dieses Jahres vorgestellt. Angesichts dieser Entwicklungen ist es für Frau Diemer nur noch eine Frage der Zeit, bis die Technik auch eine Zulassung für die medizinische Nutzung erhält. Doch geht sie sogar noch weiter: „Wenn die Technik einmal im Mainstream der Gesellschaft angekommen ist, können Angstpatienten sogar von zu Hause aus ihre Angstszenarien trainieren.“ Das ist nicht weit hergeholt. Schon jetzt gibt es verschiedene Firmen, die Programme zur Angstüberwindung für den privaten Gebrauch entwickeln. Es ist also durchaus denkbar, in Zukunft vom Sofa aus seine Angst vor Spinnen, einem Bewerbungsgespräch oder vielleicht sogar vor dem geplanten Heiratsantrag zu überwinden.


Vincent Abert studiert Filmwissenschaft und Publizistik an der FU Berlin.

2017-07-06T12:18:09+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, Lesen|Tags: , , , , |