Die Ich-verlorenen Seelen: Wenn die Identitätskrise online geht

Die Ich-verlorenen Seelen: Wenn die Identitätskrise online geht

Sie bewegen sich zwischen Selbstoptimierung und Selbstkasteiung. Alles scheint möglich für die Generation der 25- bis 35-jährigen. Und doch plagt sie die tiefsitzende Angst bei all den Möglichkeiten, ausgerechnet die Falsche zu wählen. Was ist nur los mit denen?

Von Judith Poznan

Zwei Frauen sitzen sich in einem bilderlosen Raum gegenüber. Die eine ist Therapeutin, die andere Patientin. „Versuchen Sie sich an das letzte Ereignis zu erinnern, dass Ihnen Identität gestiftet hat“, so lautet die Aufforderung an die junge Frau, die ein wenig verloren wirkt in ihrem polsterlosen Stuhl. Eine Antwort weiß sie nicht. „Gestiftet?“, murmelt sie leise vor sich hin. Die junge Frau ist 29 Jahre alt und hört auf den Namen Kate Harff. Sie hat sich in der Silvesternacht selbst in eine psychiatrische Klinik einliefern lassen. Ihr Vorsatz: Überleben.

Bei Kate Harff handelt es sich um die Schöpfung der Regisseurin Janna Nandzik. Schnell stieg Kate Harff zum digitalen Vorbild auf und die crossmediale Serie About:Kate avancierte zum Psychogramm der auf die 30 zugehenden. Mit einer App konnte der Zuschauer am Geschehen direkt teilnehmen. Und natürlich: „Daumen hoch“ für Kate Harff auf Facebook. Das ist das Fernsehen von Morgen mit den Ich-verlorenen Seelen von heute. Identitätskrise 2.0 und im Hintergrund läuft von den Talking Heads „Once in a lifetime“, die Titelmusik der Serie. Die Hymne aller Orientierungslosen und Entfremdeten, von hier bis ans andere Ende der Welt, per Mausklick in gerade mal einer Sekunde, wenn man das möchte.

Dass das Fernsehen mit Mitteln der künstlerischen Inszenierung arbeitet, ist selbstverständlich, sollte jedoch keinesfalls von den Inhalten und ihrer Botschaft ablenken. So erzählt auch Nandziks in einem Interview für die Vice: „Die Zuschauer, die sich noch daran stoßen, dass alles wahnsinnig unrealistisch ist, bewegen sich im richtigen Spannungsfeld. Denn darum geht es: Wo beginnt der Wahnsinn? Was ist (noch) echt und authentisch? Was bedeuten Realität und Identität? Das sind die Fragen von About: Kate.“ Fragen, die eine ganze Generation betreffen sollte.

Generation – Was eigentlich?

In den letzten Jahren wurde viel geschrieben über die Generation Luxusprobleme, Generation Maybe, Generation Facebook, Twitter, XY oder Praktikum. „Rätselhafte Mittzwanziger“, nannte es der Spiegel in einem Artikel aus dem letzten Jahr. Meredith Haaf und Nina Pauer schafften es sogar zeitgleich mit ihren beiden Generationsbüchern Heult doch und Wir haben keine Angst auf die deutsche Bestsellerliste. Ihren Thesen nach zu urteilen fehlt es den 25- bis 35-jährigen an Mut. „Unser Leben ist jedenfalls zu stark von materialistischen und leistungsorientierten Werten geprägt.“, stellt Meredith Haaf in ihrem Buch fest und auch Nina Pauer meint erkannt zu haben, dass man eigentlich alles hat und trotzdem immer weiter sucht. Sollte ich ins Ausland gehen oder doch lieber ein Praktikum absolvieren? Bin ich gut genug oder sollte ich eine Stunde früher aufstehen? Treffe ich gerade die richtige Person oder lege ich mich am besten noch nicht fest? Morgen Yoga oder Thai-Chi? SoundCloud oder Spotify? Häagen Dazs oder Ben & Jerrys?

„Die Vielfalt von Optionen ist für manche natürlich genauso ein Problem wie der Mangel an Optionen“, meint der Diplom-Psychologe Hans-Werner Rückert von der Freien Universität Berlin. Dass man zu einem Opfer dieser Wahlmöglichkeiten werden kann, weiß der Leiter der Psychologischen Beratung genau. Zu viele Optionen vergrößern die Angst vor dem Scheitern. Rund 800 Studenten suchten allein im letzten Jahr die Sprechstunden bei ihm und seinen Kollegen auf, um für Leistungsdruck, Ängste und Depressionen eine Handlungsorientierung zu bekommen. Etwa 58 % sind vorübergehend durch psychische Belastungen stark beeinträchtigt.

„Psychischer Druck kann auch zu einer körperlichen Belastung werden“, meint Rückert und so sind Schlafstörungen, Bluthochdruck und Schweißausbrüche mitunter typische Begleiterscheinungen. Oft ist der Schritt zu einer Psychotherapie nicht mehr weit. Auch scheint in manchen Fällen der Einsatz von Psychopharmaka die einzige Lösung. Bei der Vergabe von Medikamenten hängt es laut Rückert vom Schweregrad der Depression ab. Generell könne man aber davon ausgehen, dass manchmal die Kombination von Medikamenten und Psychotherapie am effektivsten ist. Der Psychoanalytiker weiß, dass die Suche nach der eigenen Identität, das „Mit-sich-selbst-im-Reinen-sein“ für viele ein aussichtsloses Unterfangen ist.

Die Frage nach dem „Ich“

Kate Harff, gespielt von Natalia Belitski blickt derweil in den Spiegel und reibt sich den Glitzer und die Schminke von letzter Nacht aus dem Gesicht. Sie geht dabei so rabiat vor, dass man meinen könnte, es handle sich um Schmutz. Schnell will sie sich befreien, hält schließlich ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel und der Zuschauer begreift unweigerlich, dass hier eine junge Frau ist, die sich selbst nicht mehr zu erkennen scheint.

Dass der unmittelbare Anblick des eigenen Ich in einem Spiegel die unmittelbare Außenperspektive verdeutlicht, geht auf den Psychoanalytiker Jacques Lacan zurück. „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, so der Titel seiner Theorie, erklärt die Entwicklungsphase des Kindes, welches zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat durch „Das-Sich-Selbst-Erkennen“ im Spiegel ein Bewusstsein für die eigene Person entwickelt. Das Kleinkind empfindet sich somit zum ersten Mal als Lebewesen. Die damit einhergehende soziale Rolle des Ich wurde von dem Soziologen George H. Mead aufgegriffen. Identität entwickelt sich und „ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitprozesses (…).“ Das heißt also, Identität ist das Ergebnis eines Verlaufs und steht unmittelbar in Zusammenhang mit den affektiven Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Nach Mead entwickeln wir automatisch neben der Beschaffenheit des Ich das Bewusstsein für ein „gesellschaftliches Ich“. Der Mensch lernt sich von außen, also aus der Sicht einer anderen Person zu betrachten und nimmt deren Erwartung an die eigene Person wahr. Im Prinzip ist das ein ständiger Kampf des Subjekts mit den von außen zugeschriebenen Rollen und Gravierungen.

Rückert weiß, dass der Leistungsdruck sich geschichtlich durch jede Generation gleich schwer hindurch zieht. Eine völlig neue Komponente hingegen in Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Umfeld bildet das digitale Mediennetz. Durch Smartphones sei das Abschalten für viele schwieriger geworden. Mehr als jeder zweite Student in Deutschland steht einer Umfrage zufolge regelmäßig unter Stress. Ein Viertel fühlt sich sogar unter Dauerdruck, wie aus einem Report der Techniker Krankenkasse (TK) hervorgeht.

Die Medienwelt mit ihrer digitalen Revolution hat die Erschöpfung des eigenen Selbst zur Folge und kann kaum noch geleugnet werden. Einer ZDF-Studie nach gingen in Deutschland rund 77,2 % der Bevölkerung im Jahr 2013 online. Mit 97,5 % sind die 25- bis 35-jährigen die aktivsten Netzbewohner. Auch die Nutzungsdauer ist im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen.

Realitäten, die sich verschoben haben, der gesellschaftliche Druck, der mit jedem Klick von Neuem steigt und einer Selbstdarstellung, die immer mehr Suchtpotenzial in sich trägt, scheinen die Symptome einer ganzer Generation zu sein. Viele sind von einer kollektiven Identitätskrise beherrscht, dessen Gründe sich in der globalen Vernetzung finden lassen.

Auch Nandziks zeigt in ihrer Serie, wie sehr man sich über ein soziales Netzwerk definiert. „Man kann hier ständig Bestätigung finden und sich wunderbar selbst darstellen. Fotos von sich hochladen und anschließend dabei zusehen, wie viele Menschen einen ‚toll finden‘. Das macht einfach süchtig.“ Unsere Gesellschaft ist radikal kommunikativer geworden und Fernsehformate wie About:Kate machen das Begreifen eigener psychischer Leiden und unseren Umgang mit dem Medium Internet noch deutlicher. An wem sich eigentlich noch orientieren, wenn auf Plattformen wie Youtube jeder zu seinem eigenen Held werden kann, wenn dem virtuellen Ich-Kult kaum noch Grenzen gesetzt sind? Selbstoptimierung statt zielgerichtetes Handeln. Kate Harff ist der medialen Anschwellung und dem Mangel an Orientierung erlegen. In der Sendung sieht sie sich ihr Facebook-Profil an, klickt sich durch alte Fotos und Kommentare. Dass sie dieser Mensch nicht mehr sein kann, steht für sie fest. Wie aber soll sie einer Welt entkommen, die sie und ihre Generation geschaffen haben?


Judith Poznan ist gelernte Buchhändlerin und studiert seit 2012 an der Freien Universität Berlin Literaturwissenschaften und Publizistik. Nebenbei schreibt sie für das Onlinemagazin imgegenteil.de und hat dort das Format „Bock auf Lesen“ ins Leben gerufen.

2017-07-06T12:18:09+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, Lesen|Tags: , , , , , |