Akademie der Süchte: Wenn Studenten sich dopen

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Akademie der Süchte: Wenn Studenten sich dopen

Jeder fünfte Student in Deutschland betreibt Hirndoping. Zu diesem alarmierenden Ergebnis gelangen aktuelle Studien. Die Betroffenen versuchen, ihre Versagensängste mit Psychopharmaka und Ähnlichem zu bekämpfen. Ein Problem, das lange Zeit unterschätzt wurde und bisher nicht ausreichend Aufmerksamkeit erhalten hat.

Von H.O.

Alex ist ein Student wie viele andere auch. Er sitzt auf seinem Bett während er die Uhr ticken hört. Und mit jeder Sekunde, die verstreicht, rückt die alles entscheidende Prüfung näher. Trotz des vielen Lernens, hat er das Gefühl, eigentlich gar nichts zu wissen. Wie soll das erst bei der Prüfung aussehen, wenn der rasende Herzschlag schon jetzt die Sinne betäubt? Die Lösung befindet sich scheinbar in einer Kapsel, die auf seinem Nachttisch liegt. Alex hat sie von seinem besten Freund, dem die Pille schon oft geholfen haben soll. Alex sieht keine andere Möglichkeit; das Arzneimittel ist seine letzte Hoffnung. Mit einem großen Schluck Wasser verschwindet es in seinem Mund. Auch wenn es sich bei Alex um eine fiktive Figur handelt, so ist das vorgestellte Schicksal bei weitem kein Einzelfall: Millionen Studenten in Deutschland leiden an Prüfungs- bzw. Versagensangst und zerbrechen unter dem enormen Zeitdruck, der auf ihnen lastet. Laut einer, in der Fachzeitschrift Pharmacotherapy veröffentlichten, Studie hilft jeder fünfte Student mit medizinischen Präparaten nach, um solche ausweglos scheinenden Situationen in den Griff zu kriegen – viel mehr als bisher angenommen. Doch was sind das genau für Mittel? Wie funktionieren sie? Und wie verbreitet sind sie wirklich?

Die bittere Wahrheit

Eine im Januar 2013 in der Fachzeitschrift Pharmacotherapy veröffentlichte Studie des Sportwissenschaftlers Pavel Dietz vom Institut für Sportmedizin der Johannes Gutenberg Universität in Mainz, kam zu dem Ergebnis, dass die Verbreitung von Hirndoping-Mitteln um ein Vielfaches höher sein muss, als bisher angenommen. Konkret wird in der Publikation von einem Anteil von circa 20 Prozent an der Gesamtheit von Studierenden gesprochen, die in den letzten 12 Monaten zu besagten Mitteln gegriffen haben. Hierbei unterscheidet sich die Verbreitung geringfügig nach Geschlechtern: Während sich knapp ein Viertel (23,7 Prozent) der Männer zum Gebrauch von Neuro-Enhancern bekennen, sind es bei den Frauen nur etwa ein Fünftel. Bisherige Umfragen, wie beispielsweise die 2012 im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführte HISBUS-Befragung zur Verbreitung (und zu Mustern) von Hirndoping und Medikamentenmissbrauch, kamen zu weitaus niedrigeren Zahlen. Die HISBUS-Umfrage kommt zum Beispiel bei ihren Ergebnissen auf eine Verbreitung von Hirndoping bei ca. 5 Prozent aller Studierenden. Wegen der stark voneinander abweichenden Methodik unterscheiden sich die einzelnen Studien jedoch erheblich voneinander. Die Studie des Sportwissenschaftlers Pavel Dietz, schafft es dagegen durch ihre Art der Befragung zu deutlich repräsentativeren Ergebnissen zu gelangen.

Studieren macht krank(?)

Ein weiterer Beleg für das gesteigerte Bedürfnis nach Psychopharmaka unter Studenten, vor allem im Vergleich zu nicht-Studierenden im selben Alter, sind Zahlen der Techniker Krankenkasse aus dem Jahre 2012 , welche einen unverhältnismäßig hohen Anstieg von Medikamentenverschreibungen bei Studierenden von 2006 zu 2010 aufzeigen. So bekamen Studierende im Jahr 2006 durchschnittlich noch ca. 55 Prozent weniger Tagesdosen Psychopharmaka pro Jahr verschrieben, als im Jahr 2010. Ein alarmierender Aufwärtstrend im Hinblick auf den psychologischen Gesundheitszustand – vor allem im Vergleich zu Erwerbstätigen im selben Alter, bei denen dieser Anstieg mit 39 Prozent deutlich geringer ausfiel, und sich auch insgesamt auf einem merklich niedrigeren Niveau befindet.
Zwar bekamen im Jahr 2010 Studierende insgesamt weniger Medikamente verschrieben als gleichaltrige Erwerbstätige (65,4 Tagesdosen in einem Jahr verglichen mit 71,8 Tagesdosen pro Jahr). Unberücksichtigt ist dabei jedoch der Anteil von Psychopharmakaverschreibungen, der sich bei Studenten wesentlich drastischer niederschlägt (13,5 Tagesdosen/Jahr verglichen mit 9,9 Tagesdosen/Jahr) und so vor allem für eine erhöhte psychologische Belastung bei den zukünftigen Akademikern spricht. Zudem geht aus den Zahlen der Techniker-Krankenkasse auch hervor, dass unter den Versicherten, Studierende deutlich öfter mit psychischen Erkrankungen diagnostiziert werden, als Erwerbstätige im selben Alter. Die Beschwerden reichen dabei von Nervosität, Erschöpfung und Kopfschmerzen über Schlafstörungen bis hin zu einem erhöhten Maß an Stress, weshalb insbesondere Studenten so oft das Bedürfnis verspüren sich mit Medikamenten zu helfen, und sich diese dabei nicht immer über den legalen, ärztlichen Weg beschaffen, sondern immer öfter auch auf eigene Faust.

Neuro Enhancer – Hirndoping für das Volk?

In der Fachsprache wird die Steigerung bzw. Optimierung der geistigen Leistungsfähigkeit (Erinnerung, Aufmerksamkeit, Wachheit, Dauerleistung, Gedächtnis, Kognitive Kapazität) gesunder Menschen durch Psychopharmaka als „Neuro Enhancement“ bezeichnet. Hierbei wird zwischen pharmakologischem Enhancing, worunter Experten verschreibungspflichtige Medikamente, Psychostimulanzien und Aufputschmittel fassen, sowie Soft-Enhancing, das Mittel wie Vitaminpräparate, homöopathische und pflanzliche Substanzen, Koffein umfasst, unterschieden. Bei Studierenden sind im Bereich des pharmakologischen Hirndopings vor allem Ritalin, Amphetamin, Modafinil, Cannabis, sowie diverse Arten von Antidepressiva sowie Beruhigungs- und Schlafmitteln, besonders beliebt, welche über illegale Medikamentenapotheken und -händler, meist online, beschafft werden.

Mit Pillen zum Erfolg?

Auch wenn viele Studenten vom Erfolg des Hirn Dopings überzeugt sind: Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich nichts Handfestes über die genaue Wirkung der Mittel sagen, da objektive Daten zur Leistungssteigerung durch Medikamente noch nicht vorliegen und auch Studien teilweise widersprüchliche Ergebnisse liefern. Konkrete Aussagen zur Wirksamkeit des Hirndopings müssen auf dieser Grundlage also vorerst unzureichend bleiben. Der einzige bisher untersuchte Effekt besteht in der kurzzeitigen Steigerung der Aufmerksamkeit in bestimmten Fällen. Dies geschieht durch das Anregen von Botenstoffen in den Synapsen des Gehirns, was den Körper in einen erhöhten Aktivitätszustand versetzt.

Doch auch wenn über die Langzeitfolgen noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen – zumindest die unmittelbaren Nebenwirkungen lassen sich kaum übersehen. Bei dem Medikament Ritalin beispielsweise, das eigentlich für ADHS-Patienten gedacht ist, klagen „gesunde“ Nutzer über Schlaflosigkeit, Nervosität und Kopfschmerzen. Und auch bei anderen Mitteln, ist dies meist nicht anders. Zudem werden auch Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst unterdrückt. Dass dies auf lange Sicht nicht gesund sein kann, sollte klar sein. Bei dem Gebrauch von Hirndoping ist darüber hinaus ein sogenannter Rebound-Effekt zu beobachten – eine Art Entzugserscheinung, bei der das Gehirn beim Absetzen des Medikaments nicht sofort wieder in den Normalzustand zurückkehrt. Menschen, die vorher von einem positiven Effekt der Medikamente berichten, beklagen einen starken Abfall der Aufmerksamkeit während dieser Zeit. Abhängigkeitsgefahr besteht dabei insofern, als dass eine erhöhte Leistungsfähigkeit -falls es denn tatsächlich dazu kommt- möglicherweise zum neuen Standard wird und somit immer öfter notwendig wird. Ein Grund, weshalb die Verbreitung dieser Mittel lange Zeit unterschätzt wurde, ist, dass der Hirn-Doping-Markt wegen des großen Produktangebots äußerst unübersichtlich war und auch heute noch ist.

Vorallem bei Betrachtung der Nebenwirkungen, sollte auffallen, dass Hirndoping nichts ist, womit man leichtfertig umgehen sollte. Und präventive und kurative Maßnahmen sind notwendiger denn je zuvor, denn eine sinkende Tendenz ist nicht abzusehen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die Beschaffungsmöglichkeiten werden immer leichter; Stress und Versagensängste der Studierenden so groß wie nie. Doch die Verbreitung von leistungssteigernden, verschreibungspflichtigen Medikamenten bei Studierenden wird immer noch stark unterschätzt. Die existierenden Probleme sollten akzeptiert und Maßnahmen dagegen schnellstmöglich eingeleitet werden. Diese bittere Pille muss geschluckt werden.


 

2018-12-11T12:39:54+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, Lesen, Wissen + Wirken|Tags: , , , , , , |